Cover

Prolog

Sein Vater hatte ihm oft gesagt, er solle nicht durch den Wald nach Hause laufen. Dabei kannte Wilhelm den Weg wie seine Westentasche. Die Sonne war noch nicht vollkommen untergegangen, und selbst in der Nacht spendete der Mond genügend Licht, um den korrekten Weg zurück in sein Heimatdorf zu finden.

Er folgte zuerst einem großen Pfad, musste dann jedoch auf einen kleinen beschaulichen abbiegen, um eine Abkürzung zu nehmen. Die Vögel zwitscherten unablässig und von Zeit zu Zeit knackte das morsche Unterholz verdächtig. Sein Blick war unverwandt geradeaus gerichtet. Das Knacken rührte von Waldtieren her, da war er sich sicher.

Wilhelm war froh, dass sein Vater nach den vielen Jahren in zwei Städten endlich aufs Dorf versetzt wurde. Die Landeskirche sah vor, dass ihre Pfarrer etwa alle zehn Jahre die Stelle wechselten und sich um eine andere Gemeinde kümmerten.

Das sorgte für Abwechslung, führte aber notgedrungen dazu, dass Wilhelm bereits zweimal die Schule hatte wechseln müssen. Seit zwei Jahren waren sie nun schon hier und er hatte endlich Anschluss gefunden. Als Pfarrerssohn hatte man es nicht einfach.

Zum einen drangen seine Eltern darauf, er solle doch auch Theologie studieren wie sein Vater. Er hatte keine Geschwister, obwohl seine Eltern gern mehr Kinder gehabt hätten. Doch seine Mutter war vor über zehn Jahren an Krebs erkrankt. Zwar hatte sie es überlebt, doch die Chemotherapie hatte ihre Spuren hinterlassen. Sie war zu ihrem Leidwesen unfruchtbar geworden.

Zum anderen gingen seine Mitschüler davon aus, dass Christen langweilig waren. Der Sohn eines Pfarrers musste ohne Zweifel ein Spaßverderber sein. Es stimmte, dass er keinen Alkohol trank. Das hatte aber rein gar nichts mit seinem Glauben zu tun. Doch allein dieser Fakt machte ihn zum Partymuffel und so wurde er nicht einmal eingeladen.

Dafür war er Klassensprecher und seine Mutter Elternsprecherin. Vertrauen tat man ihm offenbar schon. Erst seit den Freizeiten, die sein Vater organisierte, hatte er nette Jungen und Mädchen kennengelernt, die unter anderem auch an seine Schule gingen.

Bei einem dieser Freunde war er den Nachmittag über gewesen und hatte auf seiner Playstation FIFA gespielt. Und obwohl er bereits volljährig war und auch länger wegbleiben durfte, wollte er noch vor Sonnenuntergang daheim sein.

Durch das Stimmengewirr der Vögel konnte er wieder das Knacken vernehmen. Dieses Mal schien es lauter und viel näher, womöglich ein großes Tier, kein Marder oder Fuchs. Er drehte sich um, doch konnte nichts sehen. Unbeirrt lief er weiter.

Morgen schrieb er die letzte Klausur in Biologie und es war notwendig, dass er darin eine Eins schrieb, um seinen Schnitt zu halten. Immerhin hatte er seinem Vater versprochen, studieren zu gehen. Medizin, nicht Theologie. Er hatte das Gefühl, dass seine Eltern dennoch stolz auf ihn waren, auch wenn sie immer wieder Anspielungen fallen ließen in diese Richtung.

Die Hälfte des Weges hatte Wilhelm bereits hinter sich. Bald sollte er auf den Feldweg treffen, der ihn unmittelbar ins Dorf führte. Gleich gegenüber dem Feld lag die Kirche des Ortes, unmittelbar daneben das Pfarrhaus – sein Zuhause.

Er sah sich die Blätter der Bäume an, die sich bereits in Gelb- und Rottönen färbten. In zwei Wochen war Reformationstag. Er war für die Feierlichkeiten eingespannt worden, die in der Kirche stattfinden sollten. Seine Freunde hingegen wollten ihre Zeit damit verbringen Halloween zu feiern.

Es war ein heidnisches Fest der Toten, das erklärte sein Vater Jahr für Jahr im entsprechenden Gottesdienst. Aber die Traditionen, die von Amerika aus hinüber nach Europa gelangt waren, wurden von ihm dennoch akzeptiert.

Auch Wilhelm hatte bereits darüber nachgedacht, zu einer dieser Feiern zu gehen. Er hatte gehört, dass sogar ein Zirkus in der Gegend sein sollte um diese Zeit. Vielleicht würde er mit seinen Eltern dorthin gehen. Clowns waren lustig.

Wieder vernahm er ein lauteres Knacken rechts von ihm. Dieses Mal fühlte er sich beobachtet. Er drehte sich um, konnte aber weder jemanden auf dem Weg sehen noch unmittelbar daneben. Kopfschüttelnd ging er weiter, jedoch mit schnellerem Schritt.

Es kam ihm so vor, als würde die Sonne schneller untergehen. Die letzten Lichtstrahlen brachen durch das Astwerk. Als er sich erneut umwandte, konnte er etwas hinter den Bäumen erkennen.

Etwas Rotes. Ein Jäger würde niemals Rot tragen. Die Pilzsammler hatten auch meist unauffällige Kleidung an, um die Tiere nicht aufzuschrecken. Etwa ein Rotwild?

Kurz blieb er stehen und starrte in die Richtung. Da trat die Gestalt auf den Weg. Wilhelm blinzelte mehrmals, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht irrte. Vor ihm stand ein Clown.

Ein Clown in rot-weißem Kostüm. Auf seinem Kopf trug er eine Narrenkappe, deren Bommeln klimperten, als er einen Schritt auf ihn zuging. Wilhelm wich zurück. Dann fiel sein Blick auf die weißen Handschuhe, in denen er locker einen Baseballschläger hielt.

Er war sich nicht sicher, wovor er mehr Angst haben sollte. Vor einer Person im Clownskostüm mitten im Wald oder dem Fakt, dass sie bewaffnet war. Eine Gänsehaut lief Wilhelm über die Haut.

Aus einem Impuls heraus rannte er los, schnurstracks in Richtung Feld. Sein Herzschlag passte sich seinem Adrenalinstoß an. Mit Blick über die Schulter konnte er erkennen, dass die Person aufholte. Er legte einen Zahn zu.

Als er über einen Baumstumpf stolperte, verlor er das Gleichgewicht und landete unsanft auf dem Rücken. Schnell rappelte er sich auf und sah den Weg hinab. Niemand war mehr zu sehen. Doch er hatte sich den Clown nicht eingebildet.

Panisch rannte er weiter in Richtung Feld, sah dabei über beide Schultern zurück auf den Weg und in den Wald hinein. Doch durch seine Geschwindigkeit konnte er zwischen den vorbeirasenden Baumstämmen nichts erkennen.

Wenige Minuten später erkannte er die Lichtung, die den Feldweg ankündigte. Er konnte bereits die Kirchturmspitze erkennen. Ein dankbares Lächeln breite sich auf seinem Gesicht aus. Er war beinahe in Sicherheit. Nur noch wenige Meter.

Erschöpft blieb er am Ende des Weges stehen und stützte seine Hände auf den Knien ab. Er musste zu Atem kommen. Als er ein trockenes Knacken hinter sich hörte, richtete er sich auf.

Der Schlag traf ihn an der Schläfe. Er sah rot, dann verschwamm seine Sicht.

 

Kapitel 1

Die bunten Baumwipfel flogen an ihr vorüber. Bis zum Horizont erstreckte sich die Straße durch den Mischwald. Die Monotonie machte Vanessa schläfrig, obwohl es bereits neun Uhr war. Auch wenn die Sonne schien, kam nur wenig Licht bis in ihren Wagen.

Aus dem Radio tönte die überdrehte Stimme des Moderators, gefolgt von einem Popsong, den nicht einmal ihr eigener Sohn freiwillig hören wollen würde. Am liebsten hätte sie eine CD eingelegt; irgendeine Band, die sie aufputschte; Linkin Park zum Beispiel. Aber der Dienstwagen hatte weder ein CD-Laufwerk noch einen Anschluss für ihr Handy.

Das gelbe Schild am Straßenrand zeigte, dass es noch zwei Kilometer bis zur nächsten Ortschaft waren. Vanessa drosselte das Tempo, damit sie die Einfahrt nicht verpasste. Sie musste zuerst in einen Ort mit gerade einmal 100 Einwohnern. Dieser war über einen Schleichweg durch den Wald erreichbar, damit sparte sie viel Zeit und Benzin.

Der Wagen begann rhythmisch auf und ab zu springen, als er die asphaltierte Straße verließ. Nur wenige hundert Meter später kam sie am Ende des Ortes an und bog auf das nicht viel angenehmere Kopfsteinpflaster des noch immer schlafenden Dorfes.

Umso mehr erschreckte sie die Gestalt nur zwei Meter neben ihr auf der Beifahrerseite. Mit Wucht riss sie das Lenkrad herum und stieg auf die Bremse. Der Wagen schlidderte über das gefallene Laub, das der Nebel in modrigen Sud verwandelt hatte.

Erst Meter weiter blieb der Wagen mit einem heftigen Ruck stehen. Sie konnte die Postpakete im Laderaum förmlich fliegen hören. All die tetriskundigen Handgriffe waren umsonst gewesen. Ihr Herz wummerte ihr bis zum Hals und sie war sich nicht sicher, ob es vom Adrenalinstoß oder ihrer Wut herrührte.

Nachdem der erste Schock überwunden war, öffnete sie die Fahrertür und ging eiligen Schrittes um den Wagen herum. Die Gestalt stand regungslos am Waldrand, womöglich selbst unter Schock. Mit kundigem Blick kontrollierte sie, ob von der Person irgendeine Gefahr ausging. Bis auf eine eigenartige Kostümierung war nichts festzustellen.

Sie starrte auf die weiße Maske mit der roten Nase. Rasch griff sie der Person, die ihr gerademal bis zur Brust ging, an die Schulter und riss ihr mit der anderen Hand die rote zottelige Perücke vom Kopf. Mit ihr löste sich auch die Maske und Vanessa erkannte, wer sich dahinter verbarg.

Der elfjährige Junge sah sie aus seinen braunen Augen an wie ein Rehkitz, das in den nahenden Autoscheinwerfer sah.

»Was zum Teufel machst du hier?«

»Ich … ich … hab’ … ähm«, sagte er.

»Was hast du? Musst du nicht in die Schule?«

»Ich … ich hab’ die … die erste Stunde frei.«

»Und da dachtest du, du ziehst ein Kostüm an und rennst auf der Straße rum? Ich hätte dich fast überfahren!«

Vanessa schrie und war selbst darüber verwundert, dass sie so aus der Haut fuhr. Es musste am Adrenalin liegen. Sonst war sie nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Wahrscheinlich lag es nicht an dem Fakt, dass dieser Junge auf die Straße gerannt war, sondern an der Verkleidung in ihrer Hand.

Der Junge ließ den Kopf hängen und versuchte sich aus ihrem Griff zu befreien. Vanessa ließ ihn los, zog aber die Maske zurück, als er danach griff.

»Pass jetzt genau auf, Tom! Das hier ist kein Scherz. Du weißt das. Das hier ist purer Ernst.«

»Sagen Sie nichts meinen Eltern«, sagte er panisch.

»Das sollte deine geringste Sorge sein.« Sie schüttelte den Kopf und versuchte, ihrer Stimme Herr zu werden. »Du kannst froh sein, dass ich gebremst habe. Und dass ich keiner bin, der kleine Jungs für ihre makabren Scherze verprügelt. Andere Leute würden das tun, wenn sie glauben, du könntest ihnen etwas tun.«

Tom schluckte einmal trocken, dann sah er wieder zu Boden.

»Ich wollte niemandem etwas tun.«

»Das glaube ich dir.« Vanessa legte ihm mütterlich eine Hand auf die Schulter. »Geh zur Schule und ich verrate niemandem, was du getan hast! Einverstanden?«

»Und meine Maske?«

»Die behalt ich. Und du versprichst mir, dass du solch ein Kostüm nie wieder anziehst!«

Vanessa betonte die letzten Worte ihres Satzes. Er nickte widerwillig und rannte dann in Richtung Haltestelle. Sie konnte leicht kontrollieren, ob er auch wirklich den Bus nahm. Wenn sie bei Hausnummer 8 der einzigen Straße im Ort angelangt war, fuhr er für gewöhnlich ab.

Vanessa stieg in den gelben Lieferwagen mit den roten und schwarzen Buchstaben und atmete einmal tief durch. Dann gab sie Gas und hielt nur wenige Meter später vor dem ersten Haus. Ein Blick in das Innere des Wagens offenbarte ihre Vorahnung: Alle Pakete waren durcheinander geraten.

Es war ihre eigene Schuld, immerhin hatte sie aus praktischen Gründen entschieden sie zu stapeln. Das war für gewöhnlich untersagt, aber wer hielt sich schon an alle Vorschriften? Sie hatte keine Zeit neu zu sortieren, das Stapeln dauerte allein über eine halbe Stunde.

Einige Minuten später überquerte sie die Straße mit einem Paket für Frau Wagner, die bereits die Tür öffnete. Ohne Begrüßung begann die Frau in der geblümten Schürze zu plaudern.

»Haben Sie schon etwas von dem Jungen gehört?«

»Was? Welcher Junge?«, fragte Vanessa vorsichtig.

Hatte sich Tom etwa erwischen lassen? Konnte die Information so schnell bis zu Frau Wagner gelangt sein? Als Postbotin bekam Vanessa schnell jedes beliebige Gerücht innerhalb von 24 Stunden zu Gehör, aber nur wenige Minuten waren zu schnell.

»Ich mache mir solche Sorgen. Eine Leiche zu finden, das muss so schrecklich sein. Ich habe gehört, er geht nicht mehr zur Schule.«

Sie redete von Benjamin Lindner.

»Das stimmt nicht ganz. Er ist seit dieser Woche wieder in der Schule.«

»Und da sind sie sich sicher?«

»Ja. Mein Sohn hat es mir bestätigt.«

Frau Wagner schüttelte betrübt den Kopf, während Vanessa den Strichcode scannte und das Display vor sich hielt.

»Oh, da brauche ich meine Lesebrille«, sagte die Kundin mit den grauen Haaren und verschwand für einige Sekunden in der angrenzenden Küche.

Die Postbotin seufzte und las sich den Segensspruch am Türrahmen durch, bis die Frau zurückkehrte. »Ein fröhlich Herz und friedlich Haus, machen das Glück des Lebens aus.« Sie lächelte, als Frau Wagner umständlich die Brille aufsetzte und mit zittrigen Händen den Stift in die Hand nahm.

»Weiß man schon, wer den jungen Meichsner getötet hat?«

»Nein. Leider nicht«, sagte Vanessa.

»Aber ihr Mann ist doch Journalist.«

»Ja, das ist er.« Sie steckte den Scanner wieder in die Gürteltasche. »Aber er schreibt ja nicht jeden Artikel im Tagesblatt.«

»Aber er hat von dem Mord an dem armen Jungen geschrieben«, sagte die alte Dame.

»Das ist wahr, Frau Wagner. Und ich würde wirklich gern mit ihnen darüber plaudern, aber ich muss leider weiter.«

»Oh, das tut mir leid. Natürlich, meine Liebe.« Sie schob ihre Brille hoch. »Aber warten Sie! Ich hab’ da noch was für den Kleinen.«

Frau Wagner ging einige Schritte zurück in die Küche und öffnete eine Schublade. Vanessa wagte einen Blick auf ihre Armbanduhr und begann das Gewicht von einem auf den anderen Fuß zu verlagern. Es dauerte knapp eine Minute, bis die Frau wieder im Türrahmen stand.

Sie reichte der Postbotin einen Beutel vollgefüllt mit Süßigkeiten.

»Das darf ich nicht annehmen.«

»Das ist auch nicht für Sie, sondern für Ihren Sohn.«

»Danke.«

Vanessa nahm das Geschenk widerwillig entgegen. Sie würde es einfach in die Küche der Poststation legen, damit sich ihre Kolleginnen bedienen konnten. Robert schmeckten Pfefferminzbonbons nicht. Mit einem Nicken verabschiedete sie sich und ging zurück zum Postauto.

Erst dort sah sie den Brief, der im Beutel lag. Als Empfänger stand »Herr Wohlfarth« auf dem Umschlag. Vanessa seufzte erneut. Dieser Tag wurde immer länger. Sie fuhr die restlichen Häuser ab und kam rechtzeitig an der Bushaltestelle vorbei.

Tom sah sie jedoch nicht. Ob er gebummelt hatte? Seinen Schulranzen hatte er auf jeden Fall nicht dabei gehabt bei ihrem Aufeinandertreffen. Vielleicht hatte sie ihn so sehr verschreckt, dass er nun vollkommen verängstigt Zuhause saß und weinte?

Bevor sie in die Poststation zurückkehrte, machte sie einen Umweg zur einzigen Kneipe im Umkreis. Widererwarten war geöffnet. Sie betrat das Lokal und sah bereits den Männerstammtisch im hinteren Bereich. Mit einem Nicken lief sie zur Theke und legte Frau Wagners Brief darauf.

»Könntest du deinen Kunden sagen, dass ich kein Hol- und Bringdienst bin?«

Fabian Wohlfarth, dem die Kneipe gehörte, gähnte einmal herzhaft und hielt sich eine Hand vor den Mund. Mit der anderen ergriff er den Brief.

»Lange Nacht?«

»Kann man wohl sagen.«

»Henrik?«

»Ja. Ein Wunder, dass du mich überhaupt erwischt hast. Ich mach heute nur bis Mittag. Dann geh ich nach Hause.«

»Alles klar.« Vanessa machte auf dem Absatz kehrt. »Grüß Henrik von mir!«

»Mach ich.«

Als Vanessa in der Poststation ankam, fand sie zwei ordnungsgemäß auf dem Hof geparkte Autos vor. Sie leerte ihren Wagen und steckte die unbearbeiteten Sendungen in die vorgesehenen Behälter. Dann machte sie die Abrechnung mit ihrem Scanner und stellte ihn auf die Ladestation.

In der Küche traf sie Bettina und Anne.

»Gibt es noch Kaffee?«

»Klar. Grad frisch aufgebrüht«, sagte Bettina und goss ihr eine Tasse ein.

Vanessa ließ den Beutel mit den Pfefferminzbonbons auf den Tisch fallen und sofort machte sich Anne darüber her. Gerade als sie sich den beiden gegenüber setzte, fragte Bettina:

»Hast du schon davon gehört?«

»Davon, dass sich Hannes von Silvia trennt, oder dass die Kegeltruppe sich jetzt immer dienstags trifft?«

Ihre Kollegin rollte mit den Augen.

»Nein. Von dem Polizeieinsatz. An der Kirche.« Vanessa schüttelte den Kopf. »Aber dein Mann ist doch Journalist.«

»Richtig. Er ist Journalist, nicht Kriminalbeamter.« Ihr Tonfall wurde patzig. »Und er ruft mich auch nicht pausenlos an oder ist rund um die Uhr mit dem Polizeifunk verbunden.«

»Kam mir bei der Meldung über den Jungen aber so vor.«

»Da hat ihn sein Chef geschickt, weil er am nächsten am Tatort war. Und weil er die Gegend hier kennt und wusste, wo dieses Waldstück überhaupt liegt. Das hätte ein Außenstehender doch nie gefunden.«

»Also reines Glück.«

»Ich würde bei einem Leichenfund nicht von Glück sprechen.«

Vanessa wurde wütend über Bettinas achtlose Wortwahl. Sie dachte an den Segensspruch an Frau Wagners Tür und an Benjamin, der die Leiche des Pfarrerssohns gefunden hatte.

Sie nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Tasse. Prompt verbrühte sie sich die Zunge. Schnell fuhr sie sich mit der verbrannten Stelle über die Zähne.

Eine angespannte Pause entstand, bis Anne, eine neue Aushilfe, das Thema wechselte.

»Wer sind Hannes und Silvia?«

»Wiechern. Fasanenweg 4«, antwortete Bettina, »Die in dem Haus mit der grünen Tür.«

»Ah. Und die lassen sich scheiden?«

»Trennung auf Zeit, soweit ich das verstanden habe«, sagte Vanessa.

Sie war der Neuen dankbar, dass sie nicht weiter auf ihren Mann einging. Seit er diesen vermaledeiten Artikel geschrieben hatte, fragten die Leute sie pausenlos nach dem aktuellen Ermittlungsstand. Wilhelms Tod war ein Schock für die gesamte Region.

»War die Silvia nicht vor ihm mit Vincent zusammen? Vincent Heidensohn?«

»Wohl eher Hurensohn. Der hat schon seine zweite Frau mit einer jüngeren betrogen.«

Vanessa nickte auf Bettinas Feststellung hin und Anne stellte Rückfragen zur Familie. Sie hätte sich nicht auf das Grundstück getraut, weil der Hund nicht angeleint war. Bettina gab ihr Tipps, wie sie damit am besten umging. Als das Thema beendet war, fragte Vanessa noch einmal nach.

»Was ist da jetzt genau passiert? Du hattest doch die Tour, Bettina.«

»An der Kirche? Ja, da war ich. Aber man kam nicht einmal die Straße rauf. Alles von der Polizei abgesperrt. Ich hab’ die Post einfach wieder mitgenommen und versuch es morgen nochmal. Dann hör ich sicher auch Genaueres.«

»Wenn Vanessa nicht vor dir Bescheid weiß«, sagte Anne.

»Jetzt hört endlich auf!«

»Schon gut«, sagte Bettina grinsend, »Ich weiß nur, dass es ein großer Einsatz war. Notarzt, Polizei, alle dabei. Ob da was bei Meichsners passiert ist?«

»Vielleicht ein Selbstmordversuch?«, meinte Anne.

»Also, wir müssen ja nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen!«

Bettina sah Anne tadelnd an und nahm dann selbst einen Schluck aus ihrer Tasse.

»Bei den Dingen, die in letzter Zeit hier ablaufen? Ich bin total froh, dass ich hierhergekommen bin«, sagte Anne. »Hier ist wenigstens was los, nicht so wie auf anderen Dörfern.«

Vanessa klappte die Kinnlade herunter. Die Neue war wirklich unverfroren. Selbst Bettina schüttelte tadelnd den Kopf. Anne verstummte. Sie kannte weder die Pfarrersfamilie noch den ermordeten Wilhelm, Leute von hier durchaus, ob Christ oder nicht.

Es war einst so ruhig gewesen auf dem Land. Ihr Mann Marcel war hier groß geworden. Sie hatten sich während seines Studiums kennengelernt, als er zur Aushilfe bei der DHL gearbeitet hatte.

Als sie schwanger wurde, zogen sie zurück in seinen Heimatort und bauten ein Haus, direkt in der Nähe seiner Eltern. Ihre Ausbildung hatte sie unterbrechen müssen.

Idyllisch war es gewesen. Man kannte sich, man verstand sich. Ihr Sohn wuchs behütet auf und bis auf den Tod von Marcels Eltern hatten sie nie einen Toten zu viel beklagen müssen.

Und dann war der achtzehnjährige Wilhelm Meichsner vor einer Woche verschwunden. Man fand ihn 24 Stunden später in einem Waldstück tot auf. Ihr Mann schrieb den Artikel, in dem der Mord noch reine Spekulation war.

Nach dem kriminologischen Befund war jedoch klar, dass Wilhelm mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen wurde. Wenige Tage später begannen unabhängig voneinander verschiedene Leute zu behaupten, dass sie in besagtem Zeitraum einen Clown am Waldrand gesehen hätten.

Der Killerclown-Hype war erst ein Jahr her und man hatte gedacht, es sei nur ein kurzer Trend. Jetzt traf er ihre Heimatregion erneut. Dieses Mal forderte er jedoch Opfer. Es musste am bevorstehenden Halloweenfest liegen.

Bettina holte Vanessa aus ihren Gedanken, indem sie sie mit der Hand an der Schulter berührte.

»Hast du deinen Schlüssel schon eingeworfen?«

»Ja.«

»Dann können wir ja gehen.«

Nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, verließ sie mit Bettina zusammen die Küche. Anne spülte noch die Tassen ab. Den Rest würden die anderen Zusteller oder die Reinigungskraft am Ende des Tages erledigen.

Als sie in den großen Raum mit den gelben Sortierbehältern kamen, betrat bereits ein weiterer Kollege mit hochgehaltenem Scanner den Raum.

»Ich hasse dieses Drecksteil. Jede Minute: Haben Sie schon dies? Haben Sie schon das? Und dann geht der immer wieder aus.«

»Hast du den Akku überprüft?«, fragte Bettina.

»Scheiß auf den Akku! Dieses verdammte Update wird es gewesen sein. Das macht nichts leichter, aber vieles komplizierter. Ich hatte gerade …«

Ein schriller Schrei aus dem hinteren Teil des Raums unterbrach ihn.

»Wem gehört das denn?«

»Was?«, fragte Bettina.

»Diese Maske«, sagte die Kollegin, die gerade den Raum betreten hatte.

»Das ist Vanessas Tisch«, sagte Anne.

»Exakt. Dann gehört sie wohl mir.«

»Sag bloß, dein Junge verkleidet sich dieses Halloween als Clown?«, fragte Bettina.

»Nein, tut er nicht. Du weißt doch …«

»Vielleicht wäre es eine gute Therapie?«

»Das hat schon nicht geklappt, als ich mich als Klinikclown beworben habe. Hat ihn nur noch mehr verstört, seine Mutter im Clownskostüm zu sehen.«

»Woher hast du die Maske denn?«, fragte die Kollegin.

»Tja, das war so«, begann Vanessa zu erzählen.

 

Kapitel 2

 

»Hey, dein Typ ist verlangt!«

Marcel blickte von seinem Schreibtisch auf. Sein Kollege machte eine auffordernde Kopfbewegung und verschwand wieder. Die Bürotür ließ er offen stehen, in der Erwartung, dass er ihm folgte.

Widerwillig erhob er sich von seinem Platz. Sein Chef hatte gesagt, er solle den Zeitungsartikel beenden, bevor er nach Hause fuhr und jetzt störte ihn ausgerechnet sein nerviger Kollege Kalle.

Als er aber hinaus auf den Flur trat, schickte ihn die Sekretärin direkt weiter in Richtung des Chefbüros. Was konnte so wichtig sein, dass er umgehend zum Boss musste? Die Redaktionssitzung hatte doch bereits stattgefunden.

»Komm rein!«, forderte ihn sein Chef auf, nachdem er einmal geklopft hatte.

Ohne Umschweife kam er zur Sache.

»In deinem Heimatort kehrt auch nie Ruhe ein.« Norbert schüttelte belustigt den Kopf. »Polizeieinsatz am Kirchweg. Find raus, was da vorgefallen ist!«

»Wir haben keinen Anruf von der Polizei erhalten?«

»Nein. Aber ich habe anderweitige Informationen. Die entscheidenden findest du jetzt heraus.«

»Warum ich?«

Norbert runzelte die Stirn.

»Weil du den Kommissar bereits kennst. Hook, wenn ich mich nicht irre. Und immerhin ist der Einsatz offenbar direkt am Pfarrhaus. Sieht schwer danach aus, dass es was mit dem toten Pfarrersjungen zu tun hat.«

»Wilhelm«, sagte Marcel kleinlaut.

»Richtig. Find heraus, ob bei der Familie irgendwas abgeht. Oder was wir sonst daraus machen können!«

Marcel sah seinen Chef ausdruckslos an.

»Alles klar.«

»Guter Junge.«

Er verließ das Büro und schüttelte den Kopf. Die Sekretärin lächelte ihn aufmunternd an, dann tippte sie weiter auf ihrer Tastatur herum. Marcel lief zu seinem Privatwagen und machte sich auf den Weg zum Pfarrhaus seines Wohnortes.

Seine Gedanken kreisten um den Pfarrer Uwe Meichsner. Vor ziemlich genau einer Woche hatte er seinen Sohn verloren. Er selbst hatte den Leichnam des Jungen gesehen, als er den Kommissar interviewt hatte. Es war schrecklich gewesen.

Wilhelm war mit seinem Sohn Robert gemeinsam ans Gymnasium gegangen. Sie kannten sich von diversen Freizeiten. Marcel hoffte inständig, dass der Pfarrersfamilie nichts passiert war.

Schon von weitem konnte man die Polizeikolonne sehen. Marcel parkte seinen Wagen zwei Straßen entfernt. Die Kirche stand mitten im Dorfzentrum. Wenn man das so nennen konnte. Er verstaute Kamera, Notizblock und Stift und lief mit seiner Umhängetasche bewaffnet am Friseur, Bäcker und Discounter vorbei.

Als er bei den beiden Polizeibeamten angelangt war, die hinter einem Absperrband standen, öffnete er den Mund, um die Männer zu begrüßen. Prompt trat einer der Männer mit erhobenen Hand auf ihn zu und kam ihm zuvor.

»Kein Zutritt «

»Ich muss aber zur Kirche«, sagte Marcel unschuldig.

»Hier ist im Moment kein Durchkommen.«

»Warum?«

»Das können wir Ihnen leider nicht sagen«, antwortete der andere Polizist.

»Aha, gut. Dann möchte ich gern direkt mit Kommissar Hook sprechen.«

Die Männer warfen sich vielsagende Blicke zu und schauten Marcel dann argwöhnisch an.

»Kann ich Kommissar Hook sprechen?«, wiederholte Marcel sein Anliegen. »Geht es um den Mord von vor einer Woche?«

»Darüber können wir Ihnen nichts sagen.«

»Gut. Dann …«, Marcel überwand den letzten Meter zum Absperrband und flüsterte weiter: »… lassen Sie mich entweder durch und Herr Hook gibt mir ein aussagekräftiges Interview. Oder ich denke mir eine Story aus und in der wird der Pfarrer mit Sicherheit schlecht wegkommen. Wer weiß, vielleicht ist er bereits tot?«

»Das ist er nicht«, sagte der zweite Polizist entrüstet und erntete einen tadelnden Blick seines Kollegen.

Marcel stand mit hochgezogenen Augenbrauen vor den Beamten und wartete auf eine Reaktion. Ihm selbst war die Situation ebenso unangenehm. Natürlich würde er sich keine abstruse Geschichte über den Dorfpfarrer zusammenreimen.

Immerhin war sein Sohn gestorben und seine eigene Frau war mit der Familie befreundet. Um Gottes Willen: Sie würden ihm mitunter am Sonntag im Gottesdienst begegnen. Keine Vorstellung, was geschehen würde, wenn er einen solchen Artikel veröffentlichen würde. Außer natürlich es entsprach der Wahrheit.

»Holen Sie schon den Inspektor!«, ordnete der eine Polizist an.

»Jawohl!«

Der zweite Polizist verschwand, während der andere Marcel griesgrämig anstarrte. Ihm lief ein Schauer über den Rücken. Er musste Norbert etwas bieten, sonst würde sein Chef ihm den Hals umdrehen. Immerhin wurden immer mehr Stellen gestrichen. Marcel musste sich mit ihm gut Freund stellen.

Nach endlosen Minuten kam der Polizist mit einem rothaarigen Mann im Schlepptau zurück. Die Augen rollend trat er an das Absperrband.

»Sie schon wieder. Wer hätte das gedacht?«

»Die Stellen in unserer Redaktion sind rar besetzt. Da muss ich öfters herhalten. Was gibt es denn wieder Schönes?«

»Schönes, he?« Der Kriminalbeamte lachte bitter auf. »Eine Leiche.«

Obwohl Marcel bereits mit dem Schlimmsten gerechnet hatte, konnte er seinen Schock nicht verhehlen.

»Kenne ich den Toten?«

»Woher soll ich das wissen? Hier auf dem Dorf kennt sich doch jeder.«

»Nicht der Pfarrer.« Marcel linste zu dem Polizisten hinter Herrn Hook hinüber.

»Nein. Laut mitgeführter Personalien handelt es sich um einen Mann, wohnhaft in Neustadt. Der Mörder hat sich keine Mühe gegeben, die Identität des Opfers zu verschleiern.«

»Mörder?«

Herr Hook hielt in seinen Ausführungen inne, seine Augen verengten sich.

»Sie haben über den Mord an dem Jungen berichtet.«

»Wilhelm.«

»Sie schienen ihn persönlich zu kennen.«

»War das so offensichtlich?«

»Kann auch sein, dass Sie nur in den Busch gekotzt haben, weil Sie zum ersten Mal eine Leiche gesehen haben.«

Marcel erinnerte sich zurück. Norbert hatte ihm nicht gesagt, worum es ging. Nur dass ein Fußgänger eine interessante Entdeckung gemacht hatte. Er hatte an einen entflogenen Wellensittich gedacht, oder an ein Baumhaus aus zehn Billy Regalen gezimmert.

Dass drei Polizeiwagen auf ihn warten würden, und man ihm kurze Zeit später den Freund seines Sohns tot hinter einer Tanne zeigen würde, damit hätte er im Leben nicht gerechnet.

Er hatte ihn erst am Sonntag noch im Gottesdienst gesehen. Als er seiner Frau davon erzählt hatte, war sie in Tränen ausgebrochen.

»Sie hätten meinem Kollegen fast auf die Schuhe gekotzt.«

»Er hat wirklich eine ausgezeichnete Reaktionsfähigkeit.«

Über Kommissar Hooks Gesicht huschte der Anschein eines Lächelns. Doch so schnell es gekommen war, verschwand es auch wieder. Marcel wartete auf eine Erwiderung.

»Okay. Vielleicht können Sie mir helfen.«

»Wobei?«

»Kommen Sie mit!«

Herr Hook lüftete das Absperrband und Marcel lief darunter durch.

»Die Kamera bleibt aus!«

»Klar.«

Marcel zog seine Hand aus der Tasche und griff stattdessen nach Block und Stift in der Seitentasche. Er folgte dem Kommissar den Weg hinauf bis zur Kirche und dem gegenübergelegenen Pfarrhaus.

»Der Pfarrer öffnet nicht die Tür.«

»Vielleicht ist er nicht Zuhause?«

»Doch. Es ist eher so, dass er sich weigert, die Tür zu öffnen.«

»Ist es ihm zu verübeln? Was wollen Sie von ihm?«

»Wir müssen ihn befragen. Außerdem müssen wir die Überwachungskamera konfiszieren. Eventuell hat sie den Mörder aufgenommen.«

Herr Hook deutete mit dem Zeigefinger auf die entsprechende Kamera direkt an der Kirchenwand. Marcel nickte verständig, wunderte sich aber eher darüber, dass die Gemeinde an dieses denkmalgeschützte Gebäude irgendetwas anbauen durfte.

Der Blick durch den Holzzaun brachte ihm ein Déjà-vu-Erlebnis ein. Zwei Polizisten standen neben einer Bahre, über die ein weißes Tuch lag. Er war insgeheim dankbar, dass er nicht noch einmal in den scheußlichen Genuss kam, eine Leiche sehen zu müssen.

Die beiden Beamten hoben die Bahre an und trugen sie zum bereitgestellten Leichenwagen. Neben diesem stand eine Frau mit langen blonden Haaren. Sie war Verkäuferin im hiesigen Discounter. Wahrscheinlich war sie auf ihrem Arbeitsweg hier vorbeigekommen und hatte die Leiche gefunden. Der Beamte neben ihr notierte fleißig, was sie sagte.

»Wer ist der Tote?«

Kommissar Hook folgte Marcels Blick.

»Heinrich Steinert. 34 Jahre alt. Die Personalien werden gerade überprüft. Mehr kann ich noch nicht sagen, außer seinem Wohnort. Neustadt, wie gesagt. Falls Sie noch seine Körpergröße wissen wollen?«

Marcel notierte eifrig alle Informationen. Als Journalist hatte er sich angewöhnt, auch im Gehen mehr oder weniger leserlich zu schreiben. Erst als er den Ort notiert hatte, bemerkte er die letzte Frage. Irritiert sah er auf und sah in Hooks erwartungsvolle Miene.

»Nur ein Witz.«

Marcel grinste überschwänglich.

»Ist die Todesursache schon bekannt?«

»Er wurde augenscheinlich erwürgt. Aber bevor die Autopsie nicht durch ist, würde ich diese Information ungern herausgeben.«

Sie waren am Pfarrhaus angelangt und blieben stehen.

»Einverstanden.«

»Die Todesursache bleibt unter uns! Verstanden?«, wiederholte Kommissar Hook.

»Ja.«

»Nicht dass es läuft, wie bei dem Leichenfund.«

»Was meinen Sie?«

»Sie haben den Namen des Finders genannt.«

»Den Nachnamen haben wir nicht genannt. Da bin ich mir sicher.«

»Und dennoch haben die Eltern des Jungen mich ganz aufgeregt angerufen und sich beschwert. Es gibt offenbar nicht viele Jugendliche mit dem Namen Benjamin in diesem Ort.«

»Das konnte ich nicht wissen«, wehrte sich Marcel gegen diese unverfrorene Anschuldigung.

»Mir ist das egal. Aber ihr Image könnte es schädigen.«

Herr Hook zuckte mit den Achseln und drückte die Hausklingel. Ohne eine Reaktion abzuwarten, begann er an die Tür zu hämmern.

»Polizei. Machen Sie auf!«

Marcel beobachtete das Schauspiel eine Weile lang. Sein Blick ging von einem Fenster zum anderen. Keine Reaktion zu sehen. Dann zückte er sein Smartphone. Innerhalb von wenigen Sekunden hatte er die private Nummer des Pfarrers gewählt. Es klingelte ungewöhnlich lang, dann nahm Pfarrer Meichsner ab.

»Ja? Hallo?«

»Hallo, Uwe. Sag mal: Bist du Zuhause?« Keine Antwort. »Ich steh vor deiner Tür. Kannst du mich reinlassen?«

Eine lange Pause entstand. Marcel sah in die erwartungsvollen Augen des Kommissars. Gerade als er dachte, der Pfarrer würde auflegen, vernahm er eine gebrochene Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Ich will keine Polizei mehr in meinem Haus.«

»Alles klar«, reagierte Marcel prompt, »Die Polizei bleibt draußen. Ich komm allein rein.«

Herr Hook schüttelte vehement mit dem Kopf und machte Anstalten ihm das Telefon wegzunehmen. Ein Klicken bedeutete ihm, dass der Pfarrer aufgelegt hatte. Wenige Augenblicke später wurde der Schlüssel im Schloss herumgedreht und die massive Holztür aus dem 18. Jahrhundert öffnete sich einen Spalt.

»Bin gleich zurück«, sagte Marcel und stieg behutsam die Stufen hinauf. Langsam öffnete er die Tür und stand vor seinem Pfarrer.

Seine Familie hatte dem Pfarrerspaar, genauso wie andere Haushalte des Ortes, ihre Anteilnahme in Form einer Karte ausgedrückt. Persönlich waren sie noch nicht hier gewesen. Sein Sohn redete seit Wilhelms Tod überhaupt nicht über den Pfarrer und war auch nicht zum Gottesdienst gekommen.

Und auf einen Besuch hatten sie verzichtet. »Er weiß, wie schrecklich der Tod seines Sohns ist. Das brauchen wir ihm nicht auch noch sagen«, hatte seine Frau argumentiert. Und er vertraute seiner Frau in solchen Belangen. Immerhin war sie diejenige von ihnen mit der sozialen Ader.

Der Anblick, der sich ihm nun bot, zeigte ihm, dass es gut so gewesen war. Uwe war ein Wrack. Ein Autowrack, das seit Jahren auf dem Schrottplatz verrostet, vergessen von Besitzer und Entsorger.

Seine Tränensäcke lagen wie Schluchten unter seinen Augen, die Ränder waren gerötet. Eingesackt stand er vor ihm, schniefte kurz und ging dann zur Seite. Die letzte Höflichkeit zeigte sich in einer angedeuteten einladenden Geste mit der Hand.

Marcel betrat den Flur des Pfarrhauses. Die Tür schloss sich und Herr Hook blieb verdattert draußen stehen. Der Journalist versuchte sich an einem Lächeln, das vom Pfarrer nicht erwidert wurde. Ihm lag ein Spruch nach dem Motto »Wie geht es dir?« auf den Lippen, doch er erinnerte sich an die Worte seiner Frau.

Jeder weiß, wie es ihm geht. Er hat seinen Sohn verloren.

Schweigend ging der Pfarrer in die angrenzende Küche und setzte sich an den Tisch. Marcel folgte ihm unaufgefordert. Als sie wortlos gegenüber saßen, wagte er es nicht, dem Pfarrer weiter in die Augen zu sehen. Zu unangenehm war ihm die Situation.

»Wie geht es deinem Sohn?«, krächzte der alte Mann.

»Gut. Er ist gerade in der Schule.«

Der Pfarrer nickte nur. Eine lange Pause entstand. Marcel konnte seinen eigenen Herzschlag wahrnehmen und dachte unweigerlich, sein Gegenüber könne es genauso hören. Er wagte einen scheuen Blick, doch Uwe blickte an ihm vorbei ins Nichts.

Plötzlich verzogen sich seine Mundwinkel und ein Schluchzen entwand sich seiner Kehle.

»Ich halt es nicht mehr aus«, brach es aus ihm heraus.

Marcel schwieg.

»Immer wieder kommen Leute. Sie meinen es gut, aber … es ist so schrecklich.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, meinen Sohn zu verlieren«, sagte Marcel vorsichtig.

Ein trauriges Lächeln huschte über Uwes Gesicht.

»Meine Frau ist zu ihren Eltern gefahren. Sie brauchte Abstand.« Der Pfarrer kratzte gedankenverloren mit dem Daumen über den Holztisch.

Marcel würde seiner Frau später danken, dass sie ihn davor abgehalten hatte, persönlich zum Pfarrhaus zu gehen und die Karte abzugeben. Dieses Gespräch fiel ihm jetzt schon unsagbar schwer. Doch er musste es durchhalten. Allein für die Information für Herrn Hook.

»Was wollen diese Männer?«

»Die Polizisten?«

Der Blick des Pfarrers hob sich wieder. Müde blickte er Marcel direkt in die Augen. Er nahm allen Mut zusammen, um ihm die Wahrheit zu sagen.

»Auf dem Kirchplatz wurde jemand ermordet. Ein Mann Mitte 30.« Er blickte auf seinen Notizzettel. »Herr Heinrich Steinert. Kennst du den Mann?«

Ausdruckslos schüttelte Uwe den Kopf.

»Er wurde erwürgt.« Ihm fiel auf, dass er diese Information noch nicht veröffentlichen sollte, doch Herr Hook hatte nur von der Zeitung geredet, so war er sich sicher. »Genau gegenüber der Überwachungskamera. Die Polizisten wollen die Aufnahmen haben, als Beweismittel.«

Uwe nickte geistesabwesend. Marcel wartete auf eine Reaktion, doch hatte das Gefühl, dass der Pfarrer in Gedanken weit weg war. Die Sekunden verstrichen. Er hörte die Wanduhr über der Tür ticken, den Wind am Fenster zerren und die Vögel vor der Tür zwitschern.

Als der Pfarrer wieder das Wort ergriff, erschrak er sich geradezu.

»Warum passiert unserer Gemeinde das alles?«

Vollkommen überrumpelt durch diese Frage, wusste Marcel keine Antwort. War es etwa eine rhetorische Frage? Automatisch wiederholte er die Frage bloß.

»Warum uns das passiert?«

»Ja. Warum lässt Gott das zu? Ich meine … warum ermordet jemand meinen Sohn? Und dann, dann ermordet er noch jemanden, direkt neben unserem Haus?«

»Du gehst davon aus, dass es derselbe war?«

»Etwa nicht?«

Marcel hob abwehrend beide Hände. »Keine Ahnung. Ich dachte nur. Es muss nicht derselbe sein.«

Noch während er sprach, wurde ihm bewusst, dass sie in einem kleinen verschlafenen Örtchen lebten. Wer hier wohnte oder sich hier aufhielt, hatte einen Grund. Dieser Mann, Herr Steinert, war kilometerweit hierher gefahren, um ermordet zu werden. Niemand kannte ihn. Wer war dieser Mann? Und konnte es wirklich ein Zufall sein, dass sich ein zweiter Mord im Umfeld des Pfarrers ereignete? Marcels Familie war christlich geprägt und er hatte nie an Schicksal geglaubt. Also handelte es sich hierbei entweder um göttliche Fügung oder da draußen lief ein vollkommen kranker Bastard herum, der dieser Familie schaden wollte.

Plötzlich erhob sich der Pfarrer von seinem Platz. Marcel erschrak sich und sprang ebenso auf. Beide Männer sahen sich mit geweiteten Augen an.

»Ich rufe die Sekretärin an. Sie soll der Polizei die Videoaufnahmen zukommen lassen.« Marcel nickte lediglich. »Und du solltest zurück zu deiner Familie gehen. Sag deiner Frau: Danke für die nette Beileidskarte!«

Beim letzten Wort brach Uwes Stimme erneut. Ein Schluchzen überkam ihn. Mehrmals wischte er sich mit einem Taschentuch über die Nase und schnaubte schließlich. Zögerlich legte Marcel dem Pfarrer eine Hand auf die Schulter.

»Wir sind für euch da.«

»Das bedeutet mir viel. Danke.«

Marcel verabschiedete sich und verließ die Küche. Als er die Haustür verließ, stand der Kommissar unerwartet immer noch vor dem Pfarramt.

»Was sagt er?«, fragte er aufgeregt.

»Er lässt das Überwachungsband zur Polizeistation schicken.«

Herr Hook zückte eine Visitenkarte und steckte sie unvermittelt in den grauen Briefkasten neben sich. Mit einem Lächeln sah er den Journalisten an.

»Sie haben einen gut bei mir.«

»Ich komm darauf zurück«, antwortete Marcel verschwörerisch.

Über den Autor

Anika Sawatzki wurde 1990 in der Altmark geboren. Sie lebt mit ihrem besten Freund Jamie L. Farley und einer Ente namens Dave in einer Leipziger WG.

 

Den vollständigen Roman gibt es als E-Book für 1,99€ bei allen gängigen Portalen zu kaufen.

Amazon:

https://smile.amazon.de/dp/B076K69S3Q/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1508411369&sr=8-1&keywords=lachende+clowns+morden+nicht

 

 Wenn Dir dieses Buch gefallen hat, besuch mich gern im Internet. Im November 2017 beginne ich meinen zweiten Roman und du kannst live dabei sein.

Homepage: www.anikasawatzki.wordpress.com

Facebook: http://www.facebook.com/anikasawatzki/

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.10.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Jamie, den Clown im Zirkuszelt „Welt“

Nächste Seite
Seite 1 /