Cover

Hiro, die Rueckkehr der Goetter


14. September 2021
Kupier Gürtel, ca. 0,00024263 Parsec von der Erde entfernt

„Hi…o“! “Hi...ro...o“!
Der Sturm zerriß die Worte ebenso mühelos wie den Rest von Sapporo . Wieder traf ihn etwas mit schmerzhafter Wucht. Dieses Mal, zum Glück, nur am Bein.
Hiro preßte sich noch enger an den Asphalt, falls das überhaupt möglich war, und biß die Zähne zusammen. Nur noch wenige Meter bis zu den Betonpfeilern wo sich sein Vater, seine Mutter und sein Großvater eng aneinanderdrängten. Das Inferno um ihn herum und das Brüllen des Sturms nahmen zu. Bäume, Autos und Trümmer aller Art flogen durch die Luft wie Spielzeug, die Erde zuckte wie unter Krämpfen. Die Panik lähmte ihn fast, doch er zwang sich weiter zu kriechen. Hauptsache weiter, Zentimeter für Zentimeter und immer flach auf dem Boden bleiben, waren die einzigen Gedanken die er zuließ.
Wieder rief ihn sein Vater. Aus seinem ungünstigen Blickwinkel heraus konnte Hiro sehen, wie er ihm mit nacktem Entsetzen in den Augen, eine Hand entgegenstreckte. Großvater und Mutter hielten sich krampfhaft an ihm fest.
Hiros Augen brannten und er konnte nur noch verschwommen sehen. Noch wenige Zentimeter. Das letzte was er spürte war die Hand seines Vaters, die sich mit eisernem Griff um die seine schloß, bevor ihn die Kräfte verließen und alles um ihn herum schwarz wurde. Dann war da nichts mehr!
„Hiro“! “Hiiiro“!
Er riß sich mit Gewalt aus seinen Erinnerungen und versuchte in die Gegenwart zurück zu finden. Ran und Bandele saßen ihm gegenüber. Ran blickte ihn mit undeutbarem Gesichtsausdruck an: „Träumst du Freund? Du siehst nicht gut aus.“
„Es ist nichts weiter, ich…bin nur müde“. Hiro schaute weg, ihm war jetzt nicht nach einem Gespräch zumute und Ran machte ihn jedesmal nervös, ohne das er wußte warum. Er dachte über Ran nach. Seitdem sie sich vor drei Wochen, bei Beginn der Einsatzbesprechung, kennengelernt haben, hatte er sich noch immer kein klareres Bild über den Sikh machen können. Der Mann blieb für ihn ein Rätsel, undurchschaubar und auf eine seltsame Art angsteinflößend, obgleich er die Tests bestanden hatte und von ihm daher keinerlei Gefahr ausgehen dürfte.
Bandele hingegen war wie ein offenes Buch, immer fröhlich und zu Albernheiten aufgelegt. „Wie ein großes Kind“, dachte er. Trotz alledem jedoch ein furchteinflößender Kämpfer, genauso wie seine Zulu Vorfahren.
Sein Blick glitt über den Rest der Truppe. Außer ihm, Ran und Bandele befanden sich keine weiteren Menschen an Bord des Transporters. Die Annunaki saßen hoch aufgerichtet in ihren Subraumkapseln die sich in wenigen Minuten schließen würden. Der kleinste von ihnen maß etwa zwei und einen halben Meter, der größte über drei. Ihre Mienen waren entspannt und sie strahlten Ruhe und Zuversicht aus. Hiro fühlte sich bei ihrem Anblick gleich sehr viel besser, fast geborgen.
Bald würde es soweit sein. Die Kapseln würden sich schließen, sobald sie die richtigen Koordinaten für den Sprung erreicht hatten. Obwohl die Kapseln für die drei Menschen viel zu groß ausgelegt waren, gab es keine Probleme. Die künstliche, organische Substanz die sich um sie schmiegte, paßte sich ihren Körpern perfekt an, füllte den Rest der Kapsel aus und verband sich mit ihr. „Der perfekte Sitz und Airbag in einem“, dachte Hiro, „aber auch weit mehr als das“.
Die Kapseln selbst waren aus einem ihm ebenso völlig unbekannten Material, das die Annunaki Charaki nannten, und welches irgendwie in der Lage war, sich mit der organischen Substanz auf Quantenebene zu verbinden. Er staunte wiederholt über diese ihm kaum verständliche Technologie, und fragte sich wieder einmal, wie es wohl sein würde zum ersten Mal durch ein Wurmloch zu reisen.
Wurmloch, Subraum!
Das waren Begriffe aus der menschlichen Terminologie, die der Annunaki Wissenschaft kaum gerecht wurden. Sie selbst hatten andere Begriffe die in der menschlichen Sprache nur eine unzureichende Entsprechung fanden, da ihre Sprache weitaus komplexer und bedeutungsschwerer war als die der Menschen und zudem über mehr, und subtilere Kanäle floß, als rein verbale. Sie war der menschlichen Sprache etwa so überlegen, wie die menschliche Sprache den Gebärden der auf der Erde beheimateten Primatenarten, wahrscheinlich sogar mehr.
Hiro fühlte sich ihnen gegenüber wie ein kleines Kind. Fast alle Menschen die noch lebten taten das wahrscheinlich. Ähnlich empfand er als kleiner Junge für seinen Vater. Aus der kindlichen Perspektive heraus gesehen war sein Vater damals ein Gott für ihn gewesen. Weise, unfehlbar, und der Stärkste von allen. Diese Sichtweise hatte sich im Laufe der Jahre natürlich relativiert, als Hiro hatte feststellen müssen, daß es durchaus Stärkere gab, und sein Vater auch Fehler machte. „Das ging wahrscheinlich jedem Kind so“, dachte er. Könnte es ihm mit den Annunaki ähnlich ergehen? Immerhin haben sie selbst zugegeben daß sie in der Vergangenheit große Fehler gemacht haben. Er hoffte von ganzem Herzen das dem nicht so sein würde. Sie waren immerhin die einzigen Eltern die ihm noch blieben, und er liebte sie fast genauso wie seine Leiblichen.
Noch wenige Sekunden! Hiro registrierte fasziniert und gleichzeitig besorgt, wie sich ihm links gegenüber, die erste Kapsel schloß. Der Annunaki hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Er entsann sich, daß man ihm erklärt hatte, daß es bei einem Subraumsprung unabdingbar für Körper und Geist des Springenden ist, zum Schutz ein eigenes Raumzeitfeld zu errichten, da sich ansonsten an der Schnittstelle zwischen virtueller- und reeller Quantenebene der menschliche Geist in seine Einzelteile auflösen würde, da dieser in seiner Komplexität mehrere Realitätsebenen durchdringt und nicht nur in der normalen Raumzeit existiert. Das Ergebnis wäre, ein rein äußerlich zwar intakter, aber leider toter Körper. Diesem Zwecke dienten die Subraumkapseln. Die synthetisch hergestellte, organische Substanz sorgte, dadurch daß sie sich mit dem Springenden auf jeder Ebene sowie mit der Kapselhülle verband, irgendwie für die Lebenserhaltung des gesamten Organismus. Die Charaki-Hülle hingegen schaffte das eigentliche Raumzeitfeld. Hiro war zwar nicht in der Lage das gesamte Konzept zu begreifen, konnte aber das Wesentliche verstehen. Jedenfalls schien es zu funktionieren, da die Annunaki diese Art des Reisens seit etwa einhundert und fünfzigtausend Jahren praktizierten, und zwar äußerst erfolgreich.
Mittlerweile waren zwölf Kapseln geschlossen. Nun war Ran an der Reihe. Hiro konnte seinem Gesicht keinerlei Reaktion ansehen. Der Mann schien Nerven aus Stahl zu haben. Bandele hingegen versuchte seine augenscheinliche Nervosität mit einem schiefen Grinsen zu überspielen. Seine Augen schlossen sich jedoch zeitgleich mit der Charaki-Hülle, und sein Gesicht wirkte plötzlich sehr friedlich. Hiro war als letzter dran. Als sich seine Augen schlossen, hatte er das gleiche Gefühl wie bei einer Vollnarkose. Von einem Moment zum anderen wurde plötzlich alles schwarz, und sein Gedankenfluß riß. Dann kamen wieder die Träume, klarer als zuvor!

Kapitel 2


13.Januar 2013
Erde, Sapporo, Nordjapan

„…ro, bitte wach auf Junge! Komm schon, komm schon, werde endlich wach!“, die Stimme klang sehr eindringlich und war in dem Lärm kaum zu verstehen. Er schlug verwirrt die Augen auf, als die Schmerzen plötzlich mit brachialer Gewalt in seinen Körper zurückfluteten. Das Gesicht seines Vaters war dicht vor seinem. Hiro stöhnte, drehte sich auf die Seite und übergab sich mehrmals. Schwarze Punkte tanzten, der Boden schien sich zu drehen. Er atmete tief durch und versuchte die Übelkeit zu verdrängen. Langsam wurde es besser, mit jedem Atemzug ein wenig mehr. Sanfte Arme richteten ihn behutsam auf. Erneut blickte er in das Gesicht seines Vaters. „Geht es wieder Junge?“, seine Stimme klang brüchig und rauh. In Kajima Yagoro`s Augen flackerten Entsetzen und Erleichterung, wechselten sich ab, wieder und wieder. „Es geht mir gut Vater, hab keine Angst“, die Worte schienen Kajima etwas zu beruhigen, das Flackern in seinen Augen ließ nach. Großvater und Mutter nahm Hiro erst jetzt richtig wahr. Sie standen dicht hinter Vater, Mutter schluchzte leise. Dann beugte sie sich zu ihm hinunter und drückte ihn fest an sich. Großvater und Vater taten es ihr nach. Sie umarmten einander und weinten. Sie weinten weil sie noch lebten und sich noch hatten, und später weinten sie um die, welche nicht mehr weinen konnten. Und das waren sehr, sehr viele, wie sie wußten.
Der Sturm und die Beben waren, trotz der meterdicken und mit Stahl verstärkten Betonwände immer noch zu hören und zu spüren. Boden und Wände vibrierten, und in regelmäßigen Abständen bebte der ganze Raum für einige Sekunden. Seitdem Kajima sie weiter in den engen Betontunnel, in dem Hiro wieder zu sich gekommen war, geführt, und die an seinem Ende befindliche Stahltür geöffnet hatte, befanden sie sich hier. Sie hatten Glück einen Ort wie diesen überhaupt betreten zu können, denn nicht viele wußten davon. Kajima Yagoro war, dank seiner hohen Position in der Kazuki Corporation, einer der Wenigen die mit diesem Wissen beschenkt wurden. Es gab in ganz Japan nur wenige tausend dieser, in den letzten Jahren in großer Hast und im Geheimen gebauten, Schutzbunker. Und die wenigsten wurden von der Kazuki Corporation finanziert. Der Bunker war acht Mal acht Mal vier Meter groß, und für bis zu zwölf Leute konzipiert, wie Kajima wußte. Nahrung, Wasser, Arzneimittel, Kleidung und noch einige andere Dinge wurden zusammen in einem Raum verwahrt. Die drei anderen Räume waren, mit an Wand und Boden verschraubten Pritschen, Tischen und Stühlen ausgestattet. Der Bunker verfügte über eine interne Energiequelle, Heizung, Licht und einem Lüftungs- und Filtersystem. Die Eingangstür, aus einem Meter dicken, gehärteten Stahl, verfügte über ein elektronisches Schloß, dessen Zahlencode nur Kajima und noch zwei weiteren Mitgliedern der Kazuki Corporation bekannt war. Kajima kannte die beiden und ihre Familien. Er hoffte sie würden es bis hierher schaffen. Dann wären sie genau zwölf, kein Platz wäre verschwendet!
Hiro saß auf einer der Pritschen und beobachtete seinen Vater, der sich leise mit Großvater unterhielt. Sein Großvater Gassan sah über alle Maßen erschöpft aus und wurde von Hiros Mutter gestützt. „Bitte halte durch“, flehte er innerlich. Er liebte seinen Großvater über alles und würde seinen Verlust nicht ertragen können, wie ihm plötzlich klar wurde. Das galt für seine Mutter Natsuko und seinen Vater natürlich genauso. Sie wirkten, im Gegensatz zu Großvater jedoch weitaus kräftiger, so daß er sich um sie nicht so sehr sorgte. Vater und Mutter brachten Großvater zu einer der Pritschen und halfen ihm sich hinzulegen. Nachdem Mutter Großvater zugedeckt hatte, kam sein Vater zu ihm hinüber. „Junge, laß mich deine Verletzungen sehen“, bat Kajima. „Am besten ziehst du dich aus, Mutter wird auch nicht hinschauen“, versprach er. Hiro zögerte kurz, tat dann aber wie im geheißen. „Du hast einige Schnittwunden die ich nähen werden muß, zum Glück sieht nichts davon wirklich gefährlich aus. Deck dich zu und warte hier! Ich werde aus dem Vorratsraum Verbandszeug holen“. Kajima stand auf und ging zu Mutter hinüber. Hiro sah, wie er sich kurz mit ihr unterhielt, und beide dann in den Nebenraum gingen. Seine Augen wanderten zu Großvater. Er schien mittlerweile eingeschlafen zu sein. Hiro konnte sehen wie sich sein Brustkorb unter der Decke hob und senkte. Mittlerweile ließen die Beben draußen etwas nach. Der Raum vibrierte zwar noch immer, es gab jedoch kein Rütteln mehr wie noch vor kurzem. Sein Vater kam, mit einer großen Kunststoffbox in den Händen, zurück, und setzte sich erneut neben ihn. „Ich habe Mutter nebenan etwas zu tun gegeben, so daß wir Männer jetzt unter uns sind“. Hiro nickte dankbar. Ihm war es seit einiger Zeit immer etwas peinlich wenn Mutter ihn nackt sah. Das fing vor etwa zwei Jahren an, als er noch elf war, wie er sich erinnerte. Zu dieser Zeit begann er sich auch für die Mädchen in seiner Klasse zu interessieren. Ob da irgendein Zusammenhang bestand? Er wußte es nicht, jedenfalls war es seltsam. „Ich werde jetzt zuerst den Schnitt an deinem Bein nähen Junge. Es wird nicht weh tun. Ich gebe dir vorher eine kleine Spritze, dann wirst du nichts merken“. Kajima tränkte ein Stück Zellstoff mit einem Desinfektionsmittel und rieb damit eine Stelle, knapp neben dem Schnitt, sauber. Dann nahm er eine kleine Spritze zur Hand und entfernte die Plastikkappe. Hiro spürte einen kurzen Stich und verzog das Gesicht. Sein Bein wurde langsam taub während er seinem Vater bei den Vorbereitungen zusah.
Später saßen sie alle an dem Tisch, der in der Mitte des Raumes stand, und aßen irgend etwas, das Kajima ihnen in verschweißten Alubeuteln überreichte. Das Zeug schmeckte widerlich, war aber anscheinend extrem Nahrhaft, wie er ihnen versicherte. Großvater sah etwas besser aus, nachdem er fast sechs Stunden geschlafen hatte, aß aber nicht viel. Als sie fertig waren, und nachdem Mutter die Reste in den, in die Wand integrierten, Mülleimer beförderte, sprach Kajima: „Hört mir alle kurz zu. Ich glaube, wir sind hier erst einmal in relativer Sicherheit. Wir haben Arznei, und wir haben Nahrungsmittel für etwa einen Monat. Wie mir gesagt wurde ist der Bunker Erdbebensicher. Es gibt noch zwei weitere Menschen die von diesem Ort wissen. Falls sie es nicht mit ihren Familien hierher schaffen, was ich nicht hoffe, dann reichen die Nahrungsmittel für etwa drei Monate. Ich habe keine Ahnung wie lange die Beben und die Stürme anhalten werden, glaube aber nicht länger als zwei bis drei Wochen, sonst hätte meine Firma diese Anlage anders konzipiert“. Kajima blickte seiner Familie lange in die Augen. „Ich liebe euch, wir werden es schaffen“, flüsterte er.
Tage vergingen. Niemand kam.


Kapitel 3


17.Januar 2013
Erde, Sapporo, Nordjapan

Hiro beobachtete seinen Vater der am Tisch saß, ihr ganzes Hab und Gut das sie retten konnten vor sich ausgebreitet. Seit gestern Nacht nahmen die Beben in ihrer Stärke wieder zu, und der Bunker wurde bereits zwei Mal kräftig durchgerüttelt. Dabei hatte Mutter sich leicht am Kopf verletzt, als eine der Schrauben aus einer der Pritschen plötzlich zersprang, und sie ein Splitter an der Schläfe traf. Nun war sie mit Großvater im Vorratsraum um eine Inventurliste zu erstellen. Hiro ging zu ihm hinüber, setzte sich neben ihn, und schaute ihn aus müden und verängstigten Augen an. „Ich fürchte mich Vater“, sein Blick wanderte zu Boden. Kajima löste sich langsam von den Gegenständen die auf dem Tisch lagen und drehte sich zu ihm um. „Sieh mich an Sohn“, sagte er. Hiro schaute halb auf. „Es ist keine Schande Angst zu haben. Eine Schande ist es nur, Angst zu haben, und sie zu Verleugnen; so zu tun als hätte man keine“. Er berührte sanft Hiro`s Wange. „Sieh her“, er zeigte auf einen länglichen Gegenstand der auf dem Tisch lag. Hiro erkannte das Katana, das sich seit vielen Generationen im Familienbesitz befand. Sein Vater hatte ihm alles was er über diesen einzigartigen Familienschatz wußte erzählt. Es war ein Soshu-Den, in Perfektion geschmiedet von keinem geringeren als Goro Nyudo Masamune. Die Familienüberlieferung berichtete davon, wie Imai Noboru, ein herrenloser Samurai und einer ihrer Vorfahren, am Ende des dreizehnten Jahrhunderts auf einer seiner Wanderungen in der damaligen Provinz Sagami an einen Bach gelangte. Dort sah er einen jungen Mann halb im Wasser am Ufer liegen, der einen großen Klumpen in der Hand hielt. Der Mann sah aus als sei er tot. Imai näherte sich ihm und fühlte seinen Puls. Er war sehr schwach und unregelmäßig. Imai löste den Klumpen aus den verkrampften Fingern, und zog den Mann ein Stück vom Ufer weg, und von dem Wasser fort. Er blieb die ganze Nacht bei ihm, gab ihm zu Trinken und wärmte ihn. Früh am Morgen öffnete der Mann die Augen. „Wer bist du?“, fragte er schwach. „Ich heiße Imai und fand dich leblos an diesem Ufer liegen“, antwortete er. „Du hattest einen großen, schweren Klumpen in der Hand. Er sah etwa so aus wie Tamahagane, aber war es nicht. Er leuchtete viel blauer als Tamahagane, und war warm. So etwas habe ich noch nie gesehen.“
„Doch“, sagte der Mann plötzlich energisch. „Tamahagane war es, Tamahagane von den Sternen, ja von den Sternen!“. Der Mann erhob sich ruckartig und sein Blick irrte gehetzt umher. „Wo ist es?“, schrie er. Imai zuckte ein wenig zusammen. „Vor kurzem noch halb tot und nun so zänkisch wie seine erste Frau“, dachte er. „Beruhige dich, es liegt dort drüben, gleich neben dem kleinen Strauch“, sagte Imai. Der Mann war anscheinend nicht ganz beieinander, wie Imai fand. Er beobachtete wie der Mann mit irrem Blick das Ufer taxierte und plötzlich mit einer Art wollüstigem Grunzen lospreschte. Als er den kleinen Busch erreicht hatte, beugte er sich ehrfurchtsvoll hinunter, und kam kurz darauf mit dem dunkelblau schimmernden Klumpen wieder hoch. „Hah!“, sagte er. „Das ist Tamahagane für die Götter, so etwas gab es noch nie, noch nie!“. Während der Verrückte im Kreis tanzte, fragte sich Imai, was um alles in der Welt ihn bewogen hatte, diesem Irren zu helfen. Er wollte schon aufstehen und seinen Weg fortsetzen als der Fremde, plötzlich ganz ruhig, sprach: „Ich danke dir Freund. Du hast mein Leben gerettet“, dabei legte er den Klumpen neben sich auf den Boden und entfernte sich ein Stück von ihm. „Vor drei Tagen fand ich dieses Stück Metall nachdem ich nachts von meiner Hütte aus ein Feuer am Himmel sah. Ich begab mich zu Fuß auf den Weg dorthin, wo das Feuer des Himmels die Erde berührte. Als ich nach vielen Stunden dort ankam, sah ich ein riesiges Loch in der Erde Leib. Alles an seinem Rand war verbrannt, und in der Mitte glühte es rot, wie die Sonne wenn sie im späten August untergeht. Ich näherte mich, soweit es die Hitze zuließ, und wartete ab. Nach einer Nacht und einem Tag konnte ich mich dem Zentrum nähern, und fand dies!“, damit zeigte er auf den Klumpen neben und hinter sich. „Ich wickelte es in meine Schürze weil es noch heiß war, weißt du, und nahm es mit mir. Ich machte mich auf den Rückweg. Nach einer Weile bekam ich wohl Fieber. Ich erinnere mich nicht mehr genau. Ich sah…“, er brach kurz ab. „Ich sah seltsame Bilder. Ich kann es nicht richtig beschreiben. Da waren Sterne, und alles um mich herum war schwarz. Und dann sah ich… Wesen, sie sprachen mit mir, aber ich verstand sie nicht. Ich glaube es waren Götter. Das nächste woran ich mich erinnern kann ist, wie mir jemand zu Trinken gab. Dafür danke ich dir mein Freund! Ich glaube der Klumpen vergiftete mich irgendwie, ich habe es die ganze Zeit über gespürt, wollte ihn aber nicht weglegen. Nun werde ich vorsichtiger sein. Ich werde ihn, auf den Weg in mein Heim, alle hundert Schritt hinlegen und mich ausruhen. Ich würde mich über deine Gesellschaft freuen, zumal ich dir noch angemessen danken muß. Bitte begleite mich und nimm meine Gastfreundschaft an. Übrigens, ich bin Mönch, und mein Name lautet Goro Nyudo Masamune. Wirst du mir die Gelegenheit geben meine Schuld zu begleichen?“. Imai wußte, das er diesen Wunsch nicht abschlagen konnte, obschon er nicht die geringste Lust verspürte den Mönch zu begleiten. Man darf einem Mann nicht das Recht verweigern seine Schulden zu begleichen. Kein wirklicher Samurai, selbst wenn er herrenlos war, würde das tun. Also verbeugte er sich kurz, und sagte: „Ich, Imai Noboru, fühle mich geehrt deine Gastfreundschaft annehmen zu dürfen“. Der Mönch lächelte, und sie machten sich auf den Weg.
Die Familienüberlieferung berichtete weiter, daß Imai ganze zwei Monate lang bei dem Mönch blieb in der er seine Gastfreundschaft genoß. Er versuchte es immer wieder ihn zu überzeugen, daß er seine Schuld schon längst abgegolten hatte. Der Mönch antwortete daraufhin jedesmal gleich: „Ein Leben ist mehr Wert als ein wenig Verköstigung und Unterkunft. Bitte gib mir noch ein wenig Zeit, damit ich dir angemessen danken kann.“.
Imai resignierte! Es gab keinen anderen ehrenvollen Ausweg aus dieser Situation als abzuwarten, und den Mönch bestimmen zu lassen wann die Schuld beglichen war. Er verbrachte die Tage mit langen Wanderungen in die nahen Dörfer und übte sich mit dem Schwert. Er konnte sich auch keinen neuen Lehnsherren suchen solange er bei dem Mönch blieb. Es war frustrierend! Der Mönch lebte in einer bescheidenen Hütte die neben einem winzigen Bach lag. Neben der Hütte lag eine kleine Schmiede die Imai jedoch nicht betreten durfte. Dort verbrachte der Mönch, zusammen mit einem jungen Gehilfen, den Imai kaum zu Gesicht bekam und der scheu war wie ein Reh, die meiste Zeit. Wochenlang hörte Imai das Hämmern des Schmiedehammers. „Wahrscheinlich versucht er mir einen Helm zu machen“, dachte Imai eines Tages verdrossen. „Hauptsache, er wird bald fertig damit. Wahrscheinlich braucht er so lange, weil er bis jetzt nur Ackergerät hergestellt hat, und nicht weiß, wie es geht“, er verdrehte die Augen und seufzte. Wenn es ein Helm war würde Imai ihn feierlich entgegennehmen, egal wie häßlich er sein würde, und sich dann endlich von dem Mönch verabschieden. Wenn er erst einmal weit genug entfernt war konnte er das Ding immer noch irgendwo entsorgen. Nach einem Monat hörte das Hämmern auf und wurde von etwas ersetzt, das Imai im ersten Moment nicht glauben wollte. Er hörte, wie Metall über einen Stein gezogen wurde. Wieder und wieder. Tagelang. „Er hat ein Schwert gemacht“, murmelte Imai ungläubig zu sich selbst. „Der arme Kerl hat sich wochenlang abgeplagt um mir ein Schwert zu schmieden das ich niemals benutzen werde“, er fühlte sich beklommen.
Nachdem ein und ein halber Monat vergangen waren, kam jemand, den Imai vorher noch nie gesehen hatte. Der Mönch überreichte ihm ein Bündel das der Fremde mit einer tiefen Verbeugung entgegennahm. Imai wunderte sich ein wenig über diese, in seinen Augen übertriebene, Respektsbezeugung. Der Mönch verschwand in seiner Hütte und der Fremde machte sich sogleich auf den Rückweg. „Oh nein, er will eine Montierung für das Schwert machen lassen. Das wird ihn nicht nur ruinieren, er wird sich auch noch lächerlich machen“, Imai fühlte sich fast schuldig, sagte sich aber sofort, daß der eigensinnige Mönch alt genug war um zu wissen was er tat. Immerhin hatte ihm Imai oft genug signalisiert daß er nicht mehr in seiner Schuld stand. Zwei weitere, endlos lange Wochen vergingen, als der Fremde am frühen Nachmittag wieder auftauchte. Imai wusch sich gerade am Bach und beobachtete die Szene, die sich ihm bot, mit ungläubigen Augen. Der Fremde kniete, ängstlich wie Imai zu erkennen glaubte, mit gesenktem Haupt und hochgereckten Armen ein Bündel haltend, vor dem Mönch. Er schaute nicht auf, auch nicht nachdem der Mönch ihm das Bündel aus den Händen genommen hatte. Der Mönch sagte etwas und lächelte dabei. Der Fremde schien sich ein wenig zu entspannen, nickte kurz und stand auf. Er folgte dem Mönch, den Blick immer noch auf den Boden geheftet, ins Haus. Nach einer Weile kam der Fremde, sichtliche Erleichterung ausstrahlend, aus dem Haus, und ging von dannen. Imai war völlig verwirrt!
Am Abend saßen Imai und der Mönch am Tisch und aßen. Imai blickte immer wieder verstohlen zu seinem Gastgeber und fragte sich, weshalb dieser plötzlich so einen völlig anderen Eindruck auf ihn machte. Es war, als sehe er ihn nun zum ersten Mal, und als wären die langen Wochen die er hier verbracht hatte nur ein Traum gewesen. Die Szene vor ein paar Stunden hatte ihn wirklich erschüttert. Dieser Mann strahlte etwas Ehrfurchtgebietendes aus. Weshalb hatte er es vorher nur nicht gemerkt? Er fühlte sich etwas unwohl.
„Mein Freund“, sprach der Mönch plötzlich. Imai hatte den Eindruck als würde sein Gegenüber innerlich über etwas lächeln, das nur er selbst verstand. Er fror plötzlich!
„Ich habe ein bescheidenes Geschenk für dich, das, wie ich hoffe, meinen Dank für dich annähernd auszudrücken vermag. Ich werde ewig in deiner Schuld stehen und nichts, was ich dir geben könnte, kann diese Schuld jemals begleichen. Deshalb hoffe ich inständig daß dir mein Geschenk gefällt, auf das ich dir, auf meine Weise, ein wenig von dem zurückgeben kann was du mir an jenem Tage geschenkt hast.“. Der Mönch erhob sich, verbeugte sich tief vor Imai und hielt ihm einen, in einem Seidenbeutel verstauten, länglichen Gegenstand hin, von dem Imai wußte, daß es sich um ein Schwert handelte. Imai fühlte sich benommen als er es entgegen, und anschließend aus dem Beutel nahm. Die gesamte Montierung war pechschwarz, schimmerte jedoch bläulich als er sie ins Licht hielt. Ein filigran gearbeitetes Kojirae aus Eisen, in Form eines Wasserdrachen, schützte das Ende der Scheide und wand sich, den Klauen und dem Schwanz des Drachen folgend, halb hinauf. Das Stichblatt, Fuchi und Kashira waren ebenfalls aus Eisen und von dem, anscheinend, gleichen Künstler gefertigt. Sie zeigten dasselbe Wasserdrachenmotiv. So eine wundervolle Arbeit hatte Imai noch nie zuvor gesehen. Das Tsuka-Ito war aus schwarzgefärbter Seide geknüpft und schimmerte, wie die Scheide und der Zierrat, leicht bläulich. Nur die Menukis waren anders. Sie stellten buddhistische Schriftzeichen dar deren Bedeutung Imai nicht kannte, und waren aus zwei blutroten, matten Steinen geschnitzt. Imai`s Mund stand offen und er blickte dem Mönch langsam in die Augen. Dieser nickte ihm, mit einem Lächeln im Gesicht, aufmunternd zu. Imai hatte das Gefühl zu träumen, so unreal kam ihm die Situation vor. Er löste die Klinge vorsichtig mit dem Daumen und zog sie, Zentimeter für Zentimeter, aus der Scheide. Hatte ihn die Montierung schon aus seinem inneren Gleichgewicht gebracht so besorgte die Klinge nun den Rest. Der Stahl schimmerte so blau als würde er von innen heraus leuchten. Er war vielfach gefaltet worden und ließ ein dichtes, makelloses Hada erkennen. Die Schneide war über die gesamte Länge perfekt gehärtet und schimmerte schneeweiß. Das Hamon war Suguha, eines der am schwierigsten Herzustellenden überhaupt, und mit Ashi durchsetzt. Die Boshi waren Ko-Maru in Vollendung. Imai fiel auf, daß er schon seit einer Weile nicht mehr geatmet hatte und holte tief Luft. „Das kann ich niemals annehmen“, seine Stimme zitterte. „Nun gut, wenn das so ist werde ich meine Hütte wohl etwas vergrößern müssen da ich auf Langzeitgäste eigentlich nicht vorbereitet bin. Im Winter kann es hier etwas kalt werden, aber in diesem Fall rücken wir einfach ein wenig mehr zusammen. Das wird fabelhaft, wir können uns Geschichten erzählen und ich werde für dich kochen.“, der Mönch lächelte. Imai seufzte, verbeugte sich tief und erwiderte das Lächeln. „Goro Nyudo Masamune, ich, Imai Noboru bedanke mich für dieses kostbare Geschenk. Mögen die Götter immer auf dich herablächeln.“, mit diesen Worten drehte er sich herum und wollte die Hütte verlassen, aber der Mönch hielt ihn noch einmal zurück. „Erinnerst du dich daran, wie ich von dem Metall krank wurde?“, Imai nickte kurz. „Nach dem Yakiire hörte es plötzlich auf. Ich weiß nicht weshalb, aber es ist so. Mögen die Götter auch immer auf dich herablächeln, Imai Noboru.“, und mit diesen Worten trennten sie sich endgültig. Imai hielt diese Begegnung auf Papier fest und gab sie, zusammen mit dem Schwert, an seinen einzigen Sohn weiter. Im Laufe der Jahrhunderte gingen diese Aufzeichnungen jedoch verloren, wurden aber mündlich überliefert. Der letzte Teil der Aufzeichnungen berichtete davon, wie Imai seine Erben davor warnte das Schwert irgend jemandem zu zeigen, aus Furcht darüber, daß ein Schwert wie dieses die Aufmerksamkeit und den Neid hochstehender Lehnsherren oder gar des Kaisers selbst erregen könnte, die dann versuchen würden es unrechtmäßig in ihren Besitz zu bringen. Goro Nyudo Masamune wurde noch zu Imai`s Lebzeiten eine Legende, das, und die Tatsache der Einzigartigkeit dieser Klinge machten diese Gefahr sehr groß. Bis zum heutigen Tage wurde die Existenz dieser Waffe von Imai`s Erben erfolgreich geheimgehalten, was, neben der bloßen Existenz dieser Klinge, an sich schon fast ein Wunder war. Imai selbst, und auch einige seiner Nachfahren, erprobten die Klinge jedoch im Geheimen. Sie machten Schnitttests in abgelegenen Bambuswäldchen und stellten dabei fest, daß die Schneide kaum stumpf wurde, auch setzte das Metall keinen Rost an.
„Sieh es dir genau an“, sprach Kajima. Hiro`s Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf seinen Vater. „Dieses Schwert wäre heute nicht hier, wenn unsere Vorväter ihre Ängste verleugnet hätten. Sie taten recht daran es all die Jahrhunderte über zu verstecken. Die Furcht hat sie die Situation, in der sie sich befanden, in einem objektiven Licht sehen lassen. Jeder von ihnen hat dieses Schwert mit Stolz tragen wollen, immerhin gehörte es rechtmäßig ihnen. Keiner von ihnen war jedoch so dumm zu glauben, daß man es ihnen nicht wegnehmen würde, sobald man wußte daß es existiert. Selbst Heute würde diese Gefahr noch bestehen, wenn das Alles nicht passiert wäre. Nicht unbedingt von seiten der Regierung, das glaube ich nicht. Sie hätten zwar gebeten und gebettelt um es in das Tokyo Museum stellen zu können, hätten es sich aber nicht einfach genommen. Allerdings gab, und gibt es vielleicht immer noch, genügend private Interessenten, und einige davon sind sehr mächtig und skrupellos. Wir wären in ständiger Gefahr wenn man von dem Schwert wüßte. Aus diesem Grunde höre auch ich, genau wie meine Vorväter, auf die warnende Stimme in mir und verleugne sie nicht aus falschem Stolz heraus. Hiro nickte. Auch er würde, falls er überlebte und sein Vater ihm das Schwert eines Tages übergeben würde an dieser Tradition festhalten, schwor er sich. Er war froh, daß sein Vater so dachte und daß er seine Furcht nicht vor ihm zu verbergen brauchte. Diese Tatsache allein ließ Hiro sich entspannen und seine Ängste für den Moment vergessen. „Eines ist mir aber bis heute nicht ganz klar Vater. Wie kommt es, das Imai`s Nachnahme Naboru und nicht Yagoro lautete wenn er unser Vorfahr war?“. Kajima antwortete: „Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß einer von Imai`s Nachkommen irgendwann einmal von einem Yagoro adoptiert worden sein muß und dessen Namen angenommen hat. Die Frage ist dann nur, ob wir selbst dann Imai`s oder die Nachfahren der Adoptiveltern sind. Wenn man ihm das Schwert nicht wegnahm, dann sind wir Imai`s Nachfahren; im anderen Fall…! Na ja, ich hoffe es nicht, es wäre ehrlos. Anders kann ich es mir jedenfalls auch nicht erklären.“. Kajima stand auf. „Komm Junge, laß uns rübergehen und schauen ob wir Mutter und Großvater behilflich sein können. Sie sind schon so lange dort, und Mutter sollte sich eigentlich ausruhen, auch wenn die Wunde nur oberflächlich scheint. Großvater ist auch nicht mehr der Jüngste.“. Hiro erhob sich ebenfalls, als der Raum mit einemmal leicht zu Vibrieren anfing. Er blickte zu seinem Vater. Das Vibrieren wurde stärker. Kajima hielt sich am Tisch fest, die auf dem Tisch verstreuten Sachen fingen an zu Tanzen und Hiro suchte mit seinen Händen irgendwo nach Halt. Aus dem Vibrieren wurde ein Rütteln, die Gegenstände sprangen vom Tisch. Hiro hatte inzwischen, wie sein Vater, die Tischkante umklammert und versuchte gerade um diese herum zu Kajima zu gelangen, als er sah, wie dieser plötzlich wie von einer Urgewalt weggerissen wurde, und mehrere Meter weit entfernt gegen die Betonwand schlug. Dann erst hörte er den ohrenbetäubenden Krach und das Bersten von Metall und Stein. Kurz bevor er selbst mit dem Kopf gegen die Wand prallte, und das Bewußtsein verlor, wurde ihm seltsamerweise jedoch noch klar, daß all dies im Grunde gleichzeitig geschah und nicht nacheinander, wie ihm sein Gehirn weiszumachen versuchte. Der einzige Unterschied bestand halt darin, daß sein Vater näher an der Wand gestanden hatte als er selbst.


Kapitel 4


18.Januar 2013
Erde, Sapporo, Nordjapan

Wassertropfen klatschten auf sein Gesicht, in stetiger Regelmäßigkeit. Der Wind heulte, leise, wie in weiter Ferne. Langsam schlug Hiro die Augen auf, zumindest versuchte er es. Etwas verklebte seine Augenlider. Sein Kopf schmerzte höllisch. Er rieb sich mit der Hand das verkrustete Zeug vom Gesicht, von dem er nicht wußte daß es Blut war. Über sich sah er einen dünnen, schwachen Lichtstreifen, durchsetzt mit kleinen flackernden Pünktchen, ansonsten war es finster. Von dort kamen auch die Wassertropfen. Verwirrt versuchte er sich aufzurichten. Ein stechender Schmerz peitschte durch seinen Rücken und er sank stöhnend zurück. Was war passiert? Er versuchte sich zu erinnern, aber da war nichts. Er fror und fühlte sich elend. Wie kam er hierher? Was war dies für ein Ort? Wieder die Tropfen, er versuchte sein Gesicht zur Seite zu drehen, und es gelang ihm den Tropfen zu entkommen. Sie klatschten nun dicht neben seinem Ohr auf den kalten Beton. Patsch, patsch, patsch… Die Monotonie ließ ihn müde werden und er schloß die Augen. Nach einer Weile schlief er, trotz Schmerzen und Kälte, wieder ein.
„Er lief und lief, der Tunnel schien kein Ende nehmen zu wollen. Alles war dunkel, nur vor ihm, weit, weit weg schien ein winziges Licht. Von dort kamen auch die Stimmen die ihn riefen. Er wußte nicht was sie sagten, aber er wußte daß er zu ihnen wollte, nur hin zum Licht und den Stimmen, raus aus der Dunkelheit und der Enge des Tunnels. Er fühlte keine Angst, keine Freude. Es gab nur diesen Drang zu dem Licht zu gelangen. Obwohl es an diesem Ort keine Zeit gab kam das Licht langsam näher, wurde größer. Die Stimmen wurden klarer und er fing an, einzelne Worte zu verstehen. „…zurück. Komm…näher, geh…mein Sohn.“, er lief weiter und weiter. Das Licht war nicht mehr so fern, er konnte feine Umrisse in seinem Zentrum erkennen. Jemand schien dort auf ihn zu warten. Er rannte weiter, die Umrisse wurden deutlicher und er erkannte daß es sich um zwei handelte. Er konnte die Stimmen nun klar verstehen. „Geh zurück. Komm nicht näher, geh wieder zurück mein Sohn. Bitte geh, du solltest nicht hier sein, noch nicht.“. Er verstand die Worte nicht, aber er erkannte nun die Wesen die zu ihm sprachen. Dort stand seine Mutter, sie schaute ihn an und lächelte. Neben ihr stand sein Großvater, auch er lächelte. Eine überwältigende Flut von Liebe durchströmte ihn. Ein nie gekannter Frieden durchdrang jede einzelne Faser seines Seins, dann…“
Schmerzen!
Hiro war schlagartig wach und krümmte sich auf dem eiskalten Boden. Der Stich durch seinen Rücken war nur kurz aber von enormer Intensität. Tränen schossen ihm in die Augen. Er atmete stoßweise, Stück für Stück ließ die Pein nach und er stöhnte. Er versuchte tief zu atmen, und langsam gelang es ihm, sich zu beruhigen. Er wußte wieder wo er war und was passiert ist. Er erinnerte sich auch an diesen Traum; war es wirklich nur ein Traum? Es war so real, eigentlich realer als alles was er kannte. Er hatte Mutter und Großvater gesehen, was hatte das zu bedeuten? Sie schienen glücklich gewesen zu sein, so wie er für einen kurzen Augenblick eine nie gekannte Freude und einen allumfassenden Frieden erfahren hatte. Er wünschte, er hätte bei ihnen bleiben können. Er sah sie wieder vor seinem geistigen Auge, eingetaucht in dieses wundervolle, helle Licht in das er schauen konnte ohne daß es ihn blendete. Gerade als sich das Bild vor seinem Geiste weiter verfestigte wurde er abgelenkt. Er hatte etwas gehört, irgendwo ein Stück weit vor sich. Er entspannte sich und lauschte in die Dunkelheit. Nach einer Weile hörte er es wieder, es klang als wenn jemand flach atmete und leise stöhnte. Hiro krächzte in das Dunkel: „Vater?“. Er lauschte angestrengt. Das Tropfen hatte aufgehört, wie er nebenbei registrierte. Da war es wieder! Ein leises Stöhnen. Er rief noch einmal, dieses Mal etwas lauter: „ Vater? Bist du das? Mutter?“. Nun konnte er es deutlich hören. Jemand sog ein paar Mal tief Luft ein und flüsterte dann: „Junge?“. Hiro fühlte eine ungeheure Erleichterung. Sein Vater lebte! „Ich bin hier drüben Vater, ich kann mich nicht bewegen“. Keine Antwort. Nur das leise Geräusch von schwachem Atmen. Hiro versuchte es wieder und wieder aber es kam nichts mehr. Nur das Atmen blieb, und es wurde immer leiser.
Irgendwann schlief er wieder ein; dieses Mal träumte er nicht.
Die Kälte weckte ihn. Er zitterte am ganzen Leib, seine Stirn brannte und er hatte hohes Fieber. Er wußte wieder nicht wo er war. Manchmal, da glaubte er zu Hause zu sein, bei seinen Freunden oder in der Schule. Ein anderes Mal war er mit Vater und Mutter am Berg Fuji; sie hatten ihm ein Eis gekauft und er wollte danach noch eines. Sie blieben jedoch unnachgiebig. Da hatte er dann einen Trotzanfall bekommen, sich auf den Boden geschmissen und wie am Spieß geschrieen. Selten hatte er für kurze Zeit klare Momente in denen er sich wieder an alles erinnern konnte. Dann rief er wieder nach Vater und lauschte. Er vernahm jedoch nichts; nicht einmal mehr das Geräusch von schwachem Atmen. In diesen Momenten stiegen ihm die Tränen in die Augen und er weinte. Irgendwann hatte er nicht einmal mehr die Kraft dazu und er fiel wieder in das Delirium. Bilder, Geräusche, Schmerzen!
Er war wieder wach. Er spürte, daß es das letzte Mal sein würde. Er wußte, daß er starb. Es war ungeheuer schwer zu Atmen; kostete so viel Mühe. Er dachte an alle die er liebte und erinnerte sich an seinen, Traum? Bald würde er wieder mit ihnen vereint sein. Plötzlich war er ganz ruhig, keine Verzweiflung mehr, keine Tränen und keine Schmerzen. Seine Augen blickten nach oben. Da! Da war es wieder, das Licht! Es schien auf ihn herab und rief ihn zu sich. Er lächelte: „Ich komme Großvater, Mutter. Wartet auf mich, ich bin gleich bei euch. Wartet, geht nicht weg“. Er sah sie. Sie kamen zu ihm herab. Es waren zwei und sie kamen näher, immer näher. Hiro sah genauer hin und Erstaunen schob seine freudige Erwartung langsam beiseite. Das war nicht Großvater und auch nicht Mutter. Sie waren ganz anders, größer, viel größer und sie sahen fremdartig aus. Waren das Engel? Seine Kräfte ließen nun endgültig nach. Alles verblaßte plötzlich und es wurde dunkel!

Da war ein sanftes Leuchten und eine süße Musik streichelte alle seine Sinne. Wie lange er es schon wahrnahm wußte er nicht, wie ihm erstaunt klar wurde. Der Übergang war so fließend, so übergangslos; wie Wasser dessen Wirbel miteinander verwoben waren, ohne Anfang, ohne Ende. Er fühlte sich so wohl wie noch niemals zuvor in seinem Leben. Er war reines Fühlen, keine Gedanken die ihn störten, kein Zeitgefühl; alles war Jetzt. Hiro ließ sich treiben, wie ein Baby im Mutterleib. „Baby im Mutterleib, im Mutterleib, im…Mutter?“, ein erster Gedanke tauchte plötzlich auf und weitere folgten. „Vater, Schmerz, Tropfen tropfen, Patsch, patsch…“. Sie drangen in sein Bewußtsein, störten ihn jedoch nicht weiter. Es war, als seien seine Gedanken etwas was nicht wirklich zu ihm gehörte, nicht Teil seines Seins sondern schlicht Informationen waren, die er separat empfing. Sie hatten so gut wie keinerlei Auswirkung auf seine Gefühle, lösten höchstens eine schwache Neugierde aus. Er ließ sich weiter treiben.
Er vernahm Worte in einer ihm unbekannten Sprache. Ein fremdartiges Gesicht tauchte dicht vor ihm auf und sah ihn an. Augen die direkt in seine blickten. Sie wurden immer größer und größer; er fiel in sie hinein. Aus zwei Teichen wurde einer. Er tauchte und löste sich langsam auf. Alles war Eins und er war alles, gleichzeitig aber auch nur der winzigste Teil davon.
Myriaden von zeitlosen Äonen vergingen, während er langsam wieder Er wurde. Schicht für Schicht, wie bei einer Zwiebel und im Zentrum beginnend, löste seine Matrix sich aus der Einheit und fügte sich wieder zusammen. Zuerst kam Fühlen, dann Erkenntnis. Stück für Stück kehrte alles wieder. Was er war, wer er war und schließlich alle seine Erinnerungen von der Stunde seiner Geburt an. Dann schlug er die Augen auf!
Hiro blickte um sich. Er lag auf einer Art Liege, über ihm eine formlose Decke die ohne, daß eine Lichtquelle erkennbar war, sanftes Licht abstrahlte. Er drehte seinen Kopf ein wenig und erblickte seinen Vater, der wenige Meter neben ihm lag und ruhig atmete. Seine Augen waren geschlossen, seine Gesichtszüge entspannt. Hiro selbst fühlte sich ebenfalls entspannt, sehr entspannt. Er hob seinen rechten Arm, keine Schmerzen; nicht einmal ansatzweise. Im Gegenteil, sein Arm schien fast nichts zu wiegen und seine Muskulatur war geschmeidig wie die einer Raubkatze. Er richtete sich vorsichtig auf. Sein Körper fühlte sich an wie neu; voller Kraft und Sensibilität. Auch sein Geist war unglaublich klar und zentriert. Hiro fühlte sich unendlich wohl. Eine zarte Verwunderung überkam ihn ob diesen Ortes und seiner Verfassung. Wo war er? Was war passiert?
Neugierig verließ er die Liege und ging hinüber zu seinem Vater, der immer noch ruhig atmend dalag. Seine Wangen hatten eine gesunde, rosige Farbe, und er strahlte völlige Entspanntheit aus. Hiro berührte und streichelte ihn sanft über sein Gesicht. Seine Haut war warm und ganz weich, voller Leben. Nach einer Weile, als er sich überzeugt hatte daß es seinem Vater nicht besser gehen könnte, wandte Hiro sich wieder seiner Umgebung zu. Er stand in einem ovalen Raum von undefinierbarer Farbe. Er schien weiß aber auch transparent zu sein und pulsierte, kaum sichtbar, in allen möglichen Schattierungen. Es war hell, sehr hell sogar; gleichzeitig aber weich und unglaublich angenehm. Fast wie in seinem Traum an den er sich klar erinnern konnte. Dennoch gab es offensichtliche Unterschiede. Der Raum war groß, er schätzte vielleicht sechs mal sechs Meter. Der Übergang zwischen Wand, Decke und Boden war kaum zu erkennen, so daß fast der Eindruck Entstand sich in einem Ei zu befinden. Die einzigen Gegenstände, die sich in diesem „Ei“ befanden, waren vier große Liegen die etwa einen halben Meter über dem Boden schwebten, und sich exakt glichen. Hiro konnte keinerlei Befestigungspunkte erkennen. Die Liegen schienen wirklich zu schweben. Er machte eine Probe indem er einen Arm unter der Liege seines Vaters hindurch steckte und, wie die Zauberer in den Shows, ihn darunter von einem Ende zum anderen hin und her führte. Dabei mußte er einige Schritte gehen, da die Liegen sehr lang waren. Er stieß auf keinen Widerstand. Die Liegen selbst schienen, im Gegensatz zum Rest des Raumes, irgendwie nicht wirklich. Sie hatten zwar Substanz und fühlten sich fest an, Hiro konnte sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, ein Phantom berührt zu haben. An was für einem merkwürdigen Ort befand er sich? Im nächsten Moment hörte er etwas und blickte auf.
Vor ihm schienen sich, aus dem Nichts heraus, dunkle Linien in der Wand zu bilden. Ein längliches Quadrat entstand und von einem Moment zum anderen erschien an der Stelle ein riesenhafter Umriß. Er empfand keine Furcht; ein Teil seines Verstandes wunderte sich darüber, trotzdem blieb er völlig ruhig.
Eine Stimme sprach: „Wie fühlst du dich?“. Hiro erkannte nun Einzelheiten. Vor ihm, nur wenige Meter entfernt, stand ein fremdartiger Riese. Er sah aus wie ein Mensch, jedoch nur oberflächlich betrachtet. Außer seiner enormen Größe, Hiro schätzte sie auf fast drei Meter, gab es noch weitere Unterschiede. Die augenscheinlichsten betrafen das Gesicht. Es war fast menschlich, jedoch in einer Art und Weise, als hätte die Evolution wesentlich mehr Zeit zur Verfügung gehabt es zu formen, und als sei sie dabei in ihrer schöpferischsten Phase gewesen. Das galt auch für den Rest des Wesens. Beine, Arme und Torso entsprachen dem Ideal griechischer Statuen. Es sah fast aus wie ein Gott des Olymps, bis auf einige kleine Unterschiede. Der Riese war schlicht schöner, die Züge, Linien, Schwünge feiner. Fast feminin, obwohl Hiro sicher war, ein männliches Wesen vor sich zu haben. Der Hauptunterschied bestand jedoch in etwas das Hiro nicht klar benennen konnte. Obwohl dieses Wesen so menschenähnlich, ja sogar menschenverwandt schien, löste es in Hiro ein Gefühl von völliger Fremdartigkeit aus. Es hing irgendwie mit seiner Ausstrahlung, mit seinem feinen Minenspiel, seinen flüssigen Bewegungen und anderen, weit subtileren Dingen zusammen, die Hiro nur unbewußt zu Fassen in der Lage war.
Er sammelte sich und sprach: „Wer, was bist du?“. Das Wesen ging federnd in die Knie um dadurch, wie Hiro schien, weniger bedrohlich zu wirken. „ Mein Name ist“, es räusperte sich etwas und fing noch einmal an: „In eure Sprache übersetzt bedeutet mein Name soviel wie Erneuerer“, jedenfalls ist das die präziseste Übersetzung. „Um deine zweite Frage zu beantworten, ich bin ein Annunaki, jedenfalls wurden wir hier in früherer Zeit so genannt.“, sein Blick fixierte Hiro`s. Hiro begegnete seinem Blick mit undeutbarem Gesichtsausdruck und antwortete: „Ich habe von euch gehört, nein, eigentlich nur gelesen um ehrlich zu sein. In den letzten zwei Jahren, nachdem alle den Riesenplaneten mit bloßem Auge sehen konnten, habe ich angefangen im Web nachzuforschen, genau wie meine Freunde. Es war voll von Geschichten über eine außerirdische Rasse, die man Annunaki nannte, und die mit diesem Himmelskörper in Verbindung gebracht wurden. Wir stellten fest, daß viele dieser Informationen schon seit Anfang der neunziger Jahre im Web zur Verfügung standen. Nur hat sie damals kaum einer wirklich ernst genommen. Wenn es stimmt, was ich dort gelesen habe, dann habt Ihr uns erschaffen? Vor langer, langer Zeit?“. Der Riese sprach: „Leider ja, wir haben damals, in unserer Naivität, einen kaum wieder gut zu machenden Fehler begangen. Du scheinst über die damaligen Begebenheiten gut Bescheid zu wissen. Das ist für uns beide von Vorteil. Wir haben die Informationen in eurem Web überprüft, und sie stimmen im Wesentlichen mit der Wahrheit überein, wenngleich vieles davon auch Hirngespinste von euch sind.“. Hiro sah ihn lange, lange Zeit an und fragte dann: „Weshalb fühle ich mich so? Ich müßte eigentlich Angst haben, oder zumindest auf der Hut sein, aber ich fühle nichts dergleichen.“. Der, der sich Erneuerer nannte antwortete: „Du befindest dich momentan in einem Raum, den ihr Krankenzimmer nennen würdet. Allerdings bestehen, außer der Idee zu Heilen, keine weiteren Gemeinsamkeiten zwischen diesem Raum und einem eurer Krankenzimmer. Du fühlst dich so, wie du dich gerade fühlst, weil du zentriert wurdest. Das bedeutet in etwa, das alles was dich als Wesen ausmacht, ins Gleichgewicht gebracht wurde. Um es einfach zu erklären, dein Körper und dein Geist wurden in ihren perfekten Urzustand zurückgeführt, natürlich nicht im evolutionären Sinne, sondern im Hier und Jetzt. Deshalb hat deine fragende Ratio so wenig Einfluß auf deine Emotionen und vermag sie kaum zu beeinflussen.“. Hiro fühlte eine kaum wahrnehmbare Verwirrung. Der Riese sprach weiter: „Dieser Zustand hält, zumindest bei Menschen, einige Stunden an und verflüchtigt sich dann langsam. Der verstärkt bipolare Seinszustand, in dem ihr euch in eurer gegenwärtigen evolutionellen Entwicklung befindet, kehrt anschließend zurück. Dann kann es auch wieder zu emotionalen Verwirrungen wie Angst, Aggression und anderen kommen. Das ist von Lebewesen zu Lebewesen jedoch verschieden und hängt mit seinem Gesamtgesundheitszustand zusammen. Bei dir mache ich mir jedenfalls keine großen Sorgen, unsere Messungen haben ergeben daß du einen hohen `Lebenskraftindex` besitzt, um es in eurer Sprache zu formulieren. Das bedeutet, vereinfacht gesprochen, daß du voller konstruktiver Lebensenergie bist und bisher nur kaum, und wenn, dann mit daraus folgenden, positiven Resultaten, traumatisiert wurdest. Das heißt in etwa, daß du, wenn du etwas Schmerzhaftes erlebt hattest, daran gewachsen bist, und den Schmerz nicht eingekapselt hast, wie es die meisten Menschen aufgrund ihres genetischen Defizits tun, an dem wir letztendlich die Schuld tragen. Faszination keimte in Hiro und er fragte: „Wie habt ihr das gemacht, ich meine, mich zentriert wie du sagst?“. Der Erneuerer sprach: „Was eure Wissenschaft gerade erst anfängt zu erkennen ist bei uns schon zehntausende von Jahren alt. Bis jetzt war eure Hauptprämisse `bekämpfe die Krankheit` und nicht `Unterstütze die Heilung`, jedenfalls in den meisten eurer Staaten. Darin liegt schon ein Widerspruch in sich, der automatisch jede daraus folgende Maßnahme von vorne herein erfolglos machte. Ihr habt fast immer die Symptome bekämpft und nicht versucht die Ursache zu finden. Habt ihr, so selten das auch vorkam, die Wurzel der Krankheit entdeckt, dann habt ihr sie mit Stumpf und Stiel herausgerissen, anstatt zu Versuchen sie zu Heilen. Das brachte manchmal eine vorübergehende Linderung und eine Verlängerung der Lebenserwartung der betreffenden Person, jedoch keine wirkliche Heilung im Sinne wie wir sie verstehen. Eine echte Heilung eines aus dem Gleichgewicht geratenen Lebewesens gelingt nur dann, wenn man den erkrankten Bereich in seinem Gesamtkontext behandelt. Am einfachsten geht das, indem man das ganze Wesen in seinen perfekten Urzustand zurückführt. Dort kann er, auf allen Ebenen, genesen.“.
„Und wie macht ihr so etwas?“, folgte schlagartig Hiro`s Frage. „Nun, wir verwenden Musik, bzw. etwas, was dem Begriff Musik bei euch am nächsten kommt. Im Grunde handelt es sich um eine Art Energiestrom völliger Harmonie, der den Betreffenden durchdringt. Bei den Betreffenden handelt es sich um, wie auch immer erkrankte Personen, die dringend der Hilfe benötigen. Zumeist sind es Annunaki die einen Unfall hatten und physische Schäden erlitten; selten welche mit psychischen Problemen, wobei es im Grunde genommen keinen Unterschied zwischen Materie und Geist gibt. Es handelt sich, einfach gesagt, nur um zwei verschiedene Aggregatszustände desselben `Urstoffes`. So ähnlich wie bei Eis und Dampf. Beides besteht aus Wasser, hat aber völlig andere Eigenschaften. Das feste Eis kann man analog für den physischen Körper sehen, den Dampf für den subtilen, nicht greifbaren Geist. Was ihr Seele nennt, wäre in diesem Beispiel der sogenannte Plasmazustand. Der höchste Aggregatszustand, in dem sich Moleküle und Atome auflösen und zu reiner Energie werden, natürlich nur vereinfacht gesprochen. Aber ich schweife ab, eine meiner vielen Schwächen“, der Riese schaute fast etwas verlegen drein und sprach dann weiter: „Wir legen die hilfebedürftige Person, genau so wie in diesem Raum, auf eine Art Energiefeldbett. Bei den Liegen handelt es sich im Grunde um in Form gezwungene, hochgradig verdichtete Töne in Frequenzbereichen von zwanzig Kilohertz und mehr. Ein komplexes System aus Harmonien die universeller Natur sind, und bei jeder lebenden Materie dieselben Auswirkungen hat, durchdringt denjenigen dann, und richtet die aus der Form gebrachten Muster wieder in ihren Urzustand. Stell dir die Haare auf deinem Kopf vor. Sie haben alle eine natürliche Wuchsrichtung und bestimmte Verwirbelungen. Wenn du am Morgen aufstehst sind sie meist komplett durcheinander. Um den Urzustand herzustellen bedienst du dich dann eines Kammes. Der Kamm ist dabei analog dem Energiefeldbett zu sehen. Allerdings ist das ein sehr vereinfachter Vergleich, macht aber vielleicht klar, was ich ungefähr meine.“, Hiro nickte. Der Annunaki fuhr fort: „Die Liegen sind so stark verdichtet das sie sich wie feste Materie anfühlen. Deshalb tragen sie auch fast jedes Gewicht. Allerdings ist normale Materie natürlich weitaus dichter.“. Hiro schaute unbewußt zu seinem Vater hinüber, der immer noch wie Schlafend dalag. Der Annunaki stellte fest: „Du liebst deinen Vater sehr, nicht wahr. Er muß vieles bei dir richtig gemacht haben.“, Hiro wunderte sich nicht darüber das der Annunaki über ihr Verwandtschaftsverhältniss Bescheid wußte. Diese Wesen schienen alles zu Vermögen, so wie Götter, für die man sie in früheren Zeitaltern ja auch gehalten hatte. „Wann wacht er auf?“, Hiro fühlte mittlerweile doch eine leichte Besorgnis, der Effekt der Zentrierung schien langsam nachzulassen. Der Annunaki antwortete nicht direkt: „Als wir euch fanden war dein Vater bereits mehrere Stunden tot. Seine Muster waren in Auflösung begriffen, wie ein Stück Eis das im Meer schmilzt und nur noch anhand der Schlieren zu erkennen ist. Seine `Schlieren` waren schon weit verteilt und hatten bereits fast die `Umgebungstemperatur` angenommen, dann wäre es für ihn zu spät gewesen. Er hätte nicht mehr gerettet werden können. So lange noch Muster vorhanden sind, egal wie schwach, kann man sie wieder verstärken. Haben sie sich erst einmal aufgelöst, sind sie von der Quelle alles Seins nicht mehr zu unterscheiden. Damit will ich sagen, daß der Aufbauprozeß aufgrund der Schwere der Schäden noch einige Stunden andauern wird. Was das Erlebnis seines Todes betrifft, wird das Auswirkungen auf ihn zeitigen. Welcher Art, und wie schwer diese sein werden, kann man aber nicht voraussehen. Das kommt immer auf die Persönlichkeit Desjenigen an.“. Hiro schwirrte der Kopf. Der Zentrierungseffekt ließ allmählich nach und ein Berg von Gefühlen wuchs langsam in ihm heran. Noch handelte es sich dabei nur um eine vage Besorgnis aber er spürte bereits die Tendenz zu einer handfesten Angst. Als wäre dies ein Auslöser gewesen, blitzten urplötzlich die Bilder von seiner Mutter und seinem Großvater vor seinem geistigen Auge auf und er fragte nach ihnen. Ein Schatten huschte über das Gesicht des riesigen Annunaki als er antwortete: „Sie sind beide tot. Es tut mir sehr leid. Es war zu spät für Hilfsmaßnahmen.“, Hiros Augen füllten sich mit Tränen, Schmerz kam, langsam aber sicher. Der Riese sprach weiter: „Der Bunker in dem ihr euch versteckt hattet wurde durch ein starkes Beben aus dem Boden gepreßt, dabei stürzte die eine Hälfte, in der sich deine Mutter und dein Großvater aufgehalten hatten, in sich zusammen. Sie müssen sofort tot gewesen sein. Die Hälfte in der ihr euch befunden hattet blieb glücklicherweise unversehrt. Wir fanden euch, und brachten euch in unser Schiff. Du hattest einen angebrochenen Wirbel, mehrere Knochenbrüche und einen offenen Schädelbruch. Du warst, wie dein Vater, tödlich verwundet.“. Der Riese schwieg nun und schaute Hiro mitfühlend an; er schien auf etwas zu warten. Dann passierte es. Hiro fing leise und abgehackt an zu schluchzen; die Tränen schossen ihm plötzlich mit aller Macht in die Augen und er fing hemmungslos an zu weinen. Er bemerkte nicht mehr wie er zu dem wartenden Riesen taumelte, der ihn tröstend in seine Arme schloß.

Kapitel 5


19.Januar 2013
Erde, F-Klasse Transporter

Die `Tür` zu seinem `Quartier` öffnete sich. Hiro fand diesen Anblick immer noch faszinierend. Die Wand machte einen absolut massiven Eindruck, trotzdem sah man nicht einmal den Hauch einer Unregelmäßigkeit, bevor die Linien auftauchten. Es schien, als würde sich die Öffnung aus dem Nichts herauskristallisieren. Der Raum in dem man ihn untergebracht hatte unterschied sich von dem `Krankenzimmer`. Wände, Decke und Boden bestanden zwar aus dem gleichen `Material`, waren jedoch in einem tiefen Blau gehalten. Trotz des dunklen Blautones war es angenehm hell. Die Lichtquelle selbst war jedoch nicht auszumachen. Auch Schnitt und Größe unterschieden sich. Dieser Raum war kreisrund und etwas kleiner. Es gab auch eine andere `Inneneinrichtung`, falls man das so nennen konnte. Hiro saß auf einer Art Bank, die im Grunde nur eine Ausstülpung der Wand war, und den halben Raum umspannte. Bank und Wand bildeten eine Einheit. Vor ihm wuchs ein kleiner, runder Tisch aus dem Boden. Alles bestand aus demselben `Stoff`. Die Bank war angenehm weich und gefedert. Sie schien sich, wie ein lebendes Wesen, jede seiner Bewegungen anzupassen. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß alles irgendwie perfekt auf seine Körpergröße abgestimmt war. Breite und Höhe der Bank sowie die Höhe des Tisches und sein Abstand zu ihm waren so angelegt, daß er bequem die auf dem Tisch befindlichen Speisen und Getränke erreichen konnte, ohne sich anzustrengen. Die Bank gab ihm das Gefühl wie auf einer Wolke zu sitzen. Nicht einmal ihr altes Wasserbett, das im Schlafzimmer seiner Eltern gestanden hatte, reichte an Bequemlichkeit daran heran. Die Raumtemperatur war ebenfalls perfekt auf seine Bedürfnisse abgestimmt. Er nahm sich noch eines dieser köstlich schmeckenden, vielfarbigen und in Schneckenform gestalteten `Dinger` vom Tisch, und schob es sich genüßlich in den Mund. Sie schmeckten in etwa wie Fischrogen, jedoch noch besser und waren auch nicht so salzig wie diese.
„Schmeckt es dir?“, der, welcher sich Erneuerer nannte betrat den Raum. Hiro nickte eifrig mit vollem Mund und kaute hastig, um antworten zu können. „Pfielen Dank!“, er schluckte schnell den Rest hinunter und fuhr fort: „Entschuldige, meine Manieren. Es ist köstlich; besser als alles was ich bisher gegessen habe. Woraus besteht es?“. Der Annunaki sah amüsiert aus als er antwortete: „Es ist synthetisch hergestellt, jedoch absolut naturidentisch und besteht größtenteils aus hochwertigen Proteinen verschiedener Art, aber auch aus Spurenelementen, Mineralien und Vitaminen.“. Der amüsierte Ausdruck in seinem Gesicht wich langsam einem ernsten als er fortfuhr: „Dein Vater ist jetzt wach und möchte dich gerne sehen. Begleitest du mich?“. Hiro stand sprungartig auf und folgte ihm hinaus in den Flur.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.09.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /