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Kalt


Die Äste und die Zweige der Bäume ließen sich stark im Takt des kalten Windes wiegen. Die Straßen und Felder waren mit einer unberührten und dicken Schicht von weißen Schneekristallen bedeckt. Der Mond versteckte sich hinter den Wolken. Weit und breit war weder ein Haus noch ein Mensch zu entdecken. Aber dort, dort konnte man Spuren im Licht der Straßenlaterne entziffern. Klein und kurz aufeinander folgend, wie von einem kleinen Kind. Sah es nur so aus oder war es wirklich so? In der nähe der Spuren war der Schnee viel höher. Mindestens einen Handbreit.


Joana wachte schlagartig auf. „Was ist denn hier los“, nuschelte sie. Sie fror unglaublich. Sie schaute aus dem Fenster und konnte aber nichts sehen, die Scheibe war zu beschlagen. Mit zitternden Händen wischte sie das Glas sauber und sah trotz Dunkelheit, dass alles zugeschneit war und immer noch große Mengen von Flocken herabfielen. „Joana, Mensch ist das kalt“ sagte Luca ihr, 6 Jahre jüngerer Bruder in dem Bett unter ihr. „Bist du auch wach? Sie mal nach draußen, “ und sie wischte die Scheibe noch einmal blank. „Das muss ja schon lange schneien“, sage er erstaunt und Joana nickte. Der Schnee war etwa einen Meter hoch. Sie ging zu ihrem Kleiderschrank. „Schnell, ziehen wir uns dicke Pullover an. Sonst erfrieren wir noch. Und drehe die Heizung auf 5.“ Sie holt die Pullover aus dem Schrank und zog sich ihren über ihren zerzausten Kopf und gab den anderen Luca. Die Tür öffnete sich. „Na, ihr.“ Ihr großer Bruder kam rein. „Jukka, wie kann es noch im April so viel Schneien“, fragte Joana ihn. „Ich weis echt nicht. Ich habe eben versucht das Radio einzuschalten. Aber falls ihr es schon bemerkt habt. Wir haben keinen Strom.“ Zum Beweis drückte er auf den Lichtschalter. Doch die Deckenlampe blieb aus. Joana unterdrückte ein Gähnen. „Na gut, lasst uns versuchen zu schlafen.“ Und sie ging zur Leiter vom um in ihr etwas wärmeres Bett zu kriechen. „Sind Mama und Papa noch nicht zurück von der Oper“, fragte Luca. Jukka schüttelte den Kopf. „Hoffen wir sie sind nicht in einer Schneewehe mit dem Auto stecken geblieben.“ „Nein Luca, sie kommen bestimmt erst Morgen. Es muss nach der Vorstellung schon sehr viel gelegen haben. Sie sind bestimmt zu Tante Emmi gefahren. Die wohnt doch ganz in der nähe, “ sagte Joana mit einem beruhigenden Ton, zu ihrem kleinen Bruder. „Los schlafen wir. Es ist schon 3. Uhr.“


Morgen


Das Kind lief mit nackten Füßen und einem eisblauen langem Gewand durch den Schnee. Ein kleines Mädchen. Neben ihr her lief ein kleiner Polarfuchs. Ihr Haar war lang und hellblond. Es war vom Wind, der von ihr zu kommen schien, ganz zerzaust. Ihre strubblige Mähne peitschte nur so mit dem Wind und dem Schnee. Es sah so aus als käme der Schnee aus ihren Haaren.
Sie war in einem kleinem abgelegenen Dorf nahe der Deutschen Nordseeküste. Die Häuser waren alle im Fachwerkstiel gebaut und sahen schon recht solide aus. Wie sie so durch die Häuser strich, gingen die Lichter in den Häusern ein nach dem anderen aus. Dann kam sie an ein sehr großes Haus. Man sah sofort das hier eine Familie wohnen musste. Das Terrassenfenster war mit bunt gebastelten Bilder geschmückt.



Am nächsten Morgen wachte Joana ganz verschlafen auf. Ihr war noch kälter. Es waren Ferien. Keine Schule. Sie hatte merkwürdige Sachen geträumt. Von einem düsteren Schloss mit ganz vielen Türmen aus Schnee und Eis. Die Türme waren sehr dünn und Joana erinnerten sie an Reiszähne. Reiszähnen eines großen gefährlichen Tieres. Mit einem seltsamen vorwarnenden Gefühl kletterte sie aus dem Bett. Luca lag komischerweise gar nicht mehr in seinem. Obwohl er eigentlich meist immer viel später aufsteht als sie. Seine Decke war zerknüllt am Fuße des Bettes. Joana hielt inne und legte die Hand auf seine Matratze. Sie erschrak. Sie war steinhart gefroren. Eine weile blickte sie starr vor sich hin. „Was ist bloß los. Spielt denn alles verrückt“, flüsterte sie und lief in den Flur. „Luca, Luca! Wo bist du! Sag mir, dass du da bist!“ Sie lief in die Küche, in den Flur, in alle Zimmer. Als sie zu Jukkas Zimmer kam stockte sie wieder. „Was ist, wenn er auch nicht drin ist“, dachte Joana. „Jukka!“ Keine Antwort. Kein Geräusch auch nur. Nichts. Die Tür war ganz kalt. Sie trat ein und schlug sich erschrocken die Hände vors Gesicht. Das erste was sie sah war, dass überall Schnee lag. Überall! Auf der Kommode, auf dem Tisch, auf dem Bett... Sogar kleine Eiszapfen hingen an den Regalen. Dazu war das Zimmer verwüstet. Bücher lagen kreuz und quer auf dem Boden. Jukkas Gitarre lag zersplittert in einer Ecke. Poster waren zerrissen. Joana schüttelte nur den Kopf. Sie konnte nicht fassen was sie sah. Wer konnte so was geschafft haben. Ein mächtiges Wesen. Oder war einfach das Fenster offen. Nein, war es nicht. Das würde ja auch nicht erklären das die Jungs verschwunden sind. Mama und Papa waren noch nicht zurück. Was sollte sie tun. Sie anrufen? Bei den Nachbarn um Hilfe bitten? Mit zitternden Knien ging sie ins Wohnzimmer. Sie wählte die Handynummer ihres Vaters. Joana warf den Hörer weg. Ein trommelfellzerstörbares Piepen drang aus der Sprechmuschel. Ein Quietschen und ein Pfeifen. „Hiiilllffee, was ist das!“ Sie lief aus dem Wohnzimmer so schnell sie konnte. Im Flur sackte sie zusammen und fing an zu weinen. Dann ging das Licht aus.


Mädchen


Das Schneemädchen saß im Garten des alten Fachwerkhauses. Einen Schatten hatte sie hinter dem Fenster gesehen „Joana ist wohl schon wach“, dachte sie und verzog ihre weißblauen Lippen zu einem Lächeln. „Lassen wir sie noch die Überraschungen entdecken, nicht Nia“, sagt sie leise zu ihrem Fuchs. Er tollte fröhlich vor dem Mädchen umher.



Joana hörte ein klopfen an der Haustür. „Sind das meine Eltern,“ flüsterte sie. „Hallo, wer ist an der Tür!“ Ihre Stimme klang merklich ängstlich. Es meldete sich keiner. Sie presste sich verzweifelt an die Flurwand und hielt den Atem an. Es klopfte noch einmal und Joana fuhr zusammen. Dann knackte das Schloss und bevor sich die Tür öffnete rannte sie wie aus der Pistole geschossen ins Wohnzimmer und von da aus auf die Terrasse. Die nackten Füße im Schnee spürte sie gar nicht. Sie wollte nur weg von dort. Aber plötzlich blieb sie stehen. Sie kam sich dumm vor. Was ist, wenn das doch eine Nachbarin gewesen war. Oder ihre Eltern. Aber das vereiste Bett und Lucas verwüstetes Zimmer hatte sie sich nicht eingebildet. Was sollte sie tun? Was war da bloß los? „Was geht hier vor?“ Sie ging um das Haus zur Eingangstür. Sie war sperrangelweit offen. Joana hatte keine andere Wahl. Sie musste rausfinden wer drin war. „Ich renne nicht weg“, entschloss sie. Und schon hörte sie wie aus dem Wohnzimmer jemand in den Flur zu ihr kam.


Ende



Das war sie. Mit weit aufgerissenen, ängstlichen, ungläubigen Augen stand sie wie angewurzelt in der Diele. Ihr zum Zopf gebundenes schwarzbraunes Haar war noch wuschelig vom Schlaf. Der Schlafanzug hatte nasse Flecken vom Schnee. Sie sah fertig und völlig verstört aus, als wenn sie wüsste: Das ihre Tage gezählt waren.



Joana dachte dieses Wesen wäre eine Eisskulptur. Aber sie bewegte sich doch. Es war ein Mädchen mit wunderschönem langem hellblondem Haar, die Haut so blass wie Porzellan und einem schleierhaften weißblauem Kleid. Sie war klein und wirkte wie ein Kind. Wie ein kleines unschuldiges Mädchen. Aber dann sah man in ihre Augen. Weisheit und Klugheit spiegelten sich darin. Wie von einer alten und mächtigen Frau. Diese durchbohrten sie mit einem kalten Blick. „Guten Tag“, sagte sie leise. Joana zuckte kurz, aber dann nahm sie all ihren Mut zusammen. „Wer bist du? Was machst du hier?“ Es klang plötzlich sehr selbstbewusst. Das überraschte das Schneemädchen. Joana sah wie sie die Augenbrauen hochzog. „Was glaubst du denn? Ich bin kein anderer als der Winter.“ Sie hob den Kopf und warf ihr schönes Haar zurück. „Das soll ich glauben“, fragte Joana. Das Mädchen hob die rechte Hand und ließ dort eine Schneeflocke erscheinen. Joana wich eine Schritt zurück. „Wa- was!? Wie hast du das gemacht?“ „Ich bin der Winter“, sagte sie wieder. „Der Winter.“ Joana dachte nach. Das würde so manches erklären. Der viele Schnee, die gefrorene Matratze... „Wo sind meine Brüder! Was hast du mit ihnen gemacht!“ Wieder kam Joana die Angst hoch. Was würde jetzt passieren. „Deine Brüder, die sind schon weit fort“, sagte sie und lächelte geheimnisvoll. „Wohin…fort?“ „Überall.“ Joana seufzte leise. Was sollte sie mit diesen Merkwürdigen Worten anfangen. „Wo sind sie und was willst du von uns“, versuchte sie es noch mal. „Du, Joana wirst der nächste Winter sein.“ Sie starrte das Schneemädchen ungläubig an. „Aha, warum das“, fragte sie schließlich. „Es ist so, dass ich alt werde. Das kannst du nicht sehen. Als Herrscher über eine Jahreszeit hast du die Macht auszusehen wie du in dem Alter, das du willst.“ „Das heißt du bist jetzt ein Kind. Aber eigentlich schon uralt“, fragte Joana nachdenklich. „Kann ich wissen wie alt du wirklich bist?“ „222.“ Joana wusste nicht ob sie das glauben soll. „Allmählich werde ich verrückt“, seufzte sie. „Ist das kein Scherz? Träume ich nicht“, fragte sie sich in Gedanken. „Wo sind meine Brüder. Sag mir es. Auf der Stelle!“ Das Schneemädchen sah sie ernst an. „Du wirst sie sehen wenn du mit mir kommst. Du kommst mit in die weite Welt des Schnees und nimmst meinen Platz ein. Du wirst über den Schnee, die Kälte und über Temperatur bestimmen.“ Joana sagte laut: „Was ist wenn ich nicht will! Ich möchte Luca und Jukka sehen. Du hast doch den ganzen Schnee fallen lassen. Meine Eltern stecken deswegen bestimmt in einer Schneewehe. Ich will das dass alles aufhört und du verschwindest!“ sie spuckte alles aus was sie sagen wollte. Das schneeweiße Mädchen verzog keine Miene. Joana erschrak. Das Mädchen machte ihre Augen zu Schlitzen und flüsterte mit rauer kalter Stimme: „Das war dein letzter Tag Joana Kleenen.“ Dann verschwand sie im Schnee.



Luca wachte am nächsten Morgen spät auf wie immer. Er hatte das merkwürdige Gefühl länger als sonst geschlafen zu haben. Hatte er es nur geträumt oder stimmte es das sie in der Nacht aufgewacht waren weil es urplötzlich saukalt geworden war? Schnell hüpfte er aus dem Bett zum Fenster. Es lag kein bisschen Schnee mehr. Zufällig sah er auf Joanas Bett. Da lag sie. Porzellanweiße Haut und die Augen starr in die Luft gerichtet. Joana war tot.


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Tag der Veröffentlichung: 16.08.2012

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