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Die Zeitarbeiter



Wilbur war ein Zeitelf, und er hatte ein Problem: Wie besessen hämmerte er auf die Tastatur. Es war fünf Minuten nach Schichtbeginn, und schon jetzt war für Wilbur der Tag im Grunde gelaufen. Der Zeitelf arbeitete für die Aeon Corporation, den weltweit größten Zeit-Designer. Eine krisensichere Branche, denn eine gute Zeit konnte man eigentlich immer brauchen.
Wer beim nächsten Urlaub nichts dem Zufall überlassen wollte, beauftragte die Aeon Corporation, und fertig war die Traumreise. Natürlich stellte die Firma auch große Dinge her, wie Epochen, Zeitalter und so etwas. Seit Jahrmillionen passten Wilbur und Kollegen auf, dass die Welt nicht aus dem Takt kam. Aber jetzt stand alles auf dem Spiel. Jemand hatte sich ins System gehackt und den kompletten Speicher blockiert. Alle Modulbausteine wie „Sonnenaufgang“, „Fernsehpause“ oder „Mittagsschlaf“ waren unzugänglich. Auf externen Festplatten besaß man noch ein paar Testversionen, Warteschleifen und Werbe-Elemente. Aber spätestens danach ging es dem Universum an den Kragen. Die Welt würde stillstehen.
Was Wilbur erstaunte, war der Ursprung des Dilemmas: Entgegen erster Vermutungen zeichnete sich für das bevorstehende Ende aller Zeiten weder eine Sekte noch der Leibhaftige verantwortlich. Stattdessen war es eine rüstige Seniorin aus Mittelsachsen.
Emma Kawuttke, die Matriarchin von Mittweida, auch bekannt als Gunnery Sergeant Hartmann der Butterfahrten, zählte zu den Stammkunden der Aeon Corporation. Seit gefühlten 50 Jahren gab sie bei Wilbur und Kollegen die Ausflüge ihrer Seniorengruppe in Auftrag. Bedauerlicherweise war bei der letzten Lieferung etwas schief gegangen. Statt die Rentner wie gebucht zu einem gemütlichen Wochenende nach Oberammergau zu schicken, landeten sie beim Wacken Open Air. Und statt des Sommerfestes der Volksmusik gab es Mambo Kurt und Slayer.
Als Retourkutsche zwang Emma ihren zwölfjährigen Enkel per Süßigkeiten- und Fernsehentzug dazu, sich in den Zentralrechner der Aeon Corporation zu hacken. Dann schaltete sie diesen ab. Und nur unter drei Bedingungen würde sie den Speicher wieder freigeben. Erstens: eine persönliche Entschuldigung. Zweitens: eine Million Euro Schmerzensgeld. Und drittens: ein Rendezvous mit Florian Silbereisen.
Leider mochte Wilbur keine Erpressungen. Stattdessen ließ sich der Elf die Schreibrechte für den Zeitstrang von Emma Kawuttke übertragen. Anschließend machte er sich an die Rettung der Welt.

Am nächsten Tag zog die Matriarchin von Mittweida in ein Altersheim. Als Gründungsmitglied der Hells Angels und die Frau, die Alice Cooper die Unschuld geraubt hatte, verabscheute Emma Kawuttke diesen Schritt. Ihr ganzes Leben hatte sie mit Drogen und zu lauter Musik verbracht. Aber für die Schnell-leben-jung-sterben-Nummer war es jetzt zu spät. Während sie darüber nachdachte, kamen ihr ihre Lebenserinnerungen irgendwie merkwürdig vor. Sie konnte nur nicht sagen, warum.
Die Spediteure trugen Emmas Habseligkeiten auf ihr Zimmer, dann schlossen sie mit höflichem Gruß die Tür und Emma war allein. Sie schaute aus dem Fenster, strich über die Möbel – und erblickte ein paar Prospekte auf dem Zimmertisch. Unter anderem ein Faltblatt für eine Reise nach Oberammergau. Unterschrieben war es mit „Emma Kawuttke“. Die Rentnerin runzelte die Stirn – dann verpuffte die Welt in einer Logik-Wolke.
Durch die versehentliche Begegnung mit der eigenen Zweitvergangenheit entstand ein Paradoxon, das sowohl Emma Kawuttke als auch die Aeon Corporation verschluckte. Dadurch bekamen viele Leute erhebliche Probleme mit ihrem Tagesablauf. Letztlich erwies sich das Universum als alt genug, um auch ohne Elfen auf sich aufzupassen. Doch zumindest Alice Cooper würde sich noch lange daran erinnern, wie ihn eine Frau entjungferte, die es eigentlich gar nicht gab.

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Tag der Veröffentlichung: 08.10.2011

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