Hüter des Waldes
Abraxas Siebenhaar war ein Ekel und ein Widerling – wie sich das für einen Schwarzwichtel gehörte. Er lebte in einem Hügelgrab im Herzen des Schummerwaldes. Das Grab gehörte einem längst vergessenen König nebst Familie, deren Gebeine Abraxas polierte und pflegte. Aber damit war seine Fürsorglichkeit auch aufgebraucht. Wie alle Schwarzwichtel hielt er generell nichts von anderen Leuten. Und noch weniger mochte er es, wenn sie in seine Nähe kamen. Rings um das Grab hatte er einen Garten aus giftigen, übel riechenden Pilzen angelegt, und mit Schädelpolieren und Pilzezüchten war Abraxas völlig zufrieden. Es verstimmte ihn zutiefst, als eines Tages im Eingang des Grabes ein scheues Hüsteln erklang. Dabei ahnte der Schwarzwichtel noch gar nicht, wie sehr dieses Hüsteln sein Leben verändern sollte.
Bereits seit einer Weile hatte Abraxas von fern Getöse vernommen: Der Schummerwald wurde abgeholzt. Kettensägen sangen ihr grimmiges Lied, Transporter fuhren Schneisen in das Unterholz. Bald war alles Leben im Wald auf der Flucht.
So kam es, dass Abraxas Besuch erhielt: Im Dunkel seiner Behausung drehte er sich um und erblickte ein junges Mädchen. Es war die Silberfee, die Tochter des Morgensterns, geboren aus dem ersten Licht der Dämmerung. Und gegenwärtig war sie obdachlos. Denn ihr Heim hatte sich am Rande des Waldes befunden und wurde nun zusammen mit diesem ins Sägewerk gebracht. Verängstigt und hilflos bat sie Abraxas um Unterkunft.
Sein erster Impuls war, sie rauszuwerfen und sich in seinem Grab zu verbarrikadieren. Doch die Silberfee war jung und schön – und je länger er sie betrachtete, umso mehr kamen dem Schwarzwichtel andere Gedanken, die finster waren und böse wie die Schatten der Nacht. Mit hintergründigem Lächeln bat Abraxas sie herein. Aber ehe er etwas anstellen konnte, sah er sich überrumpelt: Denn die Silberfee hatte ein weiches Herz. Und kaum war sie eingekehrt, da war auch schon der halbe Wald zu Gast. Füchse, Hasen und Wildschweine stapelten sich im Inneren des Hügelgrabs. Auf dem Schädel des toten Königs saß ein Uhu und hackte nach jedem, der in seine Nähe kam.
Draußen trieben die Waldarbeiter ihr Werk voran. Anstelle des Schummerwaldes sollte ein Einkaufszentrum entstehen. Drinnen wurde es vor lauter Flüchtlingen immer enger, bis sich Abraxas kaum noch umdrehen konnte. Er wetterte, keifte, spie Gift und Galle. Doch die Silberfee beruhigte ihn. Sie umgarnte Abraxas, schmierte ihm Honig um den Bart und überredete ihn, sich für die armen, hilflosen Tiere einzusetzen. Denn wenn alle wieder nach Hause könnten, sei ihm schließlich auch geholfen. Anschließend strich sie ihm mitfühlend über das Gesicht. Da wurde dem Schwarzwichtel ganz wundersam zumute.
Ehe er sich’s versah, stand er am nächsten Morgen vor seiner Haustür. Fee und Tiere winkten ihm zum Abschied, während Abraxas loszog, um die Waldarbeiter das Fürchten zu lehren. Doch bevor der Schwarzwichtel den ersten Menschen erreichte, wurde er bereits dreimal überrollt. Es folgten verschiedene Vorfälle mit umstürzenden Bäumen, Spaten und der Unterseite von Gummistiefeln. Am Abend schleppte sich Abraxas zerschunden und zerschlagen nach Hause.
Aber dort wartete nur die nächste Überraschung: Um ihrem Retter zu danken, hatten die Tiere sein Heim von Grund auf umdekoriert. Der vergilbte König war ausgekehrt und anstelle der unansehnlichen Pilze hatten sie duftende Blumen gepflanzt.
Da platzte dem Schwarzwichtel der Kragen. Er schnappte sich die Tiere, walkte sie tüchtig durch, warf eines nach dem anderen zum Grab hinaus, wünschte ihnen die Pest auf den Hals und anschließend einen schönen Tag. Doch genau in diesem Augenblick kam die Silberfee heim. Als sie sah, was Abraxas mit den Tieren anstellte, blitzte es in ihren Augen. Kurzentschlossen griff sie nach einem jungen Zweig, legte den Schwarzwichtel übers Knie und gab ihm seine eigene Medizin zu schmecken. Mit kräftigen Streichen zog sie ihm den Hosenboden stramm.
Doch während der Zweig auf seinem Hintern tanzte, ging mit den beiden eine eigentümliche Wandlung vor: Abraxas schrie und zeterte, aber in seinem Inneren breitete sich Wohlbehagen aus. Auch die Silberfee gewöhnte sich an den Schwung der Rute. Vor den Augen der Tiere entbrannten beide in ungehemmter Leidenschaft. Denn das Herz der Fee war zwar weich, aber auch ein gutes Stück verdorben. Füchse, Hasen und Uhu bekamen an diesem Abend einiges zu sehen, das ihren Horizont gehörig erweiterte. Aber da sie fortan ohnehin störten, wurden die Tiere schließlich an einen hübschen Streichelzoo verkauft. Vom Erlös machten es sich Fee und Wichtel im Grab richtig gemütlich.
Auch das mit dem Waldabholzen hatte sich dann schnell erledigt: Ein Hügelgrab, aus dem Peitschenschläge und spitze Schreie schallten, war den meisten Waldarbeitern unheimlich. Stillschweigend beschloss man, das Einkaufszentrum ein wenig zu verlegen. Sicherheitshalber. Aber davon bekamen Schwarzwichtel und Silberfee kaum etwas mit: Beide fanden noch viele Gründe, einander gehörig übers Knie zu legen – und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.
Tag der Veröffentlichung: 08.10.2011
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