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Mein Schmerz für dich

Ich weiß nicht mehr, wie oft ich in letzter Zeit über das Leben nachgedacht habe. Über die Liebe und das Leid, den Schmerz, den Verlust, die Angst. Wie oft ich mich gefragt habe, was so falsch an mir ist, dass du mich nicht lieben kannst. Warum du dir immer wieder andere suchst und mich nicht mehr ansiehst, obwohl ich direkt vor dir stehe. Obwohl ich immer für dich da sein würde. Alles für dich tun würde – selbst sterben.

 

Ist es das, was du von mir willst? Dass ich von dieser Erde verschwinde? Dass meine bloße Existenz nicht mehr in deiner Nähe ist? Jede deiner Gesten spricht dafür. Dein Spott, deine Brutalität, der Schmerz, der sich in mir verteilt, wenn du dich von mir abwendest. Bedeute ich dir wirklich gar nichts mehr? Ist in deinem Herz wirklich jede Liebe zu mir erloschen?

 

Ich sehe dich jeden Tag. Jeden gottverdammten Tag. Betrachte dich aus meinem Schatten heraus und fühle mich von dir angezogen – wie eine Motte vom Licht. Du bist meine tiefste Liebe und mein größter Schmerz. Jeden Tag neben dir zu sitzen, dich aber nicht ansehen zu dürfen, dich nicht berühren zu dürfen, nimmt mir jede Vernunft. Meine Gedanken drehen sich nur um dich, aber ich glaube, bis auf die wenigen Minuten, in denen du und deine Freunde über mich herziehen, nimmst du mich im realen Leben gar nicht wirklich wahr.

 

Doch ich weiß, da gibt es noch diese andere Seite von dir. Diese zärtliche Seite, diese warme. Die Seite, die mich liebt und die mich nie wieder gehen lassen will. Die, die mich ganz fest an deinen Körper presst, als würde ich in der nächsten Sekunde verschwinden. Aber ich kann nicht gehen, wenn du so bist. Kann dir niemals widerstehen. Du bist meine Sucht, meine Droge – und auch wenn ich mir vornehme, dich zu vergessen, weil du mich zerstörst, reichen doch deine sanfte Stimme und dein zärtliches Lächeln aus, um mich erneut in deinen Bann zu ziehen. Du wickelst mich einfach um den kleinen Finger und ich folge dir so willenlos, als wäre ich eine Marionette, an deren Fäden du nach Lust und Laune ziehst.

 

Bin ich dir wichtig? Auch diese Fragen habe ich mir in letzter Zeit ziemlich oft gestellt – und doch fand ich keine Antwort darauf. Du behauptest, dass du mich liebst. Doch warum brauchst du dann andere Körper, um deine Sinne zu befriedigen, warum reiche ich dir nicht aus? Warum bin ich nicht deine Welt, wenn du doch meine bist.

 

Ich weiß nicht mehr, wie oft ich dich schon mit anderen gesehen habe. Mann oder Frau – es war dir vollkommen egal. Ebenso egal, wie die Tatsache, dass ich weiß, was du tust. Aber trotzdem kommst du immer wieder zu mir, als würdest du mich brauchen. Als wäre ich der einzige Mensch, der dich versteht und so liebt, wie du wirklich bist. Ganz ohne deine tausend Masken. Ich liebe dich für alle deine Fehler, für jeden kleinen Makel – denn die machen dich zu dem Menschen, der du bist.

 

Und doch... Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht länger nur ein Spiel für dich sein, kann mir nicht mehr ansehen, wie du immer wieder zu den anderen gehst. Denn ich habe Angst, furchtbare Angst, dass ich kaputt gehe. Dass du mich vollkommen zersplitterst, jetzt, wo mein Herz bereits gesprungen ist. Denn es tut weh, so furchtbar weh, dass ich den Schmerz einfach nicht mehr ertragen kann – ihn nicht länger ertragen will. Ich liebe dich. Mit allem, was ich habe – und ich denke, das wird auch immer so bleiben. Mein Herz gehört dir. Meine Seele gehört dir. Mein Körper ebenso. Du warst der erste, der mich aus meinen Träumereien gezogen hat, der mich für sich eingenommen hat, der mich besessen hat – tief in mir kann ich nicht glauben, dass dir das nichts bedeutet. Und doch sprechen deine Taten eine andere Sprache.

 

Wie kannst du mich so einfach vergessen, wenn ich doch direkt vor dir stehe? Wenn alle meine Gedanken dir gelten – ich verstehe es nicht. Habe es vielleicht nie verstanden, aber es hat lange gedauert, ehe ich es wirklich realisiert habe. Unsere kleine Welt dauerte sechs Monate – eine lächerlich kurze Zeit und selbst da habe ich dir nicht genügt. Wie viele andere brauchtest du neben mir? Mit wie vielen anderen musste ich dich teilen, bevor du doch wieder zu mir kamst?

 

Will ich es überhaupt wissen? Bei solchen Gedanken steigt Übelkeit in mir auf und ich würde mich am liebsten häuten, bei der Vorstellung, wie viele andere du berührt hast, bevor du dann wieder zu mir zurück gekehrt bist. Und obwohl ich weiß, dass es an der Zeit ist, dich zu vergessen, kann mein Herz nicht aufhören, sich nach dir zu sehnen. Aber ich muss, ich muss einfach. Weil du mich kaputt machst, weil ich dir egal bin und meine Liebe auch.

 

Ich stehe vor dem beschlagenen Spiegel im Bad. Wie lange stehe ich schon davor? Minuten, Stunden, Tage...? Ich weiß es nicht. Es ist, als hätte ich jegliches Zeitgefühl verloren, ab dem Moment, ab dem ich realisierte, dass das mit uns vor bei ist. Vielleicht hat es auch nie existiert. Vielleicht gab es nie ein Wir. Sondern nur dich und mich – und ich habe einfach nicht verstanden, dass es keinen Platz für Uns gibt. Zumindest nicht im Hier und Jetzt. Es war immer nur unsere kleine Welt, in der du wirklich bei mir warst. In der du mich wirklich geliebt hast – es hat nur viel zu lang gedauert, bis ich das verstanden haben.

 

Und trotzdem tut es weh. Verdammt weh. Doch mein Entschluss steht fest. Ich werde gehen, dich verlassen und du wirst nicht mal mehr bemerken, dass es mich jemals in deiner Welt gab.

 

Jetzt stehe ich vorm Spiegel, betrachte mich, sehe die dunklen Ringe unter meinen braunen Augen, sehe, wie dünn ich geworden bin – wie kaputt ich aussehe. Hab ich die Wahrheit wirklich so lange nicht sehen können? Habe ich wirklich nicht sehen können, wie kaputt ich bin – Innen und Außen?

 

Vielleicht ist es gut, dass ich es dieses Mal mit eigenen Augen gesehen habe, wie wenig ich dir wirklich wert bin. Vielleicht habe ich den Anblick von dir und diesem Mädchen wirklich gebraucht, um zu verstehen, dass es in dieser Welt kein Uns gibt. Niemals gab.

 

Ich bin froh, dass sich jetzt die ganzen Überstunden bezahlt machen, die ich wegen dir geschoben hab. Weil ich nicht nachdenken wollte – die Arbeit hat abgelenkt. Ich brauche eine Pause vom Leben. Eine Pause von dir – vielleicht lässt mich das wieder klarer denken. Vielleicht vertreibt es auch die Kälte in mir, vielleicht finde ich Vergessen, Frieden.

 

Noch weißt du nicht, dass ich dich verlassen werde – wie auch: Du hast dich ja seit zwei Wochen nicht gemeldet und das obwohl wir uns jeden Tag gesehen haben. Was wirst du fühlen, wenn du bemerkst, dass ich gegangen bin? Erleichterung? Trauer? Angst? Oder gar nichts? Ist es dir egal? Bin ich dir egal?

 

Meine Gedanken drehen sich im Kreis – am liebsten würde ich mich in meinem Bett vor der ganzen Welt verkriechen. Vor dir verkriechen. Aber ich weiß, dass ich dich auf diese Weise nicht vergessen kann. Dein Geruch haftet dort, Erinnerungen an deine Haut, an deine Lippen, an deine Hitze, deine zärtliche Berührung haften dort – Erinnerungen an unsere Welt. An unser Glück.

 

Erinnerungen an all die Tränen, die wegen dir flossen. Gedanken, Fragen, Wortfetzen, Entscheidungen – all das wollte ich dir einmal erzählen. Aber du willst mich nicht. Nicht auf diese Weise, die ich dich will.

 

Endlich schaffe ich es, mich von meinem Spiegelbild zu lösen. Ich bemerke die leichte Gänsehaut, die sich auf meinem nackten Körper breit gemacht hat. Aber die Kälte spüre ich nicht. Alles fühlt sich taub an, alles ist leer – ich bin ein Zombie ohne Wahrnehmung. Ich funktioniere, weil ich muss – ein Zustand, der schon viel zu lange anhält.

 

Mit mechanischen Bewegungen ziehe ich mich an und mache mein Bett, um beschäftigt zu sein, um mich abzulenken. Ich weiß nicht, worauf ich warte. Habe ich noch immer die Hoffnung, dass du zur Vernunft kommst und mir zeigst, dass ich dir etwas bedeute? Wie viel ich dir wirklich bedeute?

 

Seufzend setze ich mich auf den Rand meines Bettes und starre empor zu der Uhr, die an meiner Wand hängt. Das leise Tick-Tack wirkt beruhigend auf mich, denn es hat diese Sicherheit an sich. Die Zeit hält keiner an, sie geht ihren Weg beständig und monoton weiter – für keinen Menschen der Welt, bleibt sie in der Sekunde stehen, hält inne und hört mit ihrem beständigen Tick-Tack auf.

 

Ein kleines Piepsen reißt mich aus meinen Gedanken, beinahe automatisch greife ich nach meinem Handy, obwohl ich doch niemanden sehen oder hören will. Mir stockt der Atem, als ich die kleine Textnachricht von dir lese. Ein zynisches Grinsen verzieht meinen Mund – Wann bin ich so geworden? Bin ich wegen dir so geworden? - als ich lese, dass du keine Zeit hast, um mit mir etwas zu unternehmen. Aber heute Abend da willst du vorbei kommen. Aber ich werde nicht mehr da sein.

 

Vielleicht war es das, was ich gebraucht habe – diese Nachricht, gefüllt mit deiner Ignoranz für meine Gefühle, um endlich aufzustehen und gehen zu können. Ich schnappe mir meinen Koffer und verlasse die dunkle Wohnung, in der ich so viele Stunden damit zu gebracht habe, auf dich zu warten. Mit einem leisen Geräusch fällt die Tür ins Schloss und es klingt nach etwas endgültigem. Ich kann ein Schlucken nicht unterdrücken und auch das Brennen, dass sich in meinem Augen ausbreitet, lässt sich nicht länger verhindern – es klingt nach Ende. Und das obwohl ich keine Ahnung habe, ob ich bereit bin, mein Leben neu anzufangen.

 

Warum hatte es soweit kommen müssen? Warum war in deinem Leben kein Platz für mich? Zu spät bemerke ich die Tränen, die meine Wange hinunter fließen, höre das Wimmern, das meine Lippen verlässt – wie viel Schmerz muss ich ertragen, um dich vergessen zu können?

 

Ich versuche, mich zu beruhigen, auch wenn es mir nicht leicht fällt. Dankbar für die späte Stunde gehe ich leise die Treppen hinunter und verlasse das Wohnhaus. Ich blicke nach oben, in den dunklen Himmel. In der Stadt sieht man die Sterne nie – weil es selbst in der Nacht viel zu hell ist. Und plötzlich sehne ich mich danach, diese kleinen flimmernden Lichter zu sehen, andere Luft zu atmen, zu schreien und den Wind ins Gesicht gepeitscht zu bekommen. Diese Stadt ist wie ein Monster, dessen Anonymität und Kälte mich langsam aussaugt. Ich brauche Abstand – von meinem alten Ich. Von meinem Leben hier. Von dir.

 

Langsam gehe ich die Straße hinab, irgendwo da hinten steht mein Auto. Zwischen zwei Straßenlaternen. Doch ich erstarre mitten in der Bewegung, als ich dich um die Ecke biegen sehe – hinter dir ein Pulk aus Menschen. Menschen, die du deine Freunde nennst – die dich aber nicht im Geringsten kennen. Nicht so, wie ich dich kenne. Meine Beine fühlen sich an, wie Wackelpudding. Wackelig, zittrig, ohne Beständigkeit. Und doch straffe ich mich, will niemanden zeigen, wie sehr es mich auch jetzt schmerzt zu sehen, wie ein anderes Mädchen an deiner Seite klebt.

 

Auf der Straße gehen wir einander vorbei. Ich kann riechen, dass ihr betrunken seid. Deine Freunde erkennen mich nicht, aber ich weiß, dass du es tust. Deine Augen bohren sich in meine, aber ich wende meinen Blick ab. Noch bin ich nicht stark genug, um dir so kalt entgegen zu treten, dass du die Kälte in mir spüren kannst, die du hinterlassen hast. Ich spüre die Hitze deiner Blicke auf meinem ganzen Körper, doch ich drehe mich nicht um, sehe dich nicht an.

 

Erleichtert atme ich aus, als ich bei meinem Wagen ankomme. Ich hab gar nicht gemerkt, wie sehr ich den Atem angehalten hatte, um dir nichts entgegen zu schreien. Die Grenze meine Selbstbeherrschung ist erreicht, nur einen Moment länger und es hätte alles passieren können. Ich plumpse gerade zu in den ledernen Sitz und fröstele leicht, als ich endlich die Kälte wahrnehme, die in meine Knochen kriecht. Schnell starte ich den Wagen, spüre erleichtert die Wärme, die sich im Inneren breit macht und lenke das Auto aus der Lücke.

 

Ich gehe, weil ich nicht bleiben kann. Gehe, weil ich dich verlassen muss und lasse alles zurück, was mich ausmacht: mein Herz, meine Seele und meinen ganzen Schmerz. Alles für dich. Alles wegen dir, weil ich kaputt bin und wahrscheinlich nie wieder ganz sein werde.

 

Mein Herz für dich

Ich wusste von Anfang an, dass es eine schlechte Idee war, heute auszugehen. Aber ich hatte es ihnen versprochen, hatte ihnen zugesagt, meine freie Zeit mit ihnen zu verbringen, obwohl ich so viel lieber woanders gewesen wäre – bei dir. In deinen Armen war die Welt so einfach. Alles fühlte sich so unglaublich leicht an, als wäre die Welt in Watte gepackt, als stünde die Zeit still, in den Augenblicken, in denen wir zusammen waren. Du warst mein Anker. Du bist mein Anker. Der Einzige, der mich so nimmt, wie ich bin – und dass obwohl ich dir immer wieder Schmerz zu füge. Aber du liebst mich trotzdem und dafür liebe ich dich umso mehr.

 

Schon damals, als du zum ersten Mal in unsere Abteilung kamst, als mein Herz aussetzte und im doppelten Tempo weiterschlug, als sich Schmetterlinge in meinen Bauch einnisteten, die nie wieder gehen wollten, wusste ich, dass du alles warst, wonach ich jemals gesucht hatte, was ich jemals haben wollte – aber du warst ein Mann und einen Mann durfte ich nicht lieben. Nicht so, wie ich dich liebte. Ich war feige und ich bin es noch immer. Du bist der Mutigere von uns beiden, der der immer alles wagt, alles auf eine Karte setzt, egal, wie viele sich dir in den Weg stellen. Das habe ich schon immer an dir bewundert – du bist mein Fels und es gab Momente, in denen ich glaubte, dass es nichts auf der Welt gab, dass dich jemals kaputt machen könnte. Doch ich hatte mich geirrt.

 

Ich sehe den Schmerz in deinen Augen, als wir uns auf der dunklen Straße begegnen, doch du blickst mich keine Sekunde an und doch weiß ich ganz genau, dass du weißt, dass ich es bin, der dir mit seinen betrunkenen Kumpels und einem Mädchen am Arm entgegen kommt. Ich sehe die schwere Tasche, die du trägst und ein eisiger Klumpen bildet sich in meinen Magen, der von Sekunde zu Sekunde größer wird – ich weiß, was es zu bedeuten hat und doch will ich es nicht wahrhaben. Es ist dein Abschied von mir. Du willst mich vergessen, aus deinen Leben verbannen, weil du den Schmerz, den ich dir immer und immer wieder zugefügt habe nicht länger erträgst. Und ich lasse dich gehen. Wieder einmal. Weil ich zu feige bin, ihnen allen zu zeigen, wie ich wirklich bin, meine Maske ablegen konnte ich nur bei dir. Du warst – bist – von Anfang an der Einzige, der hinter meine Fassade gesehen hat und nicht abgeschreckt war. Der gesehen hat, wie kaputt ich wirklich bin und trotzdem wolltest du mich, aber selbst bei dir konnte ich diese Angst nie ganz vergessen.

 

Die Angst davor, dass jemand herausfinden könnte, was mit mir geschehen war, dass jemand sehen könnte, was sie aus mir gemacht hatten. Nur du allein durftest mich so sehen, durftest sehen, wie schwach ich in Wirklichkeit bin, während ich all den anderen vorspielte jemand zu sein, der gar nicht zu mir passte: ein Playboy, ein Fiesling und ein mieser Kerl. Aber all das ist Show, ein Schauspiel, das mit Masken auf einer Bühne stattfand, die ich zu meinem eigenen Schutz erschaffen hatte, während mein wahres Ich vom Rand aus zusah – und jetzt – in diesem Augenblick – in dem ich realisiere, dass du gehst, habe ich das Gefühl, dass ich auch mich selbst verliere. Und alles, was bleibt, ist diese Maske, die sich auf meine Seele gebrannt hat und die mehr und mehr den Platz in meinem Leben einnimmt.

 

Ich weiß, dass du glaubst, dass du nie der Einzige für mich warst – weil ich wollte, dass du es glaubst, obwohl es nie die Wahrheit war. Denn ich muss dich beschützen, vor dem Monster, dass ich in Wirklichkeit bin. Vor meinem wahren Ich, dass du kennst und nicht fürchtest, aber das ich so sehr fürchte, dass es wehtut. Ich habe Angst davor zu zeigen, wer ich wirklich bin – das konnte ich nur bei dir. Bei dir allein.

 

Meine Kindheit hatte ich auf den Straßen einer Großstadt verbracht. Hatte gebettelt, gestohlen und mich einen Dreck für andere Menschen interessiert – für mich hatte auch keiner Interesse übrig. Meine Mutter war eine heroinsüchtige Schlägerin, die jeden Tag einen anderen Typen nach Hause brachte. Als Kind war ich noch gut genug gewesen, um ihnen ihre Aggressionen zu nehmen, doch ich wurde älter, reifer – und damit änderte sich auch das Interesse dieser Männer. Wurde zu etwas dunklem, etwas grausamen – und es gab niemanden, der mich beschützte. Also lief ich weg, versuchte auf der Straße zu leben, egal wie hart es war. Bis mich ein Sozialarbeiter fand. Halb erfroren, abgemagert und ohne Besinnung. Er brachte mich zum Arzt und von dort aus in eine Pflegefamilie. Dort lernte ich zum ersten Mal, was es bedeutet geliebt zu werden, doch ich hatte Angst, so schreckliche Angst davor genau so zu werden, wie meine Mutter, also setzte ich mir diese Maske auf. Wurde ein Mustersohn ohne Ängste, wurde beliebt und schwamm mit dem Strom mit, um ja niemanden hinter meine Fassade blicken zu lassen.

 

Bis du kamst. Mit deinem süßen Lächeln, deinen blonden Locken, die wie Gold glitzerten, sobald die Sonne auf sie fiel und diesen sanften, braunen Augen. Diesen Augen, die sofort in meine Seele blickten und sahen, was ich wirklich war – und doch war da nie ein Moment, in dem du mich von dir fort gestoßen hast. Ganz gleich, wie sehr ich dir wehtat. Du warst immer da – immer da, aber ich wusste, dass es dich innerlich zerstörte. Und doch war ich egoistisch, so verdammt egoistisch, dass ich dich nicht aufgeben konnte, nicht aufgeben wollte und gleichzeitig diese Maske aufrecht erhielt, die dir noch mehr schmerzte, als mir selbst. Und was hatte ich davon? Nichts, überhaupt nichts. Und jetzt warst du fort, warst gegangen und doch konnte ich dich nicht gehen lassen.

 

Mein Herz ließ mich anhalten, stemmte meine Füßen in den asphaltierten Boden unter mir und schrie mich an. Schrie, dass ich dich aufhalten sollte, dass ich um dich kämpfen musste, dass die anderen scheißegal waren, solange ich nur für den Rest unseres Lebens in deine braunen Augen sehen durfte.

 

Ich hörte sie protestieren, hörte ihr unverständliches Gebrabbel, ihr schmutziges Lachen und ihre anzüglichen Bemerkungen, als das Mädchen, dessen Namen ich schon längst wieder vergessen hatte, ihre Armen um meinen Nacken schlang und versuchte, mir einen Kuss aufzudrücken. Mit mehr Schwung, als nötig gewesen wäre, stieß ich sie von mir, so wie ich gleichzeitig die Maske von mir stieß, die ich nicht länger tragen wollte. Beide fielen sie auf den Boden und meine Maske zerbrach. Ein triumphierendes Lächeln schoss über meine Lippen, als die anderen mich anbrüllten und mich beschimpften, doch ich ignorierte sie. Ich würde dieses Mal nicht kneifen, würde ihnen zeigen, wer ich wirklich war. Ich würde sie hinter mich lassen, denn sie waren unwichtig. Sie waren mir alle so egal. Es gab nur einen Einzigen, der für mich die ganze Welt bedeutete – und das warst du, du ganz allein.

 

Ich rannte los, zeigte den Mistkerlen hinter mir, die sich so oft lustig über dich gemacht meinen gestreckten Mittelfinger und nahm die Beine in die Hand. Etwas in mir sagte, dass du die Stadt verlassen würdest und es gab zum Glück nur einen einzigen Weg, den du nehmen konntest, wenn du zur Autobahn wolltest und ich wusste, dass du diesen Weg nehmen würdest – den du wolltest zum Meer. Um mich dort zu vergessen, um mich dort aus deinem Leben zu verbannen. Aber ich werde das nicht zu lassen – du und ich gegen den Rest der Welt. Schon immer: Nur du und ich – ich hatte nur solange gebraucht, um das zu begreifen, was mein Herz schon längst wusste, was ich nur nicht einsehen wollte: Du hast keine Angst vor mir, weil du mich liebst, weil du mir vertraust und weil du weißt, dass ich dir niemals wehtun könnte, egal, wie sehr ich mich davor fürchtete – du würdest es nicht zulassen, du würdest mich aufhalten – du bist der Starke von uns beiden. Der, der immer um mich gekämpft hat und jetzt musste ich dir zeigen, dass ich um dich kämpfen wollte.

 

Ich trieb meine Beine noch schneller über den harten Asphalt, denn die Zeit rannte gegen mich. Hatte ich Pech, warst du schon lange fort und dann war alles vorbei, dann würdest du mich vergessen, aber ich wollte nicht, dass du mich vergisst, ich wollte, dass du für immer bei mir bliebest. Ich nahm jede Abkürzung und jeden Schleichweg, den ich kannte, bis ich schließlich keuchend endlich den kleinen Wald erreichten, durch den mitten hindurch die kleine Straße lief, die dich zur Autobahn bringen würde.

 

Äste peitschten in mein Gesicht, hinterließen blutige Kratzer, aber mir war es egal, ich durfte dich nur nicht verpassen, durfte nur nicht zu lassen, dass du mich vergessen würdest. Mit voller Geschwindigkeit rutschte ich den Hand hinab, riss mir dabei die Hose auf, doch es war mir gleichgültig, als ich blutig und verdreckt endlich die Straße erreichte, die vollkommen im Dunkel lag. Jetzt musste ich warten auf das Ungewisse, auf die Hoffnung, dass du noch vorbei fahren würdest. Aus Sekunden wurden Minuten, deren Länge sich immer unerträglicher anfühlte. Je länger kein Auto vorbei kam, desto schwerer wurde mein Herz und schließlich drang auch die Gewissheit in meinen Verstand vor: ich hatte dich verpasst. Nun war es endgültig vorbei. Ich hatte dich dazu gebracht zu fliehen und jetzt war es das Schicksal, dass uns nicht mehr zusammen bringen wollte. Wie sollte ich ohne dich überleben, jetzt da die Welt so grausam kalt und einsam wirkte? Jetzt, da alles an Farbe verlor und nichts mehr von Bedeutung war?

 

Ich dachte an dein wunderschönes Lächeln, dein sanften Augen, die jedes Mal vor Liebe strahlten, wenn sie mich erblickten und unterdrückte das Brennen in meinen Augen. Es brachte nichts, über etwas zu weinen, was ich selbst zum Scheitern verurteilt habe. Ich war der einzige, der Schuld daran hatte – und ich würde diese Schuld tragen und sie nie vergessen.

 

Du scheiß verfluchte Dreckskarre! Warum musst du ausgerechnet jetzt den Geist aufgegen?! So ein Mist, echt!“

 

Diese fluchende, von Schluchzern zerrissene Stimme beflügelte mein Herz. Das warst du, das war deine Stimme. Wie rannte ich, was mein Körper geben konnte, als ich um die Biegung kam und dich sah. Dein gebeugter, schlanker Körper, der sich an dem Wagen festkrallte, während du tränenblind deinen Fuß in den Reifen rammtest. Noch nie hat mich dein Anblick glücklicher gemacht, als jetzt. Ich überwand die wenigen Meter zwischen uns, als würde ich fliegen. Das Zittern deines Körpers zeugte davon, wie sehr ich dich verletzt hatte, wie sehr ich dir wehgetan hatte, aber ich schwor mir, dass das von nun an nie wieder so sein würde, von nun an gab es nur dich und mich. Gegen den Rest der Welt – egal, was kommen würde, ich würde dich nie mehr verlassen.

 

Aidan“, hauchte ich leise, aber ich sah, dass du mich gehört hattest.

 

Sah es daran, wie sich dein Rücken versteifte, wie deine Hände sich noch stärker in das kalte Metall deines Wagens gruben, als du dich zu mir umdrehtest. Dein blasses Gesicht, in dem deine wunderschönen, braunen Augen beinahe überirdisch groß wirkten, war der schönste Anblick des Tages. Ich sah die dicken Tränen, die dir erneut über deine Wangen liefen und wischte sie fort, hinterließ einen zarten Streifen aus Schmutz auf deiner Wange, aber ich konnte dir in diesem Moment nur in die Augen schauen, alles andere war egal.

 

Schmerzhaft fest krallte sich deine Hand in meinem Arm, als wolltest du mich bestrafen und dich gleichzeitig versichern, dass ich es war, der vor dir stand. Dein zarter, rosiger Mund hauchte immer wieder meinem Namen, während du unwillkürlich einen Schritt auf mich zutratest. Ich hielt es nicht länger aus und riss dich an mich, presste dich an meinen verschmutzten und mich Schweiß überdeckten Körper, konnte die Schluchzer fühlen, die dich durchschüttelten, so heftig, dass ich Angst bekam, du könntest zerbrechen. Ich hob dein Kinn an, wollte ich deine Augen sehen. Erneut sah ich die Tränen, die deine Wange hinunter liefen und wischte sie fort und dann trafen sich endlich unsere Lippen zu einem alles verzehrenden Kuss, deine Hände krallten sich schmerzhaft fest in mein dunkles Haar und ich presste dich noch enger an mich.

 

Ich würde dich nie wieder gehen lassen, nie wieder würde ich dir wehtun, denn jetzt gab es nur noch dich und mich. Und egal, was kommen mochte, nichts war so stark, dass es unser WIR erneut auseinander brechen konnte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ENDE

 

 

Impressum

Texte: alles meins
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für all diejenigen, die ab und zu die gleiche Melancholie empfinden, wie ich.

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