Ich sitze hier, weil ich gestört bin. Neurotisch, voller Angst, komplett plemplem – oder warum sonst sollte mir jetzt so ein Psychodoktor gegenüber sitzen? Das hier war mittlerweile meine dreihundert sechsundsechzigste Sitzung. Eine ganz schöne Menge, oder? Aber naja, zum Einen war der Doc mir sympathisch und zum Anderen schien meine gestörte Art nicht heilbar zu sein. Sich selbst einzugestehen, dass man verrückt war, sollte ja eigentlich der Anfang zur Veränderung, oder? Zumindest liest man es in jedem Selbsthilfebuch – und ich hatte wahrlich schon eine Menge davon gelesen. Aber bei mir schlug nichts an – keine Therapie, keine Schocksituation, keine Selbstheilung. Nichts. Nada. Niet. Aus genau diesem Grund war diese Menge an Sitzungen zusammen gekommen und das lustige an der Sache war, dass der Doc mittlerweile zu den Menschen zählte, die mich am besten kannten. Vielleicht kannte er mich sogar besser, als ich es selbst tat – nichts desto trotz brachte mir das auch keine Heilung.
„Hypnose können wir also auch von der Liste streichen.“
Der Doc wirkte recht verzweifelt, so wie er sich die Haare raufte, aber es hieß doch immer so schön, dass es für jedes Problem eine Lösung gab – also auch sicher für meines.
„Ich verstehe einfach nicht, was wir falsch machen“, murrte Doc Kleeblatt und schob sich wirsch seine Brille wieder nach oben.
Eine Geste, die mich immer zum Schmunzeln brachte. Denn ich stellte mir dann manchmal vor, was passieren würde, würde der Doc seine Brille ein wenig zu doll nach oben schrieben. Ob dann die Haut aufreißen würde? Ob ich dann das Nasenbein sehen könnte? Ich stellte es mir bildlich vor – die kleinen Bluttropfen, die die bleiche, fast papierne Haut hinunter gleiten würde, die schreckgeweiteten Augen, das blasse Nasenbein, dass sanft durch dass helle, blutige Fleisch hindurch funkeln würde... Ich beschloss, dass es nicht wert war, den Doc zu fragen, es einmal auszuprobieren und sah ihn statt dessen mit hoffnungsvollen Augen an. Wer sich jetzt schütteln sollte – Ich hab euch gewarnt! Ich BIN verrückt! Aber keine Angst: Auch wenn ich eine blühende Fantasie hatte, im realen Leben würde ich sowas auch nicht sehen wollen.
„Und es gibt wirklich gar nichts mehr, was ich noch ausprobieren könnte?“, hauchte ich.
Der Doc sah mich an und in seinen Augen spiegelte sich Resignation wider. Etwas, dass mir gar nicht zusagte. An diesem Punkt würde ich ganz bestimmt nicht aufgeben – der Doc hatte mich wahrlich schon zuviel gekostet, um jetzt aufzugeben.
„Es tut mir wirklich Leid, dir das sagen zu müssen, Rocket, aber ich sehe nur noch eine letzte Chance.“
Um mal kurz das Wesentliche auszublenden – das konnte ich die meiste Zeit wirklich gut! - Rocket ist natürlich nicht mein wirklicher Name. Eigentlich heiße ich Manuel Karl Königsberg – aber ehrlich, wer wollte schon so heißen? Außerdem war ich schon immer von diesen bunten Fischdosen fasziniert gewesen und die Vorstellung, dass ich durch meine dezent gestörte Art irgendwann genauso in die Luft gehen könnte, wie eine Rakete brachte mir meinen Namen. Und ich fand, er passte zu mir – zumindest die meiste Zeit.
Zurück zu meiner letzten Chance:
„Und das heißt, Doc?“
Doktor Kleeblatt erhob sich etwas schwerfällig, dabei wackelte sein kugelrunder Bauch hin und her. Ich stellte mir vor, dass der Doc eine Wassermelone verschluckt hatte, um so einen Bauch zu bekommen und diese war jetzt in seinem Bauch manifestiert – sozusagen, als ein Teil von ihm. Dass sein Bauch durch den übermäßigen Genuss von hefehaltigen Getränken entstanden sein könnte, schob ich gekonnt aus meinem Bewusstsein. Die Vorstellung mit der Melone gefiel mir besser. Um Längen.
Mit langen Schritten kam der Doc auf mich zu, in der Hand hielt er eine Art Prospekt, das er mir entgegen hielt. Neugierig betrachtete ich es. In Großbuchstaben lockte das Papier mit folgenden Worten:
Fühlen Sie sich einsam und allein?
Sehnen Sie sich nach menschlicher Nähe? Nach Geborgenheit
und Liebe?
Dann nehmen Sie an unserem wöchentlichen Kuschelnachmittagen teil.
Sie werden nicht enttäuscht werden!
Ein beklemmendes Gefühl machte sich in mir breit. Kuscheln bedeutete Körperkontakt. Körperkontakt bedeutete, dass es zu Berührungen von anderen Menschen kam. Dieser Gedanke machte mir Angst. Ich hatte Angst davor, dass andere mich berühren würden. Ekelte mich vor ihnen, aber am meisten vor mir selbst. Diese Angst saß tief – und bis jetzt hatte Doc Kleeblatt mir nicht helfen können, sie zu besiegen.
„Und Sie meinen wirklich, dass mir das helfen könnte?“, skeptisch wendete ich das Prospekt und sah lauter Bilder von sich umarmenden, lachenden Menschen. Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Schon die Bilder verursachten mir schreckliche Worst-Case-Szenarien, in denen sich die Menschen auf mich stürzten, um mich zu berühren.
Der Doc nickte enthusiastisch.
„Jawoll“, meinte er und reckte dabei seinen Kaffeepott in die Luft, als wäre es ein Siegespokal oder der goldene Kelch von Jesus Christus.
„Für mich sieht das eher aus, wie eine versteckte Einladung zu einer perversen und wer weiß, vielleicht auch fanatischen Orgie.“
Zweifelnd zog ich eine Augenbraue nach oben und beobachtete, wie sich der Doc an seinem Kaffee verschluckte. Vielleicht hätte ich mich ganz so vulgär ausdrücken sollen, aber ich fand es passend. Der Doc hustete wild und versuchte, den verirrten Tropfen Kaffee aus seiner krampfenden Luftröhre zu würgen. Vielleicht wäre ich ihm in einem Paralleluniversum zu Hilfe geeilt, aber so? No Way!
„Ich würde es nicht ganz so ausdrücken, Rocket“, die Stimme des Doc klang kratzig vom vielen Husten. „Sieh es als letzte Chance an, deine Angst vor Berührungen zu besiegen. Ansonsten weiß ich auch nicht mehr, wie ich dir noch helfen kann.“
Mein Bauch rumorte bei diesen Worten. Eine perverse Orgie sollte meine letzte Chance sein, die Angst in mir zu besiegen? Dann Prost Neujahr! Danach würde ich so oder so nie mehr derselbe sein!
Fest sah ich den Doc in die Augen, „Ich brauche jetzt einen Drink. Wenn ich wirklich zu dieser Orgie von Kuschelsüchtigen soll, um mich ihren Berührungen entgegen zu recken, dann nur mit ordentlich Promille!“
„Ich kann nicht fassen, mit welch faulen Tricks du mich hierher gelockt hast!“
Luisa klang empört, was ich ehrlich auch verständlich fand. Vielleicht hatte ich auch dezent übertrieben, um sie an den Ort meiner ganz persönlichen Hölle zu locken. Vielleicht hätte ich sie einfach fragen sollen, anstatt ihr ins Gesicht zu lügen und zu behaupten, ich hätte Exklusivtickets für ein geheimes Justin Bieber Konzert – aber ich finde, als meine beste Freundin müsste sie mich besser kennen. Ich meine, Justin Bieber...! No Way! Aber zurück zum Wesentlichen.
Ich rang meine Finger und versuchte, sie mit meinen Hundeaugen zu besänftigen.
„Ich dachte, wenn ich dich frage, dann stimmst du nie zu! Du hast es ja nicht so mit Gruppenaktivitäten“, versuchte ich mich zu entschuldigen. „Und vielleicht hatte ich auch ein wenig Angst..., dass ich hier einfach von allen überfallen werde.“
Ich sah auf den Boden. Irgendwie tat es mir schon Leid. Als 21 jähriger Mann sollte ich mich vor nichts fürchten, aber leider gab es viel zu viel Dinge, die mir Angst machten.
„Ach, Rocket...“, seufzte Luisa und strich sich eine Strähne ihres honigblonden Haares zurück. „Du hättest doch einfach fragen können, Schnucki. Ich bin doch für dich da.“
Schief grinste ich sie an. Sie verstand mich einfach und egal, wie verrückt meine Art war, sie liebte mich deshalb trotzdem.
„Aber ganz ehrlich: Musste dein violettes Batik – Outfit wirklich sein?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ich fand es passend. Mein letzter Versuch – wortwörtlich!“
„Du siehst aus, wie ein Hippie – Double der Milkakuh“, Luisa feixte mich an und ich verdrehte die Augen.
„Ich sehe wunderbar aus – wie immer“, divenhaft drehte ich mich um meine eigene Achse.
„Jaja“, meinte Luisa und nickte energisch Richtung Gartentor, wo dieses Kuschel-Orgien-Treffen stattfinden sollte. „Lass uns endlich reingehen.“
Ich schluckte, nickte aber tapfer und folgte Luisa zum Gartentor. In meinen Gedanken verwandelte sich das wehrlose, kleine Tor in einen riesigen, unüberwindbaren Zaun. Zu beiden Seiten schossen steinerne Schlangen hervor, die mich auch wilden, roten Augen anstarrten, als wäre ich etwas köstliches zu fressen. Ich erzitterte. Das hier würde wohl definitiv mein Ende werden.
„Rocket? Wo bist du nur schon wieder mit deinen Gedanken? Komm endlich!“
Vor lauter In-Gedanken-Sein hatte ich gar nicht mitbekommen, wie Luisa das kleine Gartentor schon geöffnet hatte. Ich schluckte. In mir breitete sich ein beklemmendes Gefühl aus. Gleich würde ich Menschen begegnen, die hier her kamen, um menschliche Nähe zu spüren. Würden sie mich gleich überfallen? Wie würden sie reagieren, wenn ich sie abwehrte? Langsam folgte ich Luisa, die Augen zu kneifend vor Angst, weil ich mich nicht traute, nach zu schauen, was die Menschen taten, die hier zum Kuscheln waren.
Nur langsam wagte ich es, die Augen zu öffnen und was ich sah, schockierte mich, denn ich sah... Nichts!
„Wo sind denn die ganzen Menschen?“, hauchte ich. „Nach meiner Vorstellung sollten schon tausende da sein und eine wilde Orgie feiern.“ Luisa grunzte nur und schüttelte den Kopf über meine Äußerung.
Irgendwie war ich enttäuscht. Ein Teil von mir war wirklich neugierig gewesen, ob meine Vorstellung der Wahrheit entsprach. Und das obwohl der andere Teil von mir panische Angst hatte. Manchmal war ich ein echtes Paradoxon.
Luisa wandte sich einem kleinen Pfad zu. Ich beeilte mich ihr zu folgen.
„Komm, wir schauen mal dahinten nach.“
Ich verfolgte mit Luisa den gewundenen Pfad. Irgendwie hatte ich ein mulmiges Gefühl. Ich erwartete die ganze Zeit, dass uns jemand angreifen, ermorden und dann unsere Leichen verstecken würde. In meinem Kopf formte sich die Anfangsmelodie des Tatorts. Eine verstörende Beziehung verband mich mit dieser Serie, weshalb sich sofort eine Gänsehaut auf meinem Körper ausbreitete.
„Du, Luisa...?“, hauchte ich ängstlich und sah mich voller Angst um. „Lass uns doch lieber zurück gehen. Langsam macht mir das hier wirklich Angst. Mehr, als ich vorher schon hatte.“
Kurz sah ich nach vorn – und bemerkte, dass Luisa mir gar nicht zugehört hatte. Manchmal war sie wirklich ignorant! Sie bog um eine Ecke und ich beeilte mich, ihr zu folgen. Ich hatte keine Lust, heraus zu finden, was passieren würde, wäre ich ganz allein. Wer weiß: Vielleicht hatten sich alle Besucher ja bereits in Zombies verwandelt oder in madenähnliche Aliens, die mir das Hirn durch die Nase aussaugen wollten. Ich schüttelte mich bei dem Gedanken und beschleunigte meine Schritte. Ich hoffte darauf, dass mein Hirn durch Sauerstoffentzug vielleicht weniger schlimme Bilder produzierte.
Abrupt blieb ich stehen, als sich ein riesiges graues Ungetüm vor mir aufbaute. Nein, diesmal meinte ich kein Monster – dieses Mal war es ein großes Industriegebäude. Und davor standen Menschen. Verflucht viele Menschen.
„Ich glaub, ich pack das nicht“, hauchte ich entsetzt. „Ich glaub, ich hau ab. Das ist viel zu viel Körperkontakt für mich.“
In dem Moment, in dem ich überlegte zu fliehen, funktionierte mein Körper schon. Erfüllt von einem Instinkt, der Jahrtausende hatte, um sich zu perfektionieren, wollte er rennen. Um sein Leben – und natürlich auch um meins. Aber ich kam nicht sehr weit. Um genau zu sein, kam ich überhaupt nicht vom Fleck, denn beinahe augenblicklich stieß ich gegen einen festen, warmen Gegenstand.
Oh, bitte, lass es kein Mensch sein, dachte ich voller Verzweiflung, auch wenn ich wusste, dass das reiner Irrsinn war.
Ich drehte mich um und schon zogen mich kräftige, sehnige Arme in eine feste Umarmung. Luisa neben mir schrie leise auf, aber ich konnte mich gerade so gar nicht auf sie konzentrieren. Ich war völlig erstarrt. Mein Körper bewegte sich keinen Fleck, im Gegenteil. Es schien fast so, als würde meine Körper gegen den anderen sinken, sich fallen lassen. So, als wäre diese Umarmung der sicherste Platz der Welt. Die Gedanken in meinem Kopf standen vollkommen still. So hatte sich eine Berührung noch nie angefühlt. So sicher, beinahe... natürlich. Vielleicht war es diese Erkenntnis, die mich zurück zucken ließ, vielleicht auch dieses eigenartig kribblige Gefühl, dass meinen Körper durchzog. Ich stemmte mich gegen die starke Brust, die viel breiter war, als meine eigene und starrte geradewegs in strahlend blaue Augen. Es schien als würden sie direkt in mich hinein blicken, als wäre ich komplett nackt vor ihm. Ganz hinten in meinem Kopf bildete sich der Gedanke, dass mir der Mann vor mir seltsam bekannt vor kam, als hätte ich ihn schon tausend Mal gesehen, doch dieses eine Mal konzentrierte sich mein verdammtes Gehirn rein auf das Wesentliche. Seine warmen Hände hielten noch immer meinen Unterarme fest. Diese Berührung sandte Schauer über meinen Körper. Keine, dieser schlechten, die einem schon beim reinen Gedanken daran, die Flucht ergreifen ließen. Es waren gute. Kribbelige. So, als würden tausend Federn über den ganzen Körper streichen. Ich konnte nur verwirrt auf die Stelle schauen, die uns verbunden hielt. Und dann kam der Augenblick, als er mich wieder näher an ihn ziehen wollte. Erst gab ich nach, aber dann durch schoss mich blitzschnell dieser Instinkt, der einen am Leben erhalten sollte. Ich riss mich los und floh. Achtete nicht auf Luisa, die mir nach rief.
Ich rannte, als wären tausend Monster, tausend Maden, tausend Zombies höchst persönlich hinter mir her, während mich diese blauen Augen verfolgten, die sich regelrecht in meine Netzhaut eingebrannt hatten.
Das riesige Buch in meinen Händen war schrecklich verschmutzt. Ich pustete und schon wirbelte der Staub nur so in der Luft herum. Die vielen mikroskopisch kleinen Körner fingen das gleißende Sonnenlicht ein und spalteten es in seine verschiedenen Farbspektren.
Staub ist die eigenartigste Form des Lebens, die ich kenne. Er sammelt sich überall und selbst, wenn man ihn mit extremsten Mitteln vernichtete, fand man kurz darauf schon wieder alles damit voll. Manchmal, wenn der Staub in der Hitze eines Sonnenstrahls herumwirbelte, so wie jetzt, direkt vor mir, stellte ich mir vor, dass jedes einzelne Korn eine Welt für sich war. Ein winziger Planet. Klein, aber lebendig. In seinem Sinn riesengroß. Vielleicht Paralleluniversen zu unserem eigenem Leben. Welten, in denen wir waren, wie wir sein wollten. Traumwelten. Idealvorstellungen, wie die Welt eigentlich sein sollte. Vielleicht war sogar eines dieser Staubkörner das Paradies, nach dem es so viele Menschen verlangte. Nach dem sie angeblich so offen strebten, dass sie Angst davor hatten, sie selbst zu sein.
Meine Mutter hatte mal gemeint, dass unsere Welt aus Mitläufern bestehen würde. Mitläufer sahen sich an, wie die anderen lebten. Wie die Masse lebte. Sie beobachteten, analysierten und kopierten diese Lebensweise, um ja nicht aufzufallen. Das, was sie dann in ihrem Sinne anders machten, nannten sie Individualität. Oh Gott, der hat sein Haus ja in rosa angestrichen und nicht in terra. Wie originell! Meine Mutter hatte dagegen rebelliert. Sie hat ihr eigenes Ding durch gezogen, wie sie immer betonte und wollte mich genauso erziehen – vielleicht ist das der Grund, warum ich so ganz anders bin, als alle andere. Mein Vater, erst fasziniert von meiner Mutter, kam später mit ihrer Lebensweise so gar nicht zurecht. Er war der typische Spießer. Nichts riskieren, um keinen Preis auffallen. Er verließ sie – und meine Mutter fand einen neuen Freund. Einen, der sie schließlich umbrachte. Der Alkohol machte sie krank und sie bekam gar nichts mehr auf die Reihe. Ihr war es egal, was aus mir wurde. Wie ich an Nahrungsmittel kam, wie ich in die Schule ging. Bis zu diesem einen Abend vor zehn Jahren.
Ich war 11 Jahre alt gewesen, mein Vater hatte uns vor zwei Jahren verlassen und seitdem war meine Mutter abhängig. Schon als ich von der Schule nach Hause kam, benahm sie sich merkwürdig. Die ganze Wohnung war aufgeräumt und sauber, meine Mutter saß geduscht und frisch angezogen am Tisch und wartete mit dem Abendessen auf mich. Obwohl ich mich darüber freute, konnte ich trotzdem dieses eigenartige Gefühl nicht loswerden, dass etwas nicht stimmte. Am Abend brachte sie mich ins Bett, las mir Geschichten vor. Ich weiß noch, dass ich im Halbschlaf lag, als sie Worte flüsterte, die mich erschreckten. Worte des Abschieds. Und doch war ich bereits so im Schlaf gefangen, dass ich mich nicht mehr dagegen wehren konnte. Als ich am nächsten Morgen erwachte, lag ich in ihren Armen. Sie war eiskalt. Ihre Finger, die meine Hand umklammert hielten, waren stocksteif und nahezu unbeweglich. Ihre Berührung brannte sich in meine Haut, als würde sie mir durch ihre Kälte ein Brandzeichen in die Haut rammen. Sie hatte Selbstmord begangen, wie mir der Notarzt später mitteilte. Hatte Schlaftabletten geschluckt und eine ganze Flasche Wodka, nur um dann neben mir einzuschlafen. Mich zu verlassen, als würde ich den Rest meines Lebens ohne sie verbringen wollen. Als könnte ich jetzt schon den Rest meines Lebens auf eigenen Beinen stehen. Ich weiß noch, wie viele Berührungen ich über mich ergehen lassen musste, bis ich endlich meine Ruhe hatte. Sie sollten Zeichen von Mitgefühl sein, aber es fühlte sich nur falsch an. Ich lernte Berührungen zu hassen, bis ich zu meinem Vater kam, der mir die Schuld an Mutters Tod gab.
Obwohl er inzwischen eine neue Familie hatte, hatte er Mutter nie vergessen und der Gedanke daran, dass sie nicht mehr auf der Welt war, machte ihn kaputt – und damit machte er auch mich kaputt. Seine Berührungen waren schmerzhaft, voller Zorn und sie hinterließen Striemen und blaue Flecke. Sie hinterließen Schmerzen und Narben. Und das Gefühl, dass ich an allem Schuld war. Ich lernte, sie zu fürchten und irgendwann projizierte ich diese Gefühle auf alle Berührungen, die danach kamen. Keine fühlte sich mehr schön oder sicher an, keine Berührung gab mir Wärme – und deshalb mied ich sie. Aus Angst, dass diese Gefühle, die ich seit Jahren bekämpfte, wieder hoch krochen.
Ich seufze laut auf und stelle das Buch zurück in das riesige Regal. Zumindest bis zu diesem einen Tag, als der Fremde mich umarmt hatte. Diese Berührung war so... ganz anders gewesen. Ich hatte mich sicher gefühlt, geborgen. Seit diesem Tag war ich nicht mehr ich. Auf der einen Seite sehnte ich mich nach der Umarmung, wollte erneut diese Sicherheit spüren, auf der anderen Seite fürchtete ich sie. Mein Leben, wie ich es bisher kannte, war vollkommen aus dem Ruder. Und ich glaube, dass ich diese Maske des Andersseins, die ich mir selbst angezogen hatte, um mich zu verstecken, nicht länger tragen konnte. Tief im Inneren war ich auch nur ein Mensch, der sich nach Nähe sehnte, besonders nach der Nähe des Fremden. Ich hatte meine Angst immer vorgeschoben, um anderen nicht nahe sein zu müssen. Vielleicht war es Zeit, dass zu ändern.
Die kleine Türglocke ertönte und kündigte damit die Ankunft eines neuen Kunden an. Der kleine Antiquitätenladen, in dem ich neben dem Studium arbeite, ist sehr beliebt, weil schon allein das Rumstöbern ein Erlebnis der besonderen Art ist. Schnell bog ich um die Ecke des großen Regals.
„Kann ich Ihnen hel...“, der Rest des Satzes blieb mir wortwörtlich im Halse stecken, als ich in die blauen Augen des Kundens schaute. In eben jene blaue Augen des Fremden, der mich umarmt hatte. Er grinste mich an, dabei funkelten seine wunderschönen Augen nur noch mehr.
„Hi“, hauchte ich verzückt.
Jetzt, wo ich nicht in seiner Umklammerung feststeckte, fiel mir auf, wie gut er aussah. Fast wie ein griechischer Gott. Beinahe zwei Köpfe größer als ich, breite Schultern, schmale Hüften... und seine Unterarme erst. Wie gemeißelt. Wetten, dass ich Herzchenaugen hatte? Er war einfach nur sowas von heiß... und ich benahm mich, wie eines dieser Fangirls. In meinem Kopf baute sich das Bild auf, wie er halbnackt einen roten Teppich entlang ging und ich, auf dem Boden kniend, den Weg küsste, auf dem er wandelte. Ich verzog das Gesicht. Niemals würde ich soweit gehen. Schon allein die ganzen monströsen Bakterien, die sich dort befinden würden... Wo war das Mundwasser, wenn man es dringend brauchte?
„Hey“, er wedelte mir vor den Augen herum und lächelte mich erneut so unglaublich an, dass sich mein Hirn schon wieder verabschiedete. Verdammt, ich musste mich jetzt langsam mal zusammen reißen und mich aufs Wesentliche fixieren.
„Entschuldige bitte“, verwirrt über mich selbst, schüttelte ich den Kopf. So hatte ich noch nie gefühlt. Auch nichts ansatzweise. Menschen hatten mich nie interessiert. Schon alleine deshalb, weil ich Angst hatte, ihnen körperlich und seelisch näher zu kommen... und jetzt kam alles aufeinmal. Und es war zu viel. Wie ein Tornado aus Hormonen, der meinen Körper durchfuhr und mich zu einem willenloses, sabbernden Etwas machte.
„Ich war irgendwie in Gedanken.“
„Ist schon okay“, wieder grinst er, ehe er sich nervös durch die Haare fährt. „Ich denke, ich kann dir helfen.“
Ich glaube, die Fragezeichen, die meinen Kopf umkreisten, konnte man bestimmt fast greifen oder mein Gesichtsausdruck war einfach so perplex, dass er meine Verwirrung erahnen konnte. Er schmunzelte.
„Ich würde dir das gerne nachher erklären“, meinte er dann leise. „Bei einem Kaffee. Wenn du Zeit hast.“
„Wer garantiert mir, dass du kein perverser Soziopath bist, der arme, ahnungslose Verrückte auf diese Weise entführt und mit ihnen dann furchtbar schlimme Dinge macht?“
„Das wirst du wohl riskieren müssen“, meint er daraufhin süffisant. „Ich hol dich dann ab!“ Damit drehte er sich um und verließ den Laden.
Das hier... das hier war gerade wirklich eine Begegnung der dritten Art gewesen. Er schien mich zu kennen, mich sogar irgendwie zu mögen – ich denke, wenn ich herausfinden will, was er will und woher er mich kannte, würde ich mich wohl mit ihm treffen müssen. Ein warmes Gefühl stieg in mir auf und ich konnte das debile Grinsen nicht unterdrücken. Es fühlte sich verdammt richtig an.
~oöOÖOöo~
Jemanden anzustarren, ist unhöflich, oder? Also, ich dachte, dass ich das so gelernt hätte. Aber vielleicht ist das, was ich gelernt habe ja auch falsch und alle anderen haben etwas gelernt, das richtiger ist... Meine Mutter war ja eigentlich jemand gewesen, der immer gerne gegen Regeln verstieß. Von ihr hatte ich ja auch meine seltsamen Denkweisen. Trotzdem ist Anstarren unhöflich. Die Frage ist: Warum starrten mich seine blauen Augen dann die ganze Zeit so verzaubert an? Und warum strahlte er dabei so glücklich? Dabei war ich doch der Verrückte hier, oder?
„Ähm... warum starrst du so?“, wollte ich wissen. „Hab ich was im Gesicht?“
Dabei fummelte ich mir im Gesicht herum und versuchte, unauffällig auffällig heraus zu finden, was ich denn im Gesicht hatte.
Der Fremde kicherte nur und schüttelte den Kopf, was mich unruhig auf dem Stuhl hin und her rutschen ließ. Wir saßen jetzt schon seit einer Viertelstunde hier und das eben war der erste Satz gewesen, den wir gewechselt haben.
„Nein, du hast nichts im Gesicht“, wieder lächelte er mich so verzückt an. Ich kam einfach nicht dahinter, wieso das so war. Tief seufzte er auf und wurde dann ernst.
„Vielleicht sollte ich dir langsam erklären, warum du hier bist.“
Ich nickte und sah ihn aus großen Augen gespannt an. Irgendwie war ich ja schon neugierig. Okay, ich war verdammt neugierig. Aber hey, ich durfte das.
„Kannst du das bitte lassen?“ fragte er mich und klang dabei etwas atemlos. Verwirrt runzelte ich die Stirn und sah an mir herunter. Meine Hände lagen auf dem Tisch und umklammerten meine Tasse heiße Schokolade. Die machten also schon mal nichts Unanständiges. Meine Beine und Füße waren auch bei mir und an hatte ich auch alles. Keine Ahnung, was er von mir wollte.
„Was mach ich denn?“, fragte ich mit großen Augen und neigte den Kopf zur Seite. Irgendwo hatte ich gelesen, dass das niedlich war. Bei Welpen. Vielleicht war es das ja auch bei mir.
„Mich aus so großen Welpenaugen ansehen“, bat er. „Irgendwie bringt mich das jedes Mal durcheinander.“
„Oh“, hauchte ich verstehend und versuchte, ihn ganz normal anzublicken. Hoffte, dass es mir gelang. Wieder seufzte er.
„Okay, wo fang ich am besten an?“
„Am Anfang“, unterbrach ich ihn und er kicherte leise, beugte sich ein wenig näher zu mir und hauchte, „Und wo ist das, meinst du?“
„Ich würde gerne deinen Namen wissen“, wollte ich wirklich. Ihn immer nur der Fremde zu nennen, war nach so einer intimen Situation für mich keine Option mehr.
Er lächelte und seine Augen blitzten glücklich auf, was mich verträumt seufzen ließ. Ich war wirklich ein Mädchen. Seufz...
„Meine Name ist Nik.“
Nik... Ich ließ mir den Namen auf der Zunge zergehen. Er gefiel mir. Sehr sogar. In meinem Kopf entstand das Bild eines Herzens, eingeritzt in die Rinde eines knochigen, alten Baumes. Darin standen unsere Namen. Nik und Rocket. Rocket und Nik. Das hatte irgendwie etwas perfektes an sich, wie ich fand. Wieder seufzte ich auf und blickte ihn verträumt an. Seine Nähe war so... berauschend für mich. Er strahlte Sicherheit und Geborgenheit aus. Alles, was ich mir je gewünscht hatte.
„Wir kennen uns“, setzte er dann hinten dran. „Aus der Uni. Du und ich besuchen den gleichen Kurs in Neurologie.“
Ein Bild tauchte vor meinen Augen auf. Ein übervoller Hörsaal. Überall Menschen. Kein Freiraum. Blaue Augen und ein unglaubliches Lächeln. Eine gebräunte Hand, die mir einen freien Sitzplatz zeigte. Ich neben ihn. Eine kurze Berührung unserer Fingerspitzen. Das Gefühl, als würde Elektrizität durch meinen Körper schießen. Wie hatte ich das vergessen können? Wie hatte ich ihn vergessen können?
„Es tut mir Leid“, hauchte ich und blickte auf meine Hände. Irgendwie war die Vorstellung, dass ich ihn so einfach vergessen hatte, dass ich diese Begegnung so einfach hatte vergessen können, schmerzhaft. Vielleicht hatte es ihm genauso weh getan, wie mir jetzt in diesem Augenblick.
„Hey, das muss es nicht“, seine Stimme war unglaublich sanft. „Wie heißt es so schön? Einmal ist keinmal. Zweimal ist Zufall und dreimal ist Schicksal, oder?“
Ich nickte und strahlte. Seine Art des Denkens gefiel mir. Sie gefiel mir sogar sehr.
„Okay, zurück zum Wesentlichen“, meinte er dann nach einer Weile, in der wir uns nur in die Augen gestarrt hatten. „Du warst mir schon vorher aufgefallen und ich mochte deine Art, aber ich hatte irgendwie diese irrationale Angst, dich anzusprechen. Was mir vorher nie schwer fiel. Irgendwie wollte ich dir nahe sein, aber ich traute mich nicht. Da war immer diese Distanz zwischen dir und anderen Menschen.“
Ich schluckte und nickte. Ja, ich hielt sie alle auf Abstand. Wegen den Schmerzen, wegen der Angst. Nik war der erste neben Luisa, den ich so nah an mich ließ. Ein Gefühl sagte mir, dass Nik vielleicht sogar noch näher sein würde, als es je ein Mensch für mich war.
„Als du dann in dem Hörsaal neben mir saßest, konnte ich mein Glück irgendwie gar nicht richtig fassen. Alles an dir hat mich irgendwie eingenommen und dann sah ich den Prospekt. Mit diesen Kuschelnachmittagen. Dir ist gar nicht aufgefallen, dass ich ihn abfotografiert hab“, Nik lächelt entschuldigend. „Ich sah darin meine Chance, dir ein wenig näher zu kommen. Und wenn es nur diese eine Umarmung war.“
Irgendwie war das ja verflucht süß. Ein wenig komisch, aber süß. Und trotzdem hatte ich eine Frage.
„Und wie meinst du das jetzt? Dass du mir helfen könntest“, will ich leise wissen und schenke ihm ein sanftes Lächeln, dass er erwidert.
Plötzlich wirkt er verunsichert, kichert nervös und fasst sich an den Hinterkopf.
„Nachdem du weg gerannt bist, hab ich mich mit Luisa unterhalten“, erklärst du leise. „Sie hat mir erzählt, dass du Berührungsängste hast. Und jeden Menschen eigentlich sofort von dir stößt, der dich berührt und dass diese Aktion da irgendwie deine letzte Chance war.“
Ich glaube, ich habe ein Hühnchen zu rupfen. Mit Luisa. Beste Freunde – Codex hin oder her. Das ist echt ein bisschen zuviel des Guten. Nik sprach weiter ohne etwas von meinen Gedanken mitbekommen zu haben. Irgendwie machte ihn das in meinen Augen nur noch liebenswerter. Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus, als ich ihn betrachtete, wie er so nervös und rot im Gesicht vor mir saß. Ich glaube, ich bin dabei, mich in ihn zu verlieben.
„Jedenfalls fühlte sich unsere Umarmung aber ganz anders an. So, als würde sie dir gefallen, als würdest du dich sicher fühlen. Und da hab ich mir gedacht, dass du deine Berührungstherapie einfach an mir durchführst. Ich bin sozusagen dein Versuchsobjekt“, jetzt erglühten seine Wangen in tiefem Rot.
Schüchtern sah er mich an, was bei einem zwei Meter Kerl wirklich einfach nur niedlich aussah. Trotzdem kamen mir Zweifel. Ich hatte keine Ahnung, ob es klappen würde.
„Ich weiß nicht...“, meinte ich. „Keine Ahnung, ob ich dich berühren kann.“
Nik strahlte mich an und riss die Hände in die Höhe.
„Lass es uns wenigstens probieren und wenn es klappt, umso besser.“
„Und wenn nicht?“, wollte ich wissen, wusste aber dass ich ihm ohne hin zustimmen würde. Bei ihm fühlte ich mich sicher. Seine Berührung war warm. Wenn nicht bei ihm, dann würde es keinen geben, den ich je berühren könnte. Nicht mal bei Luisa fühlte sich eine Berührung so richtig an. Ich vertraute ihm und das obwohl wir uns erst seit dieser kurzen Zeit wirklich kannten. Auch wenn es keinen Sinn machte. Aber naja, Verrückte machten verrückte Sachen. Ist sozusagen Berufsimage, oder?
„Zusammen schaffen wir das schon irgendwie.“
„Okay, dann machen wir es.“
„Also? Wie willst du mich?“, Niks Stimme klang dunkel. Und rau. Er sah mich aus dunklen Augen an und irgendwie bildete sich ein Klumpen Nervosität in meinem Hals, der auch nach mehrmaligem Schlucken einfach nicht runter wollte. Die Stimmung zwischen ihm und mir war aufgeladen. Ich wette, wenn ich mit einem Mikroskop die Luft untersucht hätte, würde ich Testosteron, Elektrizität und Pheromone finden. Lag wahrscheinlich daran, dass ich übertrieben hatte.
Eigentlich war geplant, dass wir es so angehen, als wäre das hier reine Wissenschaft. Wir wollten es rein rational und ohne Gefühle betrachten. War Niks Idee. Aber ich musste dem Ganzen einfach eine Note Rocket geben – eben, weil ich es kann. So hatte ich ein Essen vorbereitet, das Licht gedämpft, überall Kerzen aufgestellt und ein paar rote Rosen besorgt. Und ich hatte meine große Schlafcouch ausgezogen, um es ihm dann gemütlicher zu machen. Gut, so betrachtet, konnte es wirken, als würde ich ihn verführen wollen. Aber das war wirklich ein Versehen gewesen. Ich wollte einfach eine schöne Atmosphäre und nun ja... Das war dann eben dabei rausbekommen. Aber ändern konnte ich es jetzt auch nicht mehr.
„Können wir uns gegenüber setzen?“, frage ich und deutete auf die Couchlandschaft. Dabei sehe ich, dass meine Hand zittert. Okay, ich war verdammt nervös und ich hatte Angst, aber da war auch diese Vorfreude, ihn zu berühren. In mir herrschte ein Gefühlschaos, das sich einfach nicht entscheiden konnte, welches Gefühl denn jetzt endlich die Oberhand bekam.
Nik zuckt mit den Schultern und lässt sich auf das Sofa nieder. Abermals muss ich schlucken. Warum muss er auch so verdammt heiß sein? Und warum muss mein dummes Herz in seiner Nähe nur so schnell schlagen, dass ich Angst habe, dass er es mit bekommt? Ich setze mich ihm ebenfalls gegenüber und blicke auf meine verschränkten Hände.
„Und jetzt?“, will ich flüsternd wissen, denn ich habe echt keine Ahnung, wie es weiter geht.
„Wie wäre es, wenn du mich berührst?“, meint Nik leise. „Vielleicht fällt es dir einfacher, wenn du den Anfang machst.“
Ich nicke abwesend und taxiere seine Hand. Langsam strecke ich meinen Arm aus und taste vorsichtig nach seiner Hand. Laut keuche ich auf, als wir einander berühren und ich wieder diesen elektrischen Schlag spüre, der durch meinen ganzen Körper saust. Ich öffne meine Hand ein Stück, will die Oberfläche erweitern, um ihn noch mehr zu berühren. Auch Nik öffnet seine Hand, so dass sie jetzt übereinander liegen. Seine Haut ist warm und fest, ich kann die Schwielen spüren, die sich durch seinen Nebenjob bei einem Gärtner gebildet habe. Und ich spüre keine Angst. Alles ist gut. Langsam beruhige ich mich, aber mein flatterndes Herz bleibt. Unwillkürlich werde ich mir unserer Nähe bewusst, als ein Wunsch sich in mir aufbaut.
„Ich würde gern noch mehr von dir berühren“, hauche ich rau. Erschrecke, weil meine Stimme so heiser klingt, aber Nik lächelt mich nur sanft an und zieht seine Schuhe aus, um sich daraufhin auf die Couch zu legen.
„Alles, was du willst“, grinst er. „Heute gehöre ich ganz dir.“
Ich kann nur nicken. Meine Augen erfassen seinen Körper, ich kann seine wohldefinierten Muskeln unter dem dunklen Shirt wahrnehmen. Sehe seinen schnellen Atem, in dem sich Niks Brust hebt und senkt. Ich schaue auf und blicke direkt in diese dunklen Augen, die mich sanft ansehen. Schließlich richte ich meine Konzentration auf meine Hände. Ich schließe die Augen, will nur fühlen. Ganz sanft lege ich meine Hände auf seine Brust, spüre sein stark pulsierendes Herz. Die Hitze, die von seinem Körper ausgeht und noch immer ist da dieses Gefühl, das mir sagt, dass alles gut ist. Dass alles richtig ist und ich kann einfach nicht genug davon bekommen. Der Stoff unter meinen Händen fühlt sich falsch an, er schabt und ist zu rau. Am liebsten würde ich seine nackte Haut spüren. Ohne weiter darüber nach zu denken, fahre ich die Seiten seines Körpers entlang, bis zum Hosenbund und schlüpfe darunter. Ein Keuchen kommt von ihm, als meine Hände auf seine Haut treffen.
Schlagartig öffne ich die Augen und blicke in seine dunklen Iriden, die mich voller Verlangen, voller Hunger ansehen. Aber ich kann nicht aufhören, bin wie im Rausch. Diese Berührung ist so unglaublich, dass ich sie kaum beschreiben kann. Sein Haut ist so verdammt warm, so weich. Am liebsten würde ich sie überall spüren. Ich schiebe sein Shirt nach oben, entblöße seine breite Brust. Seine dunklen Brustwarzen haben sich bereits zu kleinen Perlen zusammen gezogen, seine Brust hebt und senkt sich noch heftiger, als ich über sie streife.
Nik hebt seinen Oberkörper an und streift das Shirt ab, um mir mehr Freiraum zu geben.
„Kannst du dich umdrehen?“, bitte ich ihn. Er nickt und legt sich auf den Bauch. Vorsichtig setze ich mich auf seinen Hintern und streichle über seinen glatten Rücken. Sehe eine blasse Narbe und streiche über sie.
„Was ist da passiert?“, will ich leise wissen.
„Ein Sturz, als ich sieben war“, seine Stimme klingt gedämpft, aber rau. Eine Welle läuft durch meinen Körper und ich erzittere. „Hab mir das Schlüsselbein angebrochen und musste operiert werden.“
„Tut es noch weh?“
„Schon lange nicht mehr“, meint er und ich spüre, dass er lächelt.
Ich streiche weiter sanft über seinen Rücken. Lasse mir Zeit und erkunde alles. Das hier fühlte sich unglaublich an und wenn ich tief in mich hinein horchte, dann war da keine Angst, keine Panik. Da war nur dieses Gefühl der Zufriedenheit, des Glücks... und ich spürte Nähe. Ganz viel Nähe, nach der ich mich insgeheim gesehnt hatte. Wieder steigt ein Wunsch in mir und ehe mich der Mut verlässt, ziehe ich mir ebenfalls das Shirt über den Kopf. Ganz sanft lasse ich mich auf ihn sinken, spüre seine nackte Haut an meiner. Ich keuche auf, als mich eine warme Welle durch fährt.
„Rocket?“, flüstert Nik. „Darf ich mich umdrehen? Ich will dich sehen, will dich anfassen. Oder wird es dir zuviel?“
Kurz schließe ich die Augen, horche in mich hinein und erhebe mich langsam von ihm. Er dreht sich zu mich und ich lege mich neben ihn. Die ganze Zeit blicken wir uns in die Augen, als er langsam seine Hand nach mir ausstreckt und mir sanft über die Brust streicht. Auch das fühlt sich wahnsinnig gut an. Ich schließe die Augen und genieße. Genieße zum ersten Mal die Berührung eines anderen Menschen. Niks Berührung.
„Ich würde dich gerne küssen“, haucht er nach einer Weile. Wieder schlucke ich, als ich mir vorstelle, wie unglaublich perfekt das Gefühl seiner Lippen auf meinen sein muss. Ich kann nur nicken und erschauere auch schon, als ich seinen Atem auf meinen Gesicht spüre und dann seine Lippen. Das ist ein Kuss, mein erster Kuss und er ist unglaublich.
Als Nik sich von mir löst, öffne ich die Augen und strahle ihn an.
„Ich hab mich geirrt“, hauche ich und kuschle mich tiefer in seine Arme. Umschlinge ihn regelrecht.
„Womit?“, fragt er leise und streicht mir durch die Haare.
„Damit, dass ich verrückt bin.“
Nik kichert leise. „Wie meinst du das?“
„Okay, ich bin anders“, räume ich ein. „Aber ab jetzt bin ich nur noch verrückt nach dir.“
Nik gibt ein zufriedenes Brummen von sich. „Das trifft sich gut. Mir geht es da nämlich genauso.“
Und als sich unsere Lippen erneut treffen, weiß ich, dass ich endlich sicher bin. Und dass ich keine Angst mehr haben muss.
~ Nik – Drei Monate später ~
Als ich den großen, hellen Raum betrat, der unser Wohnzimmer war, musste ich ein lautes Auflachen unterdrücken. Rocket stand vor einer riesigen Leinwand und pinselte, was das Zeug hielt. Ein neues Hobby von ihm. Und er war über und über mit Farbe bedeckt. Er trug lediglich eins meiner weißen Hemden. Als ich ihn einmal gefragt hatte, warum er das tat, antwortete er darauf, weil es sich anfühle, als würde ich ihn dann die ganze Zeit umarmen.
Mein Herz geht noch immer bei diesem Gedanken auf. Ich war Rocket von Anfang an verfallen. Seit ich damals in dem Hörsaal in seine großen, braunen Augen gesehen habe. Alles an ihm hat mich angezogen und irgendwie bin ich dankbar dafür, dass ich es war, der ihm damals die Angst vor Berührungen nehmen konnte. Rocket ist was ganz Besonderes, etwas ganz Eigenartiges. Man kann ihn nicht verstehen, kann ihn nicht als normal bezeichnen, kann sein Wesen kaum beschreiben. Er ist anders und das liebe ich so an ihm.
Langsam trete ich hinter ihm und umfasse seine schmale Taille. Er erschrickt nicht, so als hätte er gewusst, dass ich hinter ihm bin.
„Wie findest du es?“, fragt er mich und sieht mich über seine Schulter hinweg an. Dabei bemerke ich, dass er sogar Farbe im Gesicht kleben hat, sogar seine blonden Strähnen sind mit Farbe verklebt. „Ich nenne es Spuren des Wahnsinns.“
Ich blicke auf sein Gemälde und erkenne ihn darin wieder. Er hat seine Essenz fest gehalten. Das, was er wirklich ist.
„Es ist wunderschön“, hauche ich und setze einen Kuss hinter sein linkes Ohr, spüre, wie er erzittert und grinse.
„Ich glaube, du brauchst eine Dusche, mein verrückter Künstler.“
„Aber nur, wenn du mit gehst“, meint er und dreht sich zu mir, so dass ich das Lächeln auf seinen Lippen sehen kann. Mein Herz wird weit und schlägt schneller, ein warmes Gefühl steigt in mir auf. Wie sehr ich ihn doch liebe.
„Wie du willst“, grinse ich, packe seine Taille und werfe ihn mir über die Schulter. Rocket lacht fröhlich auf und klammert sich an mich.
„Das kriegst du zurück“, grinst er und sieht mich provozierend an.
„Nur zu gerne“, hauche ich und trage ihn aus dem Zimmer, während er erneut fröhlich auflacht.
Unser Leben ist nicht immer perfekt, aber wenn ich sein Lachen höre, dann spüre ich, wie sehr ich ihn brauche. Das sind die Augenblicke, in denen wir uns noch näher sind. Ich kann spüren, dass es Rocket da ganz genauso geht. Und er hat da diese ganz besondere Art, mir zu zeigen, wie sehr er es liebt.
ENDE
Texte: alles meins^^
Tag der Veröffentlichung: 19.07.2015
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