Ein sehr guter Freund hatte mir das Video von Gay Goth Scene gezeigt. Und weil ich das Ende bzw. den Anfang des Videos nicht so stehen lassen konnte, musste ich einfach etwas dazu schreiben. Hier ist mein Ende. Viel Freude damit!
CopyRight/ Disclaimer: An dem Lied „Gay Goth Scene“ von Hidden Cameras, sowie an dem dazu gehörigen Video habe ich keinerlei Rechte und ich verdiene damit auch kein Geld. Allein die Idee ist meiner Fantasie entsprungen. Ähnlichkeiten zu anderen Geschichten waren nicht beabsichtigt. Kopien oder Plagiate sind nicht erlaubt und ziehen Konsequenzen nach sich.
~ We don't want no gay goth scene in this house
And we don't want no gorgeous teen in your mouth
And we don't like no gay goth scenes
It's teenage hell
And We don't want no gay goth scene in this house ~
Es klickerte leise, als ich die Box mit den Schmerztabletten nach unten wandte. Das Geräusch erinnerte mich an ein Spielzeug meiner kleinen Halbschwester, das sie immer benutzte, um Lärm zu machen. Sie war zweieinhalb und verstand es noch nicht besser, aber meistens nervte dieses Geräusch nur. Erstickt schluchzte ich auf, als ich realisierte, dass genau dieses Klickern wohl das letzte Geräusch sein würde, dass ich wahrnahm.
Tief atmete ich aus und betrachtete die kleinen Atemwolken, die meiner Lunge entwichen. Es war eiskalt um mich herum und doch saß ich hier mitten im Schnee, ohne warme Kleidung und betrachtete die kleine orangefarbene Box in meinen Händen. Es befanden sich genau 45 Schmerztabletten darin – genug, um mich zu töten. Leise lachte ich auf, als ich mir vorstellte, wie sich die Tabletten langsam in meinem Magen auflösen würden, um ihren Wirkstoff freizusetzen, der dafür sorgen würde, dass ich innerlich verblutete. Irgendwo hatte ich gelesen, dass es wie Einschlafen war. Sanft, fast schwerelos. Ohne Schmerzen und ohne Angst.
Sterben war so viel einfacher. Es gab tausende Möglichkeiten, um seinem Leben ein Ende zu bereiten – Tabletten schlucken, war eine der einfachsten und schmerzfreiesten davon. Aber es gab keine einzige Chance, um einem ein heiles Leben wieder zu geben.
Ich spürte die Tränen, die heiß meine Wangen hinunter liefen. Wie Dolche stachen sie in meine eiskalten Wangen und füllten damit ein bisschen die Leere in meinem Inneren. Schmerzen waren das Einzige, was ich noch wahrnahm. Meine anderen Gefühle hatten ich hinter einer Mauer aus Eis verscharrt, damit niemand sehen konnte, wie sehr es wehtat, ich zu sein. Ich war einsam und leer. In mir befand sich nichts mehr, dass man eine Seele nennen konnte. Es waren nur einzelne Glassplitter, die sich mehr und mehr in mein Inneres bohrt und dadurch tiefe, dunkle Abgründe aufbohrten. Zerstört durch den Hass, die Abneigung, die Ignoranz, die ich tagtäglich erleiden musste.
Mit einem Seufzen ließ ich mich rücklings in den Schnee sinken und starrte in den dunkler werdenden Himmel, an dem sich bereits die ersten Sterne zeigten. Wenn man darüber nachdachte, wie unendlich weit das Universum war, dann wusste man erst, wie klein und unwichtig man selbst war. Früher, als ich meiner Mutter noch wichtig war, hatte sie immer gesagt, dass es gleichgültig ist, wie unwichtig wir für die gesamte Menschheit sind, wir müssen nur diesen ein Menschen finden, für den wir die Welt sind. Ich fragte mich, ob sie das auch Clara erzählen würde, wenn ich nicht mehr da war und sie ihre glückliche Familie wieder hatte, in die ich schon lange nicht mehr hinein passte.
Ein leises Wimmern entwich meinen Lippen und ich presste die Lippen aufeinander, damit kein weiteres diese verließ. Doch ich konnte nicht verhindern, dass meine Tränen noch heißer, noch schneller über meine Wangen liefen. Es tat so furchtbar weh, für niemanden wichtig zu sein. Nur wie Dreck behandelt zu werden – weil ich anders war und anders aussah. Ein Stich durchfuhr mein Herz und ich krallte keine Hand in den dunklen Stoff, der meine linke Brust bedeckte. Erstickt seufzte ich auf, als mich das Bild von Matteo durchfuhr, wie ein Blitz.
Auf eine seltsame Art und Weise mochte ich ihn. Sein Aussehen, dass mich immer an Wärme und Sommer erinnert hatte. Seine sanften graublauen Augen und sein Lächeln. Dieses ganz besondere Lächeln, dass nur für mich galt. Ich hatte gedacht, er wäre anders. Hatte gedacht, er könne direkt in mich hineinblicken und sehen, wer ich wirklich war, wie ich wirklich sein wollte.
Ich presste mein Hand und auf meinen Mund. Kühl presste sich das Metall meiner Piercings in meine Hand. Erstickt keuchte ich auf und wimmerte, als mich die Enttäuschung, die Wut heiß durchfuhren. Ich hatte gedacht, dass Matteo dieser Mensch werden könnte, dieser Mensch, dem ich wichtiger, als die Welt war. Aber ich hatte mich geirrt – so sehr geirrt. Wie Schwerter durchfuhren mich die Bilder des gestrigen Tages. Erst Markus und seine Clique, die mal wieder Geld von mir erpressten, dass ich mir mit kleinen Jobs zusammen gearbeitet hatte. Die Ignoranz meine Mutter, die mich nicht einmal mehr anblickte. Matteos süßes Lächeln, dass uns den Spott von Rika und ihrer Freundin eingehandelt hatte. Das Abwenden meiner Lehrerin. Und dann die Aktion mit den Wasserbomben. Ich hatte versucht, stark zu sein und war einfach weitergegangen. Aber der letzte Ballon war nicht von Markus oder den Anderen gekommen – ich hatte mich nicht umdrehen brauchen. Ich hatte einfach gewusst, dass es Matteo gewesen war. Ich glaube, das war der Augenblick, als ich beschloss, dass das alles keinen Sinn mehr machte.
Mein Leben war ein Scherbenhaufen und ich stand mittendrin. Da war nichts mehr, für das es sich lohnte, weiter zu kämpfen. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Ich hatte mal gelesen, dass man sein Leben noch einmal durchleben würde, wenn es man kurz davor war, zu sterben. Doch in mir war nur diese große, schwarze Leere, die mich immer mehr umschloss, bis ich nur noch von Dunkelheit und Kälte umgeben war. Ich hatte mich so oft gefragt, wie viel Schmerz und Demütigung ein Mensch ertragen konnte, bevor er verrückt wurde - meine Grenze war schon lange überschritten gewesen. Es hatte nur noch wenige Schritte bedurft, bis meine Seele Error geschrien hatte. Und dass es ausgerechnet Matteo sein würde...
Wieder entwich ein Wimmern meinen Lippen. Mein Herz tat so weh und meine Lungen fühlten sich an, als würden sie platzen. Es fiel mir immer schwerer zu atmen. Und gleichzeitig war ich so müde, so furchtbar müde und erschöpft – ich wollte nur noch schlafen. Und das für immer.
Die nächsten Augenblicke vergingen zu schnell, als dass sie mein Kopf richtig verarbeiten konnte. Und waren gleichzeitig so langsam, als würden sie in Zeitlupe vergehen. Mit zitternden Händen packte ich die dunkle Box mit den Schmerztabletten und schüttete sie mir in die offene Handfläche. Kurz betrachte ich die unschuldigen, weißen Kreise, ehe ich den Mund öffnete und sie aufnahm. Schnell spülte ich mit Wasser nach und schluckte. Das ganze geschah dreimal, dann waren alle geschluckt.
Mein Herz flatterte aufgeregt, als ich mich nach hinten fallen ließ und wieder in den dunklen Himmel starrte. Das war es also – meine Ende. Es war nicht glorreich und auch nicht besonders.. Es war einsam, aber es war mein Ende. Ich spürte mein Herz nervös pochen und wusste, dass dadurch die Wirkung noch schneller einsetzen würde, doch erst, als meine Glieder langsam erschlafften und ich meine Augen kaum noch offen halten konnte, realisierte ich wirklich, dass es für mich vorbei war und ich konnte die tiefe Trauer nicht länger aufhalten. Sie riss mich mit sich und ich schluchzte laut auf. Zum ersten Mal seit vielen Jahren bekam meine Mauer Risse und ich fühlte. Die Angst, die Wut, die Trauer... Ich hatte doch nur nicht länger allein sein wollen. Ich hatte doch nur jemanden gewollt, der mich so liebte, wie ich war.
Mit letzter Kraft schloss ich meine Augen, heiße Tränen quollen unter meinen schwachen Lidern hervor, aber ich hatte nicht länger die Kraft, um sie weg zu wischen. Mit jeder Sekunde, die verstrich, spürte ich die Kälte um mich herum stärker, aber es war, wie im Delirium. Es war wie Schweben. War Sterben wirklich so einfach? So sanft...?
„Léon...?!“
Wie aus weiter Ferne erklang dieser Ruf. Diese Stimme. Ich kannte sie, aber mein Geist war schon weit weg. Ich spürte warme Hände, die mein Gesicht umfassten und heißen Atem, der über meine feuchten Wangen kitzelte.
„Gott...!! Léon! Bitte, du darfst jetzt nicht sterben!“ Wieder erklang diese Stimme so sanft und ich schmunzelte leicht. Vielleicht war es ein Engel, der mit mir sprach. Mit letzter Kraft öffnete ich meine Augen, aber ich konnte nur verschwommen sehen. Blonde Haare... Es konnte nur ein Engel sein.
„Ich lasse dich nicht sterben! Hörst du! Du bleibst bei mir!“ Ein letztes Mal seine Stimme zu hören, war wie Musik. Ich war nicht allein, nicht einsam! ER war bei mir... Ein letzter Atemzug und dann wurde alles schwarz.
*************
Es roch steril. Nach Desinfektionsmitteln und Krankenhaus. Roch so das Leben nach dem Tod?, fragte ich mich unwillkürlich und versuchte meine Augen zu öffnen, aber die Blitze, die meinen Kopf durchfuhren, hielten mich davon ab. Ich wollte nach meinem Kopf fassen, doch etwas Warmes hielt sie umschlungen. Ließ sie nicht los und ich kämpfte erneut darum, meine Augen zu öffnen. Erst langsam nahm ich auch den Rest meines Körpers war. Alles schmerzte, besonders mein Hals, der wie Feuer brannte und sich rauer, als Reibeisen anfühlte. Tat es wirklich so weh, tot zu sein?
Mühevoll bekam ich nun doch meine Augen auf und musste blinzeln, bei der Helligkeit, die das Zimmer durchflutete. Ich lag in einem Bett und jemand umklammerte meine Hände. Unwillkürlich schossen mir die Tränen in die Augen. So stark und so schnell, dass meine Lider sie nicht aufhalten konnten und sie heiß über meine Wangen liefen. Eine raue Hand wischte sie fort und ich spürte, wie rissige Lippen meine Stirn küssten.
„Öffne deine Augen, Léon“, ertönte eine so bekannte Stimme. Und mir stockte der Atem konnte es denn wirklich sein? War er wirklich hier bei mir? Mit einem Ruck öffnete ich erneut meine Augen. Erst sah ich alles verschwommen, doch seine Konturen wurden schnell klarer. Sein blonden, kurze Haare, seine leuchtenden, graublauen Augen... Alles wirkte so echt.
„Matteo...“, flüsterte ich rau. Mein Hals fühlte sich an, als würde er zerbersten, so sehr schmerzte es, zu sprechen und doch musste ich seinen Namen sagen.
„Ich werde dich nie wieder alleine lassen“, sagte er mit fester Stimme. „Ich bleibe für immer bei dir.“
Das Versprechen, das in seinen Augen lag, ließ mich hoffen. Ich schluchzte heiser auf, als er sich zu mir beugte und seine Lippen erneut meine Stirn berührten. Ich krallte mich in seine Hände und er betrachtete mich zärtlich, während ich schluchzend und weinend realisierte, dass ich lebte.
Vielleicht war das hier ja ein neuer Anfang.
26 Tage, vier Stunden, 23 Minuten und 12 Sekunden – solange war es her, dass ich versucht hatte, mich umzubringen. Irgendwie hatte ich seit diesem Tag eine neue Zeitrechnung. Als wäre die Welt stehen geblieben und wäre nach meinem Erwachen in neue Bewegung geraten. Vieles hatte an Bedeutung verloren und war mir gleich geworden. Die Schuldgefühle meiner Mutter, die sich Vorwürfe machte. Die Entschuldigung von Markus und seinen Freunden. Der Besuch meiner Lehrerin – das alles war unwichtig geworden.
Ich war gestorben. Die Ärzte hatten gesagt, dass mein Herz aufgehört hatte, zu schlagen. Sie hätten mich in letzter Sekunde retten können. Die Bedeutung dieser Worte hatte ich zu Beginn nicht realisieren können. Erst später wurden die Silben zu Wörtern und gewannen an Bedeutung.
Ich war gestorben.
Ein Teil von mir – und ich wusste nicht, wie viel davon, war ebenfalls für immer gestorben. Keine Ahnung, ob es vorher schon irgendwie fort war und erst danach, aber jetzt war dieser Teil ganz fort. Ich konnte die Welt nicht mehr mit Unbeschwertheit betrachten. Nicht mehr naiv. Da war kein Es wird bestimmt wieder alles gut. Mein Inneres war aufgewühlt und durcheinander. Ich kannte meinen Platz nicht mehr. Früher war ich der Goth gewesen. Der komische Typ, der nirgendwo hinein passte und der deswegen von den anderen verstoßen wurde. Aber diesen Platz hatte ich mir nicht heraus gesucht. Er war mir aufgedrückt wurden. Von Menschen, die mich nicht verstehen konnten und die mich hassten, weil ich anders war.
Ich hatte gedacht, dass ich etwas ändern könnte, wenn ich nicht mehr da war. Ich hatte gedacht, wenn mein Platz nicht hier auf Erden ist, dann vielleicht irgendwo anders. Und jetzt, wo ich wieder da, wieder am Leben war, wusste ich gar nichts mehr.
Mein altes Ich war tot. War gestorben, als ich im Krankenhaus die Augen aufgeschlagen hatte. Und ich hatte nicht die geringste Ahnung, wer ich jetzt war.
26 Tage, vier Stunden, 26 Minuten und fünf Sekunden – solang war es her, dass ich noch wusste, wer ich war. Aber jetzt war einfach alles anders... Meine Mutter, die mich seit Claras Geburt ignoriert hatte, machte sich Sorgen um mich. Markus und seine Clique ließ mich in Ruhe und Mitschüler, die sich vorher in keinster Weise für mich interessiert hatten, schickten mir Karten mit Genesungswünschen. Meine Welt war aus der Bahn geraten. Die Gewohnheiten, die ich kannte und die mir jetzt auf eigenartige Weise fehlten, würden niemals wieder zurück kommen. Und irgendwie hatte ich eine riesige Angst davor.
Vor zwei Wochen hatten sie mich aus dem Krankenhaus entlassen und seitdem hatte ich mit niemanden gesprochen – ich konnte es einfach nicht. Keiner verstand, wieso ich es getan hatte. Oder kamen mit Mitgefühl, dass sie gar nicht empfanden.
Sie kannten mich alle gar nicht. Wussten nicht, wer der wahre Léon war. Was ich wollte, was ich mir wünschte, wovor ich Angst hatte. Es hatte sie vorher nicht interessiert und es interessierte sie jetzt nur, weil ich mich umbringen wollte. Ihr Interesse galt nur für diese kurze Zeit und danach würden alles so werden, wie vorher. Vielleicht nicht bei mir, aber es würde andere geben. Der Mensch war ein Gewohnheitstier und es war so schwer, seine Gewohnheiten zu ändern.
Aber da war noch Matteo... . Schwer seufzte ich auf und betrachtete die kleinen Schneeflocken, die sanft vom Himmel fielen und unseren Vorgarten mehr und mehr weiß färbten. Matteo war anders. Er hatte sein Versprechen gehalten, war jeden Tag zu Besuch gekommen und hatte mir von seinem Tag erzählt. Selbst, wenn ich ihn die ganze Zeit nur stumm ansah, schenkte er mir stets ein Lächeln. Dieses ganz besondere Lächeln, dass er nur für mich hatte. Und jedes Mal, wenn er gehen musste, schien er Angst zu haben, dass ich am nächsten Tag fort sein könnte. Er schien mich zu mögen und immer, wenn er bei mir war, schien die Welt ein kleines bisschen heller zu sein. War mein Inneres nicht mehr ganz so durcheinander, wie zuvor.
Die Welt hätte in den Augenblicken, in denen wir zusammen waren, versinken können. Ich hätte es nicht bemerkt. Ich wusste, dass ich mehr für Matteo empfand, als gut für uns beide war. Ich war kaputt – innerlich gestorben. Ein Mensch, der nicht länger wusste, was es bedeutete zu leben. Er hatte soviel mehr verdient, als mich. Aber ich war egoistisch und fürchtete mich davor, dass er es eines Tages realisieren könnte.
Er war der einzige Mensch, der mich in diesem ganzen WirrWarr noch hielt. Matteo war mein Anker, der mich am Boden festhielt und mein Halt, der mich auffing. Aber ich konnte nicht verhindern, dass ich diese Tatsache als falsch empfand. War es richtig, ihn bei mir zu halten? Ich wollte nicht, dass er den Rest seines Lebens bei mir war, nur weil er dachte, dass er es sein musste.
Mein Inneres zog sich bei diesem Gedanken zusammen und stille Tränen rannen über meine Wangen. Es tat so weh, so weh, auch nur daran zu denken, ihn aufzugeben und doch wusste ich, dass es sein musste.
Ich hatte ihm nicht gesagt, dass ich gehen würde. Ich wollte mich nicht von ihm verabschieden, denn es wäre mir so schwer gefallen. Er war der einzige Mensch, den ich bei mir wollte, aber ich konnte nicht. Ich wollte nicht derjenige sein, der sein Leben zerstörte. Wollte nicht den Hass sehen, wenn er bemerkte, dass ich Schuld war.
Das sanfte Klopfen an meiner Tür riss mich aus meinen Gedanken und schnell wischte ich mir die Tränen von den Wangen – meine Mutter machte sich schon genug Sorgen und ich wollte nicht, dass sie mich jetzt aufhielt.
„Léon?“, fragte sie sanft und klang dabei so zart, als hätte sie Angst, ich würde an jedem lauten Ton zerbrechen. „Dein Zug fährt bald. Wir müssen los.“
Ich nickte ihr zu und sie verließ mein Zimmer. Wieder sah ich zum Fenster hinaus und beobachtete die kleinen Eiskristalle, die sich mehr und mehr zu einer Wand aus Eis formten. Genauso kalt fühlte sich mein Inneres an – es war das erste Mal, dass ich meine Entscheidung anzweifelte, aber es war zu spät, um sie zu ändern.
*************
Zwei Monate, vier Tage, sechs Stunden und 34 Minuten. Soviel Zeit und es schien mir beinahe ewig her, seit ich an diesem einen Tag im November versucht hatte, mich umzubringen und irgendwie hatte ich meine innere Ruhe zurück gefunden.
Ich war zu meinen Großeltern gezogen. Sie wohnten auf einer Insel in der Ostsee. Vilm hieß sie und es gefiel mir wirklich sehr hier. Es war ganz anders, als das Leben, dass ich vorher kannte. Viel ruhiger, aber nicht einsam. Jeder kannte jeden in dem kleinen Ort, in dem ich jetzt lebte und es schien, als würde jeder Mensch so genommen, wie er war.
Meine Großeltern waren stille Menschen. Sie hatten mich ohne zu fragen, bei sich aufgenommen. Ließen mir meine Ruhe und bedrängten mich nicht. Ich half ihnen bei kleineren Arbeiten auf dem Hof. Dieses kleine, abgeschiedene Leben, wo alles nach den Regeln der Natur gehandhabt wurde, gefiel mir sehr. Hier war alles beständig und es schien, als würde die Zeit langsamer fließen.
Es war, als gäbe mir die Insel einen Teil von mir wieder und vielleicht hatte ich einfach diesen Frieden und diese Ruhe gebraucht, um zurück zu mir zu finden. Ich dachte nicht mehr über die Menschen aus meinem alten Leben nach, außer einem: Matteo
Er hatte sich nicht bei mir gemeldet, hatte scheinbar auch keinerlei Versuch unternommen, um mich zu finden. Auf der einen Seite tat es furchtbar weh, aber ein anderer Teil von mir hoffte, dass er mich vergessen würde. Ich war zu kaputt, als dass er an meiner Seite glücklich werden könnte. Er hatte soviel mehr verdient, als mich und ich hoffte, dass er es finden würde. Matteo war ein guter Mensch – ich war mir sicher, dass er sein Glück finden würde.
Mit einem letzten Pinselstrich vollendete ich das Tor des Schafstalles und streckte mich erschöpft. Schmunzelnd betrachtete ich Fritz, den kleinen weißen Mischling, der meinen Großeltern gehörte, wie er versuchte, die Schneeflocken zu fangen, die vom Himmel fielen. Ich schnappte mir die leere Dose und pfiff nach ihm. Gemeinsam gingen wir zurück zu dem kleinen, roten Haus meiner Großeltern.
Ich hatte riesigen Hunger und freute mich schon auf das Abendessen. Auch etwas, was ich mit der Zeit zu schätzen gelernt hatte – die Menschen gingen früh zu Bett und standen zeitig auf. Genug Zeit um zu träumen. Dass die meisten meiner Träume von Matteo beherrscht wurden, versuchte ich zu ignorieren, auch wenn er mir so unglaublich fehlte.
Kaum war im Haus, schlug mir der unglaublich leckere Duft von Kartoffelsuppe und Matjessalat entgegen. Ich wollte gerade in die Küche gehen, um zu fragen, ob ich noch etwas helfen könnte, als es an der Tür klingelte.
„Léon?“, fragte mich meine Großmutter. Ihre Stimme war rau und liebevoll. „Schaust du mal bitte nach, wer geklingelt hat?“
Mit schnellen Schritten war ich bei der Tür und hatte sie in wenigen Augenblicken geöffnet. Erschrocken zog ich die Luft ein und ging unwillkürlich einen Schritt zurück, als ich in sanft funkelnde, graublaue Augen sah.
„Ich hab dir doch versprochen, dass ich dich nicht allein lassen würde“, erklang seine Stimme, die mir Schauer den Rücken hinunter jagten. Mein Augen füllten sich mit Tränen.
Matteo...
Ihn zu sehen, Matteo gegenüber zu stehen, brachte mich mehr aus der Fassung, als ich jemals geglaubt hatte. Meine Gefühle liefen Amok und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich konnte ihn nur anstarren und jede Einzelheit an ihm wahrnehmen.
Seine graublauen Augen, die mich glücklich anstrahlten. Seine weiche, gebräunte Haut. Seine vollen Lippen, die zu einem glücklichen Grinsen verzogen waren. Aber ich sah auch die dunklen Ringe unter seinen Augen und seine angespannten Schultern, auf denen ein riesiger Rucksack thronte. Ich brachte kein Wort über die Lippen, zu aufgeregt war ich.
„Junge, wer ist denn an der Tür?“, erklang fragend die Stimme meiner Großmutter im Hintergrund.
Ihre kleine, etwas dickliche Gestalt drängte sich zur Tür und ich machte unwillkürlich einen Schritt zurück, um ihr Platz zu machen. Meine Oma begrüßte Matteo, als wäre er ein alter Freund. Seine Freundlichkeit schien sie sofort gefangen zu nehmen. Er stellte sich, als einen Freund von mir vor und als sie mich fragend anblickte, konnte ich nur nicken. Mir war jedes Wort im Hals stecken geblieben. Die ganze Zeit hatte ich versucht, vor ihm zu fliehen, um ihn zu schützen und ihn jetzt hier stehen zu sehen, brachte mich richtig aus der Fassung.
„Entschuldigt mich“, presste ich hervor und drängte mich an Matteo vorbei zur Tür hinaus. Die Stellen, an denen mein Körper seinen berührten, brannten, aber ich versuchte es, zu ignorieren. Ich brauchte Luft und Raum zum Atmen. Bevor ich realisierte, dass ich rannte, befand ich mich unlängst unten am Strand. Mit festen Schritten kämpfte ich mich durch die Dünen und ließ mich dann einfach irgendwo in den Sand sinken. Keuchend starrte ich hinaus in das graue Meer, das durch den ruhelosen Sturm wild und unbändig wirkte.
Silben trommelten durch meine Gedanken, bildeten schließlich Wörter und formten einen Satz. Was machte er hier? Es war diese eine Frage, auf die ich nicht die geringste Antwort kannte. Ich war doch gegangen. Mit Absicht, damit er mich endlich vergaß und jetzt war er hier. Hier, auf dieser Insel und ich wusste nicht, wie ich ihm jetzt gegenüber treten sollte. Ich hatte Angst und spürte Scham, fragte mich, ob er nur hier war, weil er mir sagen wollte, wie sehr ich ihn verletzt hatte. Ich kannte ihn doch kaum und trotzdem wollte mein Herz in seiner Nähe sein, denn nur dort fühlte es sich vollkommen.
Ich vergrub meinen Kopf auf meinen Beinen und schlang meine Arme um mich, beinahe so, als wollte ich mich vor der Welt schützen. Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen und mich zu beruhigen, aber es gelang mir nur mäßig. Ich war noch zu aufgewühlt. Tief atmete ich ein und aus. Der salzige Geruch des Meeres umhüllte mich. Aber dennoch verweilten meine Gedanken bei Matteo.
„Soll ich wieder gehen?“
Erschrocken zuckte ich zusammen und sah mit großen Augen zu Matteo, der seitlich zu mir stand und aufs Meer starrte. Ich hatte nicht mitbekommen, dass er mir gefolgt war.
„Nein“, flüsterte ich nuschelnd und hoffte, dass mich Matteo verstanden hatte.
Mit einem Seufzen ließ er sich neben mich nieder. Mein Herz schlug schneller, weil er mir so nah kam und ich konnte seinen Geruch wahrnehmen.
„Warum bist du gegangen?“, wieder riss mich seine Stimme aus den Gedanken. Aber ich schüttelte den Kopf. Ich war noch nicht bereit dazu, darüber mit ihm zu reden. Mit einem entschuldigenden Blick sah ich ihn an und er schien zu verstehen. Er nickte nur und wandte seinen Blick zurück aufs Meer.
„Erzählst du mir es irgendwann?“, fragte er leise. Er betrachtete mich aus seinen graublauen Augen und ich nickte.
„Irgendwann“, erwiderte ich krächzend.
Matteo nickte und seufzte. Verwirrt sah ich ihn an, aber er schüttelte nur den Kopf.
„Irgendwann“, sagte er leise und stand auf. Er streckte mir seine Hand entgegen und mit großen Augen konnte ich nur die langen, schlanken Finger betrachten.
„Komm schon“, meinte er grinsend. „Deine Großmutter wartet bestimmt mit dem Essen auf uns. Wir sollten uns beeilen.“
Er machte eine auffordernde Handbewegung und ich ergriff seine warme Hand. Ein sanftes Kribbeln erfasste meine Haut und verursachte eine kitzelnde Gänsehaut bei mir. Fest umschloss Matteo meine Hand, als wollte er mich nie wieder loslassen. Unwillkürlich erinnerte ich mich an den Tag im Krankenhaus, als ich meine Augen wieder aufgeschlagen und er an meinem Bett gesessen hatte. Es war der gleiche Griff, wie damals.
Der Rest des Tages lief dann an mir vorbei, als wäre ich nur ein stiller Beobachter. Beim Essen wurde Matteo von meinen Großeltern ausgefragt. Sie schienen ihn sehr zu mögen, denn die stillen Menschen tauten in seiner Gegenwart richtig auf. Dann später, als ich ihm mein Zimmer zeigte und er seine Sachen in ein Fach einräumte, das ich für ihn freigemacht hatte, redeten wir kein Wort. Aber es war ein gutes Schweigen, ein friedliches.
Weil meine Großeltern keine Luftmatratze besaßen und mein Bett groß genug war, lagen wir später zusammen im Dunkeln. Mit einem Seufzen streckte sich Matteo und kuschelte sich tiefer ins Bett. Sein Atem wurde ruhiger und gleichmäßiger und ich dachte, er würde längst schlafen, als er leise murmelte, „Ich bin wirklich froh, dich gefunden zu haben. Ich hab dich so vermisst.“
Danach schien er wirklich zu schlafen. Doch ich lag da, wie erstarrt und sah zum vollen Mond hinaus. Im Zimmer war es bis auf das leise Atmen von Matteo und dem lodernden Knacken im Ofen ruhig. Still rann mir eine Träne über die Wange. Ich wusste selbst nicht, warum. Matteos Nähe, seine Worte, sein Geruch – als das verwirrte mich so und ich konnte diese Gefühle in mir nicht mehr einordnen. Alles – alles – war durcheinander geraten. Nichts war mehr auf der richtigen Bahn. Warum war er nur hier und brachte alles durcheinander? Ich wollte die Antwort unbedingt wissen und gleichzeitig fürchtete ich mich davor. Ich wusste nicht mehr, was ich fühlen sollte. All dieses Chaos war zu viel für mich.
Zum ersten Mal seit langem wünschte ich mir, dass ich an diesem einen Tag doch gestorben wäre. Ich verstand mich selbst nicht mehr.
~Zwei Monate früher~
Matteo
Es gab nur einen Grund, warum ich gerne in den Englischkurs von Frau Möller ging und das war er. Léon. Auf eine mir unerklärliche Weise zog er mich an, wie die Motten das Licht.
Zum ersten Mal war er mir damals zu Beginn des neuen Schuljahres aufgefallen. Die Sonne hatte geschienen. Einzelne Strahlen waren auf ihn gefallen und hatten sein schwarzes Haar zum Leuchten gebracht. Aber es war nicht nur sein Aussehen gewesen, das mich von Anfang an in den Bann gezogen hatte. Es war seine Aura. Dieser melancholische Ausdruck in seinen dunklen Augen, seine Schweigsamkeit und seine Stille – er war anders, als alle Menschen, denen ich bisher begegnet war.
Ich fing an, ihn zu beobachten. Und sah, wie schwer er es in der Schule hatte. Wie sehr er gemobbt und was ihm von Markus und seinen Freunden angetan wurde. Aber ich hatte nicht den Mut, ihm beizustehen. Ich stand offen zu meiner Homosexualität und hatte mich geoutet, ohne an die Konsequenzen zu denken. Ich wusste ganz genau, wie es war, anders zu sein. Deshalb gemieden und verspottet zu werden und ich wollte ihm einfach nicht noch mehr Probleme bereiten. Und deshalb schwieg ich. Vielleicht auch aus Selbstschutz, aber ich wollte nicht, dass die anderen ihm noch Schlimmeres antaten.
Doch irgendwann fiel mir auf, dass er sich noch mehr zurück zog und dass er noch trauriger wirkte, als sonst. Ich beschloss, ihm zu folgen und beobachtete, wie er zu einer Lichtung ging, die mitten im Wald lag. Es schien ein kleines Feld zu sein, aber jetzt im Herbst war alles grau. Ohne auf seine Kleidung zu achten, ließ er sich auf das feuchte Gras fallen. Erschöpft und mehr als kaputt wirkte er auf mich. Ich wollte mich gerade zurückziehen und ihm seine Ruhe lassen, als ich sah, wie seine Schultern anfingen zu beben und sein Körper von heftigen Schluchzern geschüttelt wurde. Es war ein Ausdruck tiefster Verzweiflung und Einsamkeit. Sein Schmerz war beinahe spürbar und ich beschloss, das zu ändern. Ich wollte nicht länger nur hinsehen, ich wollte ihm helfen. Denn mein Herz sehnte sich mehr und mehr nach ihm. Das war der Augenblick, an dem ich beschloss, alles zu ändern.
Und jetzt saß ich hier und beobachtete ihn. Mit halbem Ohr lauschte ich den Worten von Frau Möller, die versuchte, uns Edgar Allan Poe näher zu bringen. Léon starrte die ganze Zeit auf sein Blatt. Seine grazilen Finger spielten mit dem Stift in seiner Hand und er wirkte tief in Gedanken versunken und trotzdem konnte ich meinen Blick nicht von ihm wenden – ich liebte es zu sehr, ihn zu beobachten. Als hätte er meine Gedanken wahrgenommen, blickte er plötzlich in meine Richtung. Mit großen Augen sah er mich an und warf mir dann – fast unmerklich – ein schüchternes Lächeln zu. Strahlend erwiderte ich es und dachte, dass ist der Augenblick, auf den ich solange gewartet habe. Der Augenblick, in dem er mich auch endlich wahrnimmt.
Doch es brachte uns nur den Spott von Rika und ihrer Freundin ein. Mit Bedauern sah ich, dass er sich wieder in sein Schneckenhaus zurückzog. Genau das hatte ich nicht gewollt. Irgendwie musste ich das wieder auf die Reihe bekommen und deshalb wartete ich schon ganz hibbelig auf das Ende des Schultages. Ich hatte den Entschluss gefasst, endlich mit ihm zu reden und konnte es kaum erwarten, dass er endlich aus dem Schulhaus kam.
Ich stand bei einer Gruppe Mädchen, die auf mich einredeten, aber deren Gespräch für mich nur am Rande verlief. Meine ganze Aufmerksamkeit lag auf dem Ausgang der Schule und als Léon endlich rauskam, wollte ich ihm erfreut folgen, doch Markus und seine Clique hielten mich auf. Frank trug scheinbar etwas in seinem Shirt und als ich näher hinsah, erkannte ich, dass es sich um gefüllte Wasserballons handelte. Noch ehe ich realisierte, was Markus vorhatte, schnappte der sich bereits den ersten Ballon und warf ihn auf Léon. Der Ballon traf ihn am Hinterkopf und verspritzte rote Farbe, aber Léon blieb nicht stehen, sondern ging stoisch weiter. Ich bewunderte seinen Mut und wollte ihm folgen, als mich Markus an der Hand packte.
„Wenn du nicht willst, dass wir ihm noch Schlimmeres antun, Schwuchtel, dann schießt du jetzt den Ballon“, zischte er und umfasste mein Handgelenk fester.
Erschrocken sah ich ihn an, aber er grinste nur wild und zwang mich, einen der Wasserballons zu packen. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Ballon halbherzig Richtung Léon zu werfen. Ich hoffte, dass ich nicht traf, aber er platzte vor seinen Füßen und ich traute mich nicht länger, zu ihm zu schauen, aus Angst, dass er erkennen würde, was ich getan hatte.
*************
Am nächsten Tag kam Léon nicht zur Schule und ich machte mir große Sorge. Ich hatte Angst, furchtbare Angst, dass er sich etwas antun würde. Aber als Markus und seine Freunde in der Mittagspause über ihre gestrige Aktion prahlten, lief das Fass über.
„Sag mal, spinnst du?!“, zischte ich und schubste Markus mit aller Kraft.
Er grinste mich nur an und meinte feixend zu seinen Freunden, „Na, seht euch mal die kleine Schwuchtel an! Hat ganz schön Mumm.“
Er versuchte meine Handgelenke zu packen, aber ich wirbelte herum und nutzte Markus Schwung, um ihn in den Rücken zu stoßen. Er landete kopfüber im Dreck. Wütend beugte ich mich zu ihm runter.
„Wenn er sich irgendwas angetan hat, dann gebe ich dir die Schuld dafür“, zischte ich ihm entgegen.
Dann schnappte ich meinen Rucksack und verließ unbemerkt die Schule. Ich hielt es keine Sekunde länger dort aus. Ich musste wissen, ob es Léon gut ging. Mein erster Weg führte zur Bibliothek. Dort hielt er sich meistens nach der Schule auf, aber ich fand ihn nicht. Auch an keinem anderen Ort danach, bis mir wieder die kleine Lichtung in den Sinn kam, auf der ich ihn weinen gesehen hatte.
Gedanklich schaltete ich auf Autopilot. Ich versuchte, so schnell wie möglich dort hinzu gelangen, denn das schlechte Gefühl verstärkte sich in meinem Inneren und wurde zu einem großen Klumpen Eis, der sich mehr und mehr zusammen zog.
Und als ich schließlich ankam, hörte mein Herz auf, zu schlagen. Ihn dort so leblos liegen zu sehen, versetzte mich in Angst. Ich rüttelte ihn, aber er war kaum ansprechbar und dann sah ich die kleine Tablettenbox. Alles andere lief dann, wie in Zeitlupe an mir vorbei. Ich rief den Notarzt und wartete voller Sorge, dass sie schnell kamen. Die Ärzte und Rettungsassistenten wussten sofort, was zu tun war. Ich glaube, ich hatte noch nie soviel Angst, wie in den Stunden, als Léon im OP lag und ich nicht wusste, was mit ihm passierte. Ich saß im Warteraum und sah seine Mutter, die zusammen mit einem Kind und einem fremden Mann kam, der eher genervt, als besorgt schien. Unwillkürlich fragte ich mich, wie es ihm zu Hause ergehen mochte.
Die Stunden vergingen elendig langsam. Jede Minute zog sich hin und wurde beinahe zu einer Ewigkeit. Ich ging immer wieder den Gang entlang und als sie ihn endlich in ein Zimmer brachten, atmete ich erleichtert auf. Ihn dort auf dieser Liege zu sehen – bleich, leblos, mit flachen Atem. Versetzte meinem Herzen einen Stich.
Das war der Augenblick, als ich mir schwor, ihn nie wieder alleine zu lassen.
~Gegenwart~
Die roten Zahlen meiner Digitaluhr verrieten mir, dass es bereits nach Mitternacht war, als ich mich aus dem warmen Bett erhob und zur Fensterbank ging. Ich konnte einfach nicht schlafen. Mein Kopf war zu ruhelos und meine Gedanken stoben hin und her. Im Zimmer war es kalt. Scheinbar war das Feuer ausgegangen und der kleine Haufen Glut spendete nicht genug Hitze, um das Zimmer zu erwärmen. Ich hauchte gegen die kalte Fensterscheibe und sah zu, wie mein warmer Atem dagegen schlug.
Die Scheibe beschlug und kurz spiegelte ich mich darin wider. Im fahlen Licht des Mondes war meine Haut noch blasser, als sonst. Dunkle Augenringe befanden sich unter meinen dunklen, traurig schimmernden Augen und ich biss mir auf die Unterlippe, als ich spürte, wie mir erneut Tränen in die Augen schossen. Es war einfach zu viel. Alles auf einmal. Matteo brachte die Stille, um die ich gekämpft hatte, nur mit einem Lächeln vollkommen durcheinander. Und gleichzeitig war ich so erfüllt von Glück und Freude. Er war hier. Hatte nach mir gesucht, weil er mich sehen wollte, weil ich ihm wichtig war und doch, ganz tief in meinem Inneren konnte ich mich einfach nicht freuen, denn ich wusste nicht, warum. Ich konnte einfach nicht glauben, dass jemand, wie er jemanden, wie mich mochte, vielleicht sogar lieben könnte. Und doch war er schon eine ganze Woche bei mir. Wollte mir nahe sein. Und auch, wenn ich seine Umarmungen, sein zärtliches Lächeln mehr als genoss, wusste ich, dass es falsch war.
Tiefe Angst schnürte mir die Kehle zu und ich keuchte leise auf. Ich presste mir die Hand auf den Mund und versuchte, alle anderen Laute zu unterdrücken, während mir die Tränen die Wangen hinunter liefen. Mein ganzes Leben hatte ich mir jemanden gewünscht, der mich so mochte, so liebte, wie ich war. Aber ich hatte immer nur die schlechten Seiten der Menschheit erlebt. Abscheu, Hass, Wut, Demütigung, Ignoranz – das waren meine alltäglichen Begleiter gewesen und jetzt, da sich wirklich jemand für mich interessierte, vielleicht sogar mehr als Freundschaft wollte, hatte ich Angst. Fürchterliche Angst, davor mich auf ihn einzulassen und verletzt zu werden. Ihm mein Herz zu öffnen, es ihm offen darzulegen, nur damit er es brechen konnte. Wie sollte ich jemanden vertrauen können, nachdem es immer wieder gebrochen wurde? Wie sollte ich Matteo vertrauen, wenn er sich so leicht von anderen beeinflussen ließ?
Ich mochte ihn, aber da war noch so viel mehr und ich hatte furchtbare Angst, diese Gefühle weiter zu ergründen, denn es war nur eine Frage der Zeit, bis ich wieder enttäuscht wurde. Nichts – nichts – auf dieser Welt war unendlich. Das hatte ich mit meinem Tod gelernt. Sterben war so einfach. Sanft, friedlich, aber Leben... Leben war so schwer und ich wusste nicht, ob ich die Kraft hatte, dieses Leben mit jemanden zu teilen. Ich hatte nicht einmal die Kraft, mich Matteo zu öffnen, hatte Angst, ihm zu vertrauen, denn die furchtbare Vorstellung, wie es enden könnte, war für mich zu greifbar. Deshalb war ich gegangen – seine Nähe war einfach zu wichtig für mich geworden, zu vertraut. Die Sekunden, in denen er nicht bei mir gewesen war, waren mir zu schmerzhaft erschienen. Matteo war mein Mittelpunkt geworden und ich wusste, wenn ich es nicht beendete, würden wir beide verletzt werden.
Das hatte er nicht verdient – mich hatte keiner verdient. So oft war mir eingehämmert wurden, wie wenig ich wert war, als dass ich es nicht unlängst glauben würde. Eine Welt ohne mich – sie schien für viele Menschen soviel besser zu sein. Und deshalb konnte ich einfach nicht verstehen, warum er jetzt hier war. Neben mir schlief, mich im Arm hielt, als wäre ich etwas Besonderes, als wäre ich für ihn das Wertvollst auf Erden. Ich konnte nicht glauben, dass das seine Gefühle sein sollten. Dass er mich wirklich auf diese Weise lieben könnte. Und auch wenn der Wunsch, zu ihm zu gehen, mich an ihn zu schmiegen und die Welt zu vergessen, alles hinter mir zu lassen, immer größer wurde, konnte ich das einfach nicht. Ich würde nur wieder alles kaputt machen – ich war es nicht wert, geliebt zu werden. Nicht auf diese Weise. Ich wollte ihn nicht dem Hass der Welt aussetzen, nur weil Matteo mit mir zusammen sein wollte.
Erstickt schluchzte ich auf und sank neben dem Fenster zu Boden. Warum hatte er mich nicht einfach dort liegen lassen? Warum hatte er mich finden müssen? Es war so schwer – so verdammt schwer, ihm nicht zu glauben. Nichtmal die Sterne waren unendlich, warum sollten es dann seine Gefühle für mich sein? Ich presste mein Gesicht auf meine Knie und atmete zitternd ein. Ich würde es nicht ertragen können, wenn er sich von mir abwenden würde, wenn er bemerkte, dass ich nicht der Richtige war. Ich war zu kompliziert und die Welt hatte mir oft genug gezeigt, dass auf ihr kein Platz für mich war – und doch hoffte mein dummes, dummes Herz, dass sein Platz bei Matteo war. Ich sah hinauf zum Fenster, durch das der Mond hell schien. Matteos leise Atemgeräusche erfüllten den Raum. Ich fühlte mich weiter weg von ihm, als jemals zuvor. Jetzt, da er so nah, so leicht greifbar für mich, konnte ich es nicht ertragen, bei ihm zu sein, denn jeder Augenblick in seiner Nähe zeigte mir nur mehr und mehr auf, was ich niemals haben würde.
Ermattet sank mein Kopf zurück auf meine Knie. Ich war so müde, so endlos erschöpft. Ich hatte einfach keine Kraft mehr. Ich schloss meine Auge und mit der Erinnerung an sein zärtliches Lächeln schlief ich ein.
*************
„Léon?“
Irgendetwas rüttelte an mir und eine sanfte Stimme rief meinen Namen, aber ich war noch zu sehr vom Schlaf eingenommen, um zu erkennen, wer es war.
„Léon, bitte wach auf! Du bist schon eiskalt!“
Mit einem Ruck öffnete ich die Augen und sah in die erschrockenen, graublauen Augen von Matteo. Ich vergrub mein Gesicht nur Augenblicke später erneut auf meinen Beinen und versuchte, mich zu erinnern, was passiert war. Doch Matteo ließ mich keinen klaren Gedanken fassen, er zerrte mich nach oben und drängte mich zum Bett. Seine Nähe, sein Atem, seine Besorgnis – das war auf einmal und in diesem Augenblick einfach viel zu viel und ich riss mich von ihm los. Wollte nur einen Augenblick durchatmen, aber Matteo griff erneut nach mir.
„Du musst ins Bett und dich aufwärmen“, sprach er mit drängender Stimme auf mich ein und schnappte sich meinen Ellenbogen, um mich wieder zum Bett zu dirigieren. „Ich will nicht, dass du krank wirst.“
Die Besorgnis in seiner Stimme setzte mir zu. Machte mich nervös und ängstlich. Noch nie hatte sich jemand um mich gesorgt und dass es nun Matteo tat, ließ mich wieder daran denken, wie falsch das hier alles war.
Wieder riss ich mich los. Jetzt noch heftiger und nachdrücklicher. Matteo sah mich aus schreckgeweiteten Augen an und wollte wieder nach mir greifen.
„Léon...“, sprach er leise, fast flüsternd meinen Namen aus, aber ich schüttelte den Kopf.
„Nicht“, erwiderte ich heftig. „Fass mich nicht an!“ Funkelnd blickte ich in Matteos Augen und verschränkte meine Arme abwehrend um meinen Körper. Ich konnte seine Nähe nicht länger ertragen. Meine Selbstbeherrschung kostete mich alles und ich wollte ihm nicht noch näher kommen, denn dann gäbe es wirklich keinen Ausweg mehr für uns. Ich war ihm voll und ganz verfallen. Ich hatte mich unwiderruflich in ihn verliebt, aber es würde niemals ein Uns auf dieser Welt geben. Ich wollte, dass er wirklich glücklich werden würde und das konnte er nicht mit mir.
Fassungslos blickte mich Matteo an und kam einen Schritt auf mich zu. Ich trat einen Schritt zurück. Er durfte nicht näher kommen.
„Léon, was hast du denn? Was ist mit dir los?“, fragte Matteo leise.
Ich spürte, wie ich zitterte. Diese Frage hatte ich so gefürchtet, weil ich wusste, dass ich ihm jetzt wehtun musste.
„Mit mir ist alles in Ordnung“, versuchte ich ihn mit fester Stimme zu überzeugen. „Und wenn du mich kennen würdest, wüsstest du das.“
Erschrocken wankte Matteo einen Schritt zurück, ehe er die Augen zu Schlitzen verzog und stehen blieb.
„Das bist nicht du. Das ist nicht der Léon, den ich kennengelernt habe.“ Er sprach mit fester Stimme und brachte meine Entschlossenheit zum Schmelzen. Ich krallte meine eiskalten Hände in meine Oberarme und starrte ihn an.
„Rede mit mir, Léon“, Matteos Stimme hatte wieder einen sanften, fast bittenden Ton angenommen und ich war so kurz davor, nachzugeben. Aber das wäre falsch. Ich schüttelte nur heftig den Kopf und wandte meinen Blick ab. Ich hatte nicht länger die Kraft, in seine bittenden Augen zu sehen.
„Wir sind Freunde und du kannst mit mir über alles reden. Bitte, ich will dich nicht verlieren.“
Verdammt, seine sanften Worte raubten mir jede Kraft, aber ich konnte, ich durfte jetzt nicht nachgeben.
„Du kannst nichts verlieren, was niemals dagewesen ist“, erwiderte ich mit tonloser Stimme und nahm sein erschüttertes Einatmen war. „Wir sind keine Freunde. Das waren wir nie! Ich verstehe auch gar nicht, warum du hier bist.“
Matteo wankte und ich sah deutlich die Tränen, die in seine Augen schossen. Ich tat ihm so weh und ich hasste mich dafür, aber es war besser so. Ein glatter Bruch, der schnell verheilen würde, damit er endlich glücklich sein konnte. Was aus mir geschah, war egal. Hauptsache es ging ihm gut. Hauptsache, er fand seine richtige Liebe, die ich niemals sein konnte, so zerstört und kaputt und wertlos, wie ich war.
„Léon...“, wisperte er. Sein Stimme schwankte und klang rau von den Tränen, die er unterdrücken wollte. „Ich bin hier...“,tief holte er Luft. „Ich bin hier, weil du mir wichtig bist. Weil ich dich nicht verlieren wollte, weil ich dir versprochen habe, dass ich dich nie allein lassen würde.“
Ich musste schlucken. Seine Worte bedeuteten mir soviel, aber ich durfte jetzt nicht nachgeben.
„Ich glaube dir nicht“, flüsterte ich heiser. „Wenn ich dir wirklich etwas bedeuten würde, hättest du nicht den Luftballon geworfen. Hättest du früher mit mir geredet und nicht erst jetzt. Ich wünschte, du hättest mich sterben lassen.“
Ich sah, wie Matteo erschrocken zurück zuckte. In seinem Gesicht spiegelte sich soviel Schmerz, dass ich ins Schwanken kam, aber ich konnte nicht. Mir schossen die Tränen in die Augen, als ich die nächsten Worte aussprach, die niemals so gemeint waren.
„Ich hasse dich und ich will, dass du gehst. Misch dich nie mehr in mein Leben ein. Ich will dich nie wieder sehen.“
Es dauerte Augenblicke, bis Matteo realisierte, was ich gesagt hatte. Sein Körper wankte und er wollte nach mir greifen, aber ich wandte mich ab und ging zum Fenster.
„Geh endlich“, wiederholte ich meine Worte und hörte Sekunden später, wie er seine Sachen packte. Leise öffnete er die Tür und ich holte schweratmend Luft.
„Léon, ich hasse dich nicht“, seine Stimme klang tränenerstickt. Ich krallte meine Hände in den hölzernen Fenstersims. Es kostete mich all meine Kraft, ihn nicht anzusehen. „Im Gegenteil: Ich liebe dich.“
Und dann ging er. Das Einzige, was ich noch hörte, war das Zuknallen der Tür und seine schnellen Schritte, als er die Treppe hinunter ging.
Wieder sah ich mein Spiegelbild an, sah die Tränen, die meine Wangen hinab liefen und ich konnte sie nicht aufhalten. Heftige Schluchzer schüttelte meinen Körper und ich versuchte, keuchend Luft zu holen, was mir kaum gelang.
Ich liebe dich doch auch, Matteo. Aber es ist besser so...
~*****~
Innerlich versinke ich,
äußerlich nur halb.
Vergessen aller Träume
durch die Ewigkeit.
Kein Platz mehr, um zu leben.
Atmen fällt mir so schwer.
Mein Platz an deiner Seite
- nun ist er leer.
Dunkelheit umschließt mich nun,
alles Licht ist fort.
Selbst die Unendlichkeit der Sterne
erlischt ohne dein Wort.
Ohne dich ist alles leer.
Mein Herz – es bleibt nicht stehen.
Es klopft und pocht voll Sehnsucht nun
- und doch ließ ich dich gehen.
Kein Platz für uns zum Leben.
Atmen fällt uns so schwer.
Ohne dich an meiner Seite
ist meine Seele leer.
Kann nicht mehr heilen,
nicht mehr leben.
Doch gäb ich alle Ewigkeit,
um dir noch einmal zu begegnen.
~*****~
Wie lange hielt ein Mensch durch, wenn er kurz davor war, zu zerbrechen? Ich hatte keine Tränen mehr. Sie waren schon längst versiegt und doch wurden der Schmerz und die Sehnsucht, die Matteo hinterlassen hatte, immer schlimmer. Ich hatte seit die Tagen nichts gegessen und mir tat alles weh, aber die körperlichen Schmerzen waren nichts im Vergleich zu den tosenden, zornigen Gefühlen in meinem Inneren. Selbsthass und Wut auf mich wurden abwechselnd von Sehnsucht und Kummer abgelöst. Ich vermisste ihn so. Ich hätte nie gedacht, dass es mir so schwer fallen würde, ihn gehen zu lassen. Die Zeit, die Welt verlor ohne ihn an jeglicher Bedeutung. Die ganze Zeit hatte ich gedacht, dass ich das Richtige tue, wenn ich ihn von mir fort stieß, aber jetzt, wo mich Kummer und Sehnsucht und Traurigkeit überfielen, konnte ich nicht mehr klar denken. Ich wollte so sehr, dass er zurück kam. Aber diese Hoffnung konnte ich wohl ganz begraben. Nachdem, was ich ihm alles an den Kopf geworfen hatte. Ich könnte es Matteo nicht verdenken, wenn er mich jetzt hassen würde. Ich hatte einen schrecklichen Fehler begangen – jede Sekunde, die Matteo nicht bei mir war, verfluchte ich mich selbst dafür, dass ich ihn hatte gehen lassen. Dabei brauchte ich ihn doch, wollte ihn doch ganz nah bei mir spüren und nie wieder loslassen. Er war doch alles, was ich in dieser Welt brauchte – er war doch meine ganze Welt!
Nahezu apathisch saß ich auf meinem Bett und starrte aus dem Fenster. Seit dem Tag, an dem Matteo gegangen war, regnete es draußen. Das Meer stürmte, als spiegelte es meine innersten Gefühle wider. Alles war grau in grau. Die Welt hatte an jeglicher Farbe verloren. Ich wusste einfach, dass die Welt ohne Matteo nie wieder die gleiche sein würde. Und doch hatte ich ihn gehen lassen... Sollte es sich dann nicht richtiger anfühlen, dass er nicht mehr bei mir war? Aber im Gegenteil: Jede endlose Sekunde ohne ihn war so leer, so grau, so ohne Leben, dass sich jede einzelne davon anfühlte, als würden sie wie Glassplitter in meine Seele stechen. Ich hasste mich so sehr dafür, dass ich ihn so verletzt hatte, auch wenn ich ihn dadurch nur hatte schützen wollen. Aber jetzt, da er wirklich weg war und ich keinerlei Hoffnung hatte, dass er wieder zurückkehrte, fühlte es sich als der größte Fehler der Welt an.
Ich verstand es nicht! Es war einfach zu viel. Wütend vergrub ich meine Hände in meinen Haaren und zog daran. Selbst dieser simple Schmerz verschaffte es nicht, die Schmerzen in meinem Inneren zu übertrumpfen und ihn mich vergessen zu lassen. Ich wollte nicht mehr. Ich wollte nur noch vergessen.
Zaghaft klopfte es an meiner Tür und obwohl ich niemanden sehen wollte, rief ich ein leises „Herein“. Die Tür öffnete sich sanft und meine Großmutter trat langsam ein. Ich wandte mein Gesicht ab. Ich konnte niemandem mehr in die Augen schauen.
„Léon?“, ihre Stimme klang sanft und leise. Ich musste schlucken, als mir Tränen in die Augen schossen. „Kann ich mit dir reden?“
Ich nickte und wandte mich zu ihr. Ihre gütigen grauen Augen sahen mich liebevoll an.
„Warum ist Matteo so schnell fort?“ Das war genau das Thema, über das ich wirklich nicht sprechen wollte. Ich zuckte nur mit den Schultern und starrte auf meine Bettdecke.
„Er hat geweint“, fuhr meine Großmutter fort. „Habt ihr euch gestritten?“
Wieder zuckte ich mit den Schultern und meine Großmutter seufzte auf.
„Ich kann verstehen, wenn du nicht mit mir darüber reden willst“, ihre Stimme war weiterhin sanft und sie begann, mir über den Hinterkopf zu streicheln.
„Dein Leben war nie einfach, aber du warst immer ein Kämpfer. Du hast einmal im Leben aufgeben, aber jemand hat dir eine zweite Chance gegeben. Nutze sie. Matteo hat dich nicht umsonst gerettet.“
Bei ihren sanften Worten konnte ich die Tränen nicht länger halten und sie liefen mir meine blassen Wangen hinunter.
„Und was ist, wenn ich alles falsch mache“, fragte ich wimmernd. „Wenn er mich irgendwann hasst, weil er merkt, wie kaputt ich bin?“
Sanft streichelte meine Großmutter über meine Haare, bis sie mein Gesicht mit beiden Händen packte, so dass ich ihr in die sanften grauen Augen blicken musste.
„Im Leben gibt es kein Schwarz und Weiß, Léon. Da sind soviele verschiedene Grautöne, die die meisten Menschen gar nicht wahrnehmen. Nichts im Leben ist sicher, aber egal, wie schwer, wie lang oder wie schmerzerfüllt ein Leben ist, wenn du die Liebe eines Menschen besitzt, verliert alles andere an Bedeutung“, ihre Stimme klang so ernst, dass ich unwillkürlich schluckte. „Denn Liebe – gleichgültig in welcher Form – ist ein Gefühl, dem man sich immer sicher sein kann. Sie ist nicht falsch und auch nicht ohne Risiko, aber wenn du es nicht eingehst, wirst du vielleicht nie glücklich.“
Ich keuchte auf. Ihre Worte waren so wahr, aber ich hatte riesige Angst. Angst davor, dass er mich hassen könnte. Besonders jetzt, da ich ihm diese Worte an den Kopf gehauen hatte.
„Aber ich habe Angst“, meine Stimme zitterte, aber ich versuchte weiterzusprechen. „Und es ist zu spät. Ich habe ihn zu sehr verletzt.“
Wieder lächelte mich meine Großmutter sanft an.
„Für die Liebe ist es nie zu spät, Léon. Matteo liebt dich. Von ganzem Herzen. Also nutze deine Chance und werde glücklich.“
Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte, als meine Großmutter mir ein letztes Mal über den Kopf strich und dann langsam aufstand, um zu gehen. Es war alles so durcheinander in mir und doch war da dieses eine Gefühl, dass immer stärker wurde. Ich wollte nur ihn und ganz gleich, was jemals geschehen würde, er war derjenige, der meine Welt war und für den mein Herz schlug.
Langsam rappelte ich mich auf. Ich schwankte kurz, als ich den Boden berührte, aber dann packte ich meine kleine Reisetasche und stopfte sie voll. Einfach blind alles rein, was ich vielleicht brauchen könnte. Ich hatte einen Entschluss gefasst.
Egal, was passieren könnte, ich würde um Matteo kämpfen. Ich musste es wenigstens versuchen...
*************
Es regnete, als ich vor seiner Haustür stand. Mein Großvater hatte mich zur Fähre gefahren, von der aus ich zum Festland gelangte. Kurze Zeit später saß ich schon in einem Zug. Die acht Stunden, die ich fuhr, waren mir wie eine Ewigkeit vorgekommen, aber mein Entschluss war nicht einmal ins Schwanken geraten, doch jetzt, wo ich vor seiner Haustür stand und mein Zeigefinger über den Klingelknopf schwebte, kamen die alten Ängste wieder auf. Doch ehe ich auch nur einen Gedanken daran verschwenden konnte, wurde die Haustür aufgerissen und ich stand Matteo gegenüber.
Erschrocken sah ich ihn an und er erwiderte meine Blick aus großen Augen. Seine Lippen formten leise ein Wort. Léon. Ich musste etwas sagen. Irgendetwas.
„Ich...ich...“, begann ich stotternd. Meine Stimme klang rau. Voll von unterdrückten Gefühlen. „Verzeih mir.“
Zwei Wörter. Das war alles, was ich rausbrachte. Meine Gefühle hatten die Kontrolle übernommen. Ich spürte, die warmen Tränen, die meine Wangen hinunter liefen und sich mit den einzelnen Regentropfen vermischten. Ich wollte ihm so viel auf einmal sagen, aber es fiel mir so schwer.
Ich sah, wie Matteo schluckte und wie sich seine Hand verkrampfte, er wollte zum Reden ansetzen, aber ich unterbrach ihn, „Bitte, Matteo. Es tut mir so leid. Ich wollte das alles gar nicht sagen, aber ich hab so große Angst, dass du mich irgendwann hassen könntest. Ich will nicht, dass du unglücklich bist, aber ich kann dich auch nicht gehen lassen, weil ich dich zu sehr...“
Matteo stoppte meinen Wortschwall, in dem er auf mich zu trat und mich heftig umarmte. Er presste mich so fest an sich, dass ich seinen ganzen Körper spüren konnte. Sein Herz pochte rasend schnell und ich vergrub meine Hände in seinen seinem dunkelgrauen Pullover. Ihn so nah zu spüren, raubte mir den Atem und gleichzeitig durchströmte mich so ein Glücksgefühl, dass ich heftig aufkeuchte. Ich zitterte in seinen Armen, denn die Gefühle nahmen Überhand – ich hatte gedacht, dass ich ihn nie wieder sehen, geschweige denn berühren würde. Aber jetzt, hier in seinen Armen war alles heil, alles ganz – genau hierhin gehörte ich.
Sanft hob Matteo mein Gesicht an. In seinen großen, graublauen Augen glitzerten Tränen und der Ausdruck in ihnen war so sanft, dass ich schlucken musste. Er war alles, was ich brauchte, alles was ich jemals wollen würde.
„Ich dich auch, Léon“, flüsterte er leise und sein Gesicht kam mir immer näher. „Von ganzem Herzen.“
Wispernd sprach er diese Worte aus und sein süßer Atem fuhr sanft über meine geöffneten Lippen. Und als sich unsere Lippen zum ersten Mal trafen, erleuchtete die Welt in einem strahlend hellen Licht. Das Gefühl seiner rauen, rissigen, aber so sanften Lippen prägte sich tief in mir ein.
Und ich wusste, endlich war ich angekommen.
Zarte, sanfte Küsse wurden auf meinem nackten Rücken verteilt und ich spürte seine warmen Hände, die über meine Seiten strichen. Kaum spürbar. So sanft, wie die Berührung eines Schmetterlingflügels. Schauer liefen über meinen Körper, eine Gänsehaut bildete sich und ich brummte wohlig auf. Ich spürte sein Lächeln auf meiner Haut, ehe er erneut sanfte Küsse auf meinem empfindlichen Rücken verteilte. Immer weiter höher, bis ich seinen warmen Atem in meinem Nacken erspüren konnte.
„Guten Morgen“, flüsterte ich und wandte meinen Kopf leicht nach hinten.
„Guten Morgen“, erwiderte er. Leise lächelnd und kam meinen Lippen immer näher.
Ein wohliges Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus und ich konnte ein leises Seufzen nicht unterdrücken. Ich liebte es so sehr, wenn er ganz nah bei mir war. Seine Haut auf meiner zu spüren, war eines der schönsten Gefühle, die ich je zu verspüren gehofft hatte. Endlich trafen sich unsere Lippen zu einem überaus sanften Kuss, den ich nur zu gerne erwiderte. Die Weichheit seiner Lippen, sein Geruch, sein Geschmack – all dass hüllte mich ein. Ich liebte es so, in bei mir zu haben.
Tief aufseufzend löste er den Kuss und ließ mir Platz, so dass ich mich umwenden konnte. Ich blickte in seine sanften, graublauen Augen, ehe ich ihn am Nacken packte und zu mir zog. Das erneute Gefühl, seine Haut auf meiner zu fühlen, ließ mich leise aufstöhnen.
„Noch nicht aufstehen“, wisperte ich leise. Meine Stimme klang vom Schlafen noch ganz rau. Matteo lachte leise auf. Das tiefe Timbre seiner Stimme verursachte eine zarte Gänsehaut – ich liebte einfach alles an ihm.
„Ich will auch nicht aufstehen, mein Hübscher.“ Er sah mir dabei tief in die Augen und lächelte mich lasziv an, während er sanft seine Hüfte bewegte. Aufkeuchend schloss ich die Augen. Sein hartes, fast schmerzhaft heißes Glied ließ mir keinen Zweifel daran, was er eigentlich plante.
„Du bist ein Sexmolch“, kicherte ich ihm ins Gesicht. Er grinste nur und fing an, meine Seiten zu kitzeln, die sehr empfindlich waren. Nach Luft japsend, keuchte ich auf und kicherte und lachte gleichzeitig laut los. Ich wand mich unter ihm und versuchte, ihm auszuweichen, aber ich hatte keine Chance.
„Ist gut...ist gut“, brachte ich keuchend hervor. Und er hielt inne, um mich anzugrinsen, ehe er sich ganz eng an mich presste und ich leise aufstöhnte.
„Das ist doch genau das, was du so an mir liebst“, hauchte er leise an meinem Ohr, ehe er sanft daran knabberte. Ich keuchte auf und presste mich noch enger an ihn. Er wusste genau, welche Stellen er an mir berühren musste, um mich zu einem sich vor Lust windenden Häufchen zu machen und ich genoss es jedes Mal.
„Ich liebe alles an dir“, hauchte ich keuchend und wand mich unter ihm, als er begann seine Hüfte rhythmisch gegen meine zu stoßen, so dass sich die Punkte unserer zentralen Lust aneinander rieben. Als er plötzlich stoppte, wimmerte ich enttäuscht auf. Er umfasste sanft mein Gesicht und ich blickte hinauf – in sein markantes Gesicht, das mit den Jahren reifer geworden war, in seine sanften graublauen Augen. Sah sein dunkelblondes Haar, das mit den Jahren dunkler und etwas länger geworden war. Ich liebte alles an diesem Mann. Jedes Haar, jede Zelle – ein Leben ohne ihn konnte ich mir nicht mehr vorstellen. Ich brauchte ihn, wie die Luft zum Atmen. Er war meine ganze Welt.
„Ich liebe dich auch“, hauchte er und wie jedes Mal, wenn er diese drei besonderen Worte aussprach, durchfuhr mich ein so riesiges Glücksgefühl, dass mir Tränen in die Augen traten. Ich hatte ihn beinahe für immer aufgeben, aber jetzt – jetzt – gehörte er für immer mir und niemand würde je etwas daran ändern können.
Ich umfasste seinen Nacken und zog ihn sanft zu mir runter, nur um ihn dann leidenschaftlich zu küssen. Er presste seinen Körper so eng an mich, dass wir danach lange Zeit nur noch Töne der Lust ausstießen. Das Gefühl seines nackten Körpers, seine lusterfüllten Laute und seine glühenden Augen rissen mich jedes Mal aufs neue mit. Er war etwas Besonderes und er gehörte nur mir. Für immer.
Zehn Jahre waren wir nun schon zusammen und es warteten noch so viel mehr auf uns und ich freute mich schon darauf, jede einzelne Sekunde mit ihm zu erleben.
ENDE
Texte: Alles meins...^^
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Purzel, weil er mich immer inspiriert.