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Der Klang deines Herzens

 

 

 

Mein Herz raste, als ich mich vor der stillen Menge verbeugte. Ich konnte leises Atmen hören, aber das Pochen meines Herzens übertönte vieles. Es war nicht mein erster Auftritt und doch ging es mir, wie immer. Ich war unendlich aufgeregt und spürte die Nervosität durch meine Blutbahnen schwirren. Adrenalin und Endorphine vermischten sich und wurden zu einem Strudel, der mich mit sich riss.

 

Mit einem leichten Lächeln wandte ich mich nach links und ließ mich an dem großen, schwarzen Flügel nieder. Ehrfürchtig strich ich über die glatt polierten Tasten und betrachtete den sanften Widerschein der Bühnenlichter in ihnen. Mit einem letzten Atemzug sanken meine Finger auf die hell glänzenden Tasten hinab und begannen, wie von allein die Noten meines ersten Liedes zu spielen. Eines Liedes, dass ich nur für ihn geschrieben habe. Dem Mann, dem für immer mein Herz gehören würde.

 

Ich konnte den sanften Blick seiner Augen auf mir spüren und wusste, dass er mich beobachtete. Für alle verborgen hinter dem langen, roten Vorhang. Nur für mich wahrnehmbar. Ich spürte das aufgeregte, zarte Flattern meines Herzens und die leichte Gänsehaut, die sich auf meinem Körper ausbreitete, als würde er hinter mir stehen. Als könnte ich seinen sanften Atem in meinem Nacken spüren. Ich schloss die Augen, denn meine Hände wussten allein, welche Tasten sie berühren mussten. Dieses Lied weckte Erinnerungen. Erinnerungen an unsere Geschichte...

 

 

 

 

~~~~~~*****~~~~~~

 

 

 

Als ich ihn das erste Mal sah, war ich fünfzehn Jahre alt. Es war eine Woche vor Weihnachten und ich rannte über den hiesigen Weihnachtsmarkt, um ja pünktlich zu meiner Klavierstunde zu kommen. Mein Notenbuch presste ich an meine Brust – darin befanden sich meine ersten, noch holprigen Versuche etwas selbst zu komponieren. Meine Lehrer fanden es nicht schlecht, doch sie waren der Meinung, dass ich lieber nur spielen sollte, denn meinen Stücken fehlte es scheinbar an Gefühl, an Tiefe. Doch ich wusste, dass ich irgendwann ein Lied komponieren würde, dass Menschen tief berühren konnte. Sollte ich allerdings in fünf Minuten nicht am Klavier sitzen, könnte ich mir erstmal ein Donnerwetter anhören.

 

Ich legte noch einen Zahn zu und drängelte mich durch die Menschenmassen, von denen mich einige beschimpften und mir weniger nette Dinge an den Kopf warfen. Aber, warum zum Teufel noch eins, musste sich das Musikstudio auch genau gegenüber dem Weihnachtsmarkt befinden? Schnaufend sah ich das bekannte Gebäude schon näher kommen, als sich plötzlich jemand in den Weg stellte. Ich hatte keine Chance und rannte direkt in ihn hinein. Mit einem Plumpsen landete ich auf meinem Po mitten im Schnee und meine Notenblätter verteilten sich auf dem Boden. Schnell rappelte ich mich auf und versuchte, die Blätter einzusammeln, bevor sie den Boden berührten. Wenn sie feucht worden, würde die Tinte verschmieren und dann müsste ich alles nochmal abschreiben.

 

In meiner Hektik bemerkte ich nicht, wie sich der Andere ebenfalls aufrappelte und eines der Notenblätter aufhob und betrachtete. Erst, als eine braungebrannte Hand mir das Notenblatt gab, blickte ich ihn an. Und was ich sah, ließ meinen Atem stocken. So tiefgrüne Augen, wie seine hatte ich noch nie gesehen. Sie erinnerten mich an einen Wald im Sommer, wenn die Sonnenstrahlen alles in Licht und Schatten tauchten. Es waren seine Augen, die mich so tief in seinen Bann zogen, dass alles andere nebensächlich wurde. Die Welt schien für diesen einen Moment stehen zu bleiben, hörte auf sich zu drehen. Ich nahm nichts anderes wahr, konnte ihn nur anstarren. Der magische Moment verflog, als ein kleiner Haufen Studenten hinter ihm auftauchte und einer davon ihm zurief, „Komm schon, Raiden! Was machst du denn bei dem Hering?“

 

Ich sah, wie seine Lippen zuckten und wurde rot. Ich war nunmal nicht muskulös, aber mich deshalb gleich Hering zu nennen, war nun doch nicht sonderlich nett.

 

„Wir wollen noch einen Glühwein trinken, sonst halte ich die alte Doktor Graumeier heute wirklich nicht aus.“

 

Kurz drehte er sich um und meinte lachend, „Dann geht ruhig schon vor. Ich bin sicher, dass ich euch finden werde. Ich komme dann gleich nach.“

 

Die anderen zogen von dannen und mit einem Schmunzeln drehte er sich erneut zu mir und reichte mir mein Notenblatt. Noch immer zittrig, nahm ich es ihm aus der Hand und stotterte ein Danke. Warm lächelnd blickte er mich an und meinte dann mit tiefer Stimme, die mir einen Schauer über den Rücken jagte, „Ein schwieriges Stück, dass du spielen möchtest.“

 

Damit spielte er auf die Noten von Chopins Revolutionsetüde an, die er in den Händen hielt. Lächelnd schüttelte ich den Kopf. „Nein, gar nicht. Man muss es nur richtig fühlen“, meinte ich und sah, wie er mich nachdenklich betrachtete.

 

Beinahe schien es so, als wollte er noch etwas sagen, als mich das Läuten der Kirchenglocken aufschreckte. Ich zuckte zusammen und mit einem „Auf Wiedersehen“ sprintete ich an ihm vorbei und rannte zum Musikstudio.

 

Natürlich kam ich zu spät und natürlich bekam ich deshalb ein Donnerwetter, aber irgendwie war das alles nebensächlich für mich. Ich musste immer noch an diesen Mann denken und an seine grünen Augen. Meine Gedanken an ihn lösten immer wieder an Kribbeln in mir aus. Und mein Herz flatterte. Ich war wie im Rausch, als ich ein Stück nach dem anderen spielte. Meine Lehrer waren begeistert und meinten, dass ich noch nie mit soviel Gefühl gespielt hätte. Ich wurde rot und fragte mich unwillkürlich, was es war, was dieser Mann in mir auslöste.

 

Erst viel später, als diese grünen Augen mich sogar in meinem Träumen verfolgten, wusste ich das es Liebe war. Und ich war erfüllt von einer unbeschreiblichen Sehnsucht – ich wollte ihn. Wenigstens wusste ich seinen Namen. Raiden...

 

 

 

 

~~~~~~*****~~~~~~

 

 

 

Als ich ihn wiedersah, waren mehr als sieben Jahre vergangen. Ich war im dritten Semester meines musikalischen Studiums und hatte mich für ein Seminar angemeldet, dass sich schlicht und einfach Komponieren nannte. Meinen Traum, einmal ein Lied zu komponieren, das Menschen berühren würde, hatte ich noch lange nicht aufgegeben und fand, dass dieses Seminar perfekt dafür geeignet war. Ich war erstaunt, wie wenige erschienen waren. Wenn es hochkam waren wir zehn, die sich für dieses Seminar eingeschrieben hatten. Doch bis jetzt waren erst fünf anwesend – mich eingeschlossen. Ich war verwundert, dass es dennoch stattfinden würde. Aber es war ja auch eine kleine, private Universität, an der ich eingeschrieben war – vielleicht lag das Augenmerk da etwas anders.

 

Leises Tuscheln erfüllte den Raum und ich belauschte mehr oder weniger freiwillig das Gespräch von zwei Kommilitoninnen.

 

„Ich habe gehört, dass Doktor van Steesen ein Genie auf seinem Gebiet sein soll. Angeblich wäre er ein Virtuose, der seinesgleichen sucht“, meinte eine junge Studentin mit blonden Locken.

 

Ihre Freundin schien weniger aufgeregt zu sein. Sie tippte nachdenklich auf ihrem Smartphone herum und gab nur hin und wieder ein Nicken von sich. Während das blonde Mädchen noch ein wenige weiter plapperte, fragte ich mich unwillkürlich, wer dieser Doktor van Steesen war. Ich hatte mich zwar vor ab informiert, aber nichts weiter über den Seminarleiter gefunden.

 

Vollkommen in meine Gedanken versunken, zuckte ich erschrocken zusammen, als die Tür aufgerissen wurde und ein junger Mann das Zimmer betrat. Wie erstarrt blieb ich sitzen und starrte den Mann an. Es war Raiden... Mein Raiden, der sich vor uns stellte und uns warm anlächelte. Langsam schweifte sein Blick über die wenigen Studenten und als er mich sah, meinte ich, dass sich sein Augen verdunkelten und einen Moment länger bei mir blieben.

 

Nach einer Begrüßungsrunde, in der ich zu Boden blickte und mich stammelnd vorstellte, sollten wir zeigen, was wir konnten. Es war beruhigend, den anderen beim Spielen zu zuhören. So konnte ich meine Gedanken schweifen lassen und mein flatterndes Herz beruhigen. Ich bildete mir ein, dass ich seine Blicke auf mir spüren könnte, dass er mich ansah. In meinem Magen tobten Schmetterlinge und ich konnte mich nicht beruhigen.

 

„Und zum Schluss bitte, Herr Julíen Großmann.“

 

Seine dunkle Stimme riss mich aus den Gedanken und wie in Trance setzte ich mich an den großen, schwarzen Flügel. Kurz betrachtete ich die glänzenden Tasten und legte meine Hände beinahe ehrfürchtig darauf. Ein letzter Atemzug und ich schloss meine Augen. Langsam sanken meine Hände auf die Tastatur und ich spielte die ersten Klänge von Chopins Revolutionsetüde. Aufwühlend schnell erklangen die klaren Töne des Instruments. Die klaren, schnellen Klänge, die meine linke Hand spielte, wurden nur ab und zu von den dunklen Tönen meiner rechten Hand untermalt. Mein ganzer Körper wusste, was er tun musste, welche Tasten zu drücken waren, damit die richtigen Töne erklangen. Ich musste mich nur auf die Musik einlassen und meine Gefühle in jeden Ton hineinlegen, um ihm meine besondere Note zu verleihen.

 

In diesem einen Moment, genau dann, wenn das Stück seinen Höhepunkt erreichte, gab es in mir diese eine Gefühlsexplosion. In diesem Moment wurden die Töne zu einem riesigen, langanhaltenden Crescendo. Sie erklangen voller Leidenschaft, voller Stärke und jeder Ton trug seine eigene Geschichte. Mit einer gewissen Melancholie schlug ich die letzten Töne der Etüde an – einerseits nicht gewillt, diesen Moment aufzugeben, andererseits erfüllt voller Glück. Ein Gefühl, dass nur die Musik in mir erwachen ließ.

 

Ein letzter Ton erklang und zitternd ließ ich meine Hände sinken. Zum ersten Mal holte ich wieder bewusst Luft und kehrte erst in die Realität zurück, als ich den donnernden Applaus wahrnahm, den meine Kommilitonen erklingen ließen. Langsam öffnete ich meine Augen. Noch verschwommen nahm ich meine Umgebung war, doch mein erster Blick wanderte zu Raiden, der sich mir langsam näherte. Sanft legte er mir die Hand auf die Schulter und drückte sie kurz. Mir stockte der Atem, als ich das Brennen wahrnahm, dass durch meinen Körper schoss. Von der Stelle aus, an der er mich berührte.

 

„Sie haben großes Talent“, wisperte er mit dunkler Stimme. „Ein Talent, das jeden den Atem rauben wird.“

 

Ich erschauerte und als ich in seine Augen blickte, waren sie viel dunkler, als ich sie in Erinnerung hatte.

 

 

 

~~~~~~*****~~~~~~

 

 

Wir wurden Freunde – Raiden und ich. Auf eine eigenartige, verquere Weise, denn er war ja noch immer mein Dozent. Auch wenn er mir sehr half, meine Kompositionen zu verfeinern und es viele Gebiete gab, auf denen wir uns mehr als nur gut verstanden, war da dennoch immer diese gewisse Distanz zwischen uns. Auf der einen Seite hasste ich diese Entfernung zwischen uns, denn ich wollte so viel mehr. Ich war gierig und lechzte geradezu nach seiner Gegenwart. Jede Minute, die ich mit ihm verbrachte, war etwas ganz besonderes für mich, selbst wenn ich nicht wusste, wie er das sah und ob er genauso fühlte, wie ich.

 

Es war einer dieser endlos langen Nachmittage. Schnee bedeckte die Straßen und die Bäume und die Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die grauen Wolken bahnten, verwandelten die Welt in ein Winterwunderland. Ich saß an dem großen, weißen Flügel in einem der Übungsräume und spielte Debussys Claire de Lune. Ich mochte dieses Stück. Es hatte eine Leichtigkeit, eine tiefe Sehnsucht in sich, die ich mehr als nur fühlen konnte. Es war, als würden die Klänge direkt in meiner Seele widerhallen und mich dort auf eine Weise berühren, die unbeschreiblich war. Mit einem friedlichen Gefühl ließ ich den letzten Ton erklingen und seufzte zufrieden auf. Dieses Stück schaffte es jedes Mal, mich zu beruhigen.

 

„Ich liebe es, dich beim Spielen zu beobachten“, erklang Raidens dunkle Stimme hinter mir und ich zuckte erschrocken zusammen.

 

„Und deshalb schleichst du dich auch immer so an mich heran, oder?“, erwiderte ich schmunzelnd und wandte mich zu ihm.

 

Er setzte sich neben mich und strich andächtig über die polierten Tasten und ließ dann einzelne Töne erklingen. Sanft lächelnd beobachtete ich ihn und aus einem Impuls heraus forderte ich ihn auf, „Lass uns etwas gemeinsam spielen.“

 

Raiden verzog kurz das Gesicht und drückte aus Versehen eine falsche Taste. Ein dunkler, schiefer Ton entstand.

 

„Ich spiele nicht“, sagte er rau und räusperte sich. „Nicht mehr.“

 

Seine ganze Haltung zeigte, dass ihn etwas bedrückte. Aus einem inneren Impuls heraus legte ich meine Hand auf seine Schulter.

 

„Ich wollte dich nicht traurig machen“, flüsterte ich, aber Raiden lächelte mich nur sanft an und streichelte über meinen Handrücken.

 

Eine Berührung, die Gänsehaut verursachte.

 

„Ich war damals 19 und liebte es zu spielen“, begann er leise. „Viele meiner Mentoren sagten mir, dass eine glorreiche Zukunft auf mich warten würde und ich glaubte ihnen jedes Wort. Ich war so überzeugt von mir und glaubte, dass die Welt nur auf mich wartete.“

 

Er stockte kurz, so als wäre das, was er gleich sagen würde, unglaublich schmerzhaft für ihn.

 

„Bis zu diesem einem Tag: Wir waren mit mehreren Autos zu einen großen Veranstaltung unterwegs. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, nur, dass das Auto plötzlich vom Weg abkam und durch die Leitplanke geschleudert wurde. Ich war Beifahrer und scheinbar funktionierte die Halterung des Gurtes nicht richtig, denn ich wurde durch die Frontscheibe geschleudert. Ich erlitt mehrere Knochenbrüche. Aber das Schlimmste war, dass meine linke Hand zertrümmert wurde und Knochenteile mehrere Nervenstränge durchbohrten, so dass die Feinmotorik nicht mehr funktionierte.“

 

Mir stockte der Atem. Ich konnte nicht im Ansatz nachvollziehen, wie er sich gefühlt haben musste, als er das erfahren hatte. Für einen Pianisten war die Feinmotorik der Hände das Allerwichtigste. Nur so konnte einzelne Tonklänge gesteuert werden. Je nachdem, wie lang oder kurz die Tasten angetippt wurden.

 

„Die Ärzte versuchten alles. Ich machte jede Physiotherapie mit, jede Reha, aber nichts half und ich gab es auf“, seine Stimme klang ganz rau und ich spürte, wie sein Körper zitterte.

 

Es musste ihm unglaublich schwer fallen, sich mir anzuvertrauen.

 

„Ich ließ mein Studium laufen und nahm nur noch an den Vorlesungen teil. Nicht gewillt, mir eine andere Möglichkeit zu suchen, um meine Musik mit der Welt zu teilen. Mir war es egal geworden, ob man die Klänge in meinem Herzen wahrnahm oder nicht. Ich versuchte nur noch, zu vergessen. Und es gelang mir irgendwie.“

 

Gegen Ende des Satzes schmunzelte er. „Zumindest bis zu diesem einen Tag vor sieben Jahren.“

 

Mir stockte der Atem. Konnte es etwa sein, dass er die Begegnung mit mir meinte? Diese eine Begegnung, die auch ich nicht aus meinen Kopf löschen konnte?

 

„Der Tag, an dem ich dir begegnet bin“, meinte er lachend und blickte mich warm an. „Du hast mich so sehr daran erinnert, worum es beim Spielen wirklich geht. Um Gefühle und um Botschaften. Das sollte der Tag werden, an dem ich mein erstes Stück komponierte.“

 

Ich konnte ihn nur anstarren und war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Mein Herz raste und ich befürchtete, dass es aus meiner Brust springen könnte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. Direkt in die grünen Augen, die mich so warm anblickten und traute meinen Ohren nicht, da er die nächsten Worte nur flüsterte.

 

„Und weißt du, was ich die ganze Zeit wollte, seit dem ich dich das erste Mal spielen hörte?“ Ich schüttelte den Kopf und blickte ihn weiterhin unverwandt an.

 

„Ich wollte immer, dass du ein Stück spielst, dass ich komponiert habe. Denn dir verdanke ich, dass ich meine Musik wieder spüren kann.“

 

Ich keuchte und vollkommen atemlos sah ich, wie er mir immer näher kam. Ich konnte seinen Atem an meiner Wange spüren. Nur noch wenige Zentimeter trennten unsere Lippen voneinander und voller Ungeduld konnte ich den Augenblick nicht abwarten, bis sich unsere Lippen berührten. Immer geringer wurde der Abstand zwischen uns und ich schloss meine Augen, als ich seine warmen, weichen Lippen spüren konnte. Unsere Lippen trafen sich zu einem kaum wahrnehmbaren Schmetterlingskuss. Nur leicht und so schnell vorüber, als das schrille Piepen von Raidens Smartphone ertönte.

 

Blinzelnd kam ich in die Realität zurück und starrte auf seinen Rücken. Sah, wie er sich immer weiter von mir entfernte und als die Tür des Übungsraumes ins Schloss fiel, spürte ich den unüberwindbaren Graben, der sich zwischen uns aufbaute, ohne jede Chance, dass ich ihn aufhalten konnte.

 

 

 

 

~~~~~~*****~~~~~~

 

 

 

 

Ich sollte Recht behalten, denn Raiden war nicht mehr der Gleiche. Zumindest mir gegenüber. Unser freundschaftliches Verhältnis zerbrach mehr und mehr. Er wurde immer distanzierter und ich konnte es kaum ertragen, ihm in die Augen zu sehen. Aus Angst, dass die Kälte, die ich seinen Augen erblickte, mein Herz noch weiter erfrieren ließ. Das Eis, das in mir tobte, machte mich taub und gleichzeitig war ich von solcher einer heißen Wut erfüllt. Ich wusste nicht, wohin mit meinen Gefühlen. Und dann war doch noch diese Sehnsucht in mir, die mich immer wieder in seine Nähe zog und die unaufhörlich brannte. Schärfer als das Eis und heißer als die Wut. Ich versuchte, einen Weg zu finden, um diese Gefühle für Raiden auszulöschen und nahm jede Gelegenheit wahr, um wenigstens für eine gewisse Zeit, sein Gesicht zu vergessen. Es waren gesichtslose Männer und gefühllose Körper, denen ich mich hingab. Immer und immer wieder, aber es änderte sich nichts.

 

Ich ließ es bleiben und verschanzte mich hinter meiner Musik und je öfter ich spielte, desto mehr vermischten sich die Gefühle und wurden zu Klängen in mir und mit der Zeit verstand ich, dass die Töne eine Melodie ergaben. Ich schrieb sie auf und spielte sie immer und immer wieder, feilte daran herum, immer auf die Klänge in meinem Inneren achtend. Ich baute mein Wesen, meine Essenz in dieses Stück. Alles, was ich je für Raiden empfunden hatte, erklang in dieser Melodie und ich wusste, dass es für immer zu mir gehören würde.

 

So verging die Zeit und ich sah Raiden meist nur noch aus der Entfernung. Ich machte meinen Abschluss und blieb noch ein Semester länger, um die Bitte einer meiner Mentoren zu erfüllen, der sich wünschte, dass ich ihm in seinen Seminaren half. Die Arbeit gefiel mir, doch sie füllte mich nicht aus. Das war nicht das, was ich wollte. Ich hatte bereits mehrere Auftritte hinter mir und wusste, dass die Bühne meine Heimat war. Nur dort konnte ich die Musik bis zur Gänze spüren und in ihr verweilen. Sie mit anderen teilen. Also beschloss ich, dass ich dem Angebot eines Theaters in Stralsund nachgehen würde und mich dort für ein Jahr engagieren ließ.

 

Es war mein vorletzter Abend, bevor ich nach Stralsund gehen würde und mein bester Freund Milan war zu Besuch. Wir hatten uns schon seid Ewigkeiten nicht mehr gesehen und beschlossen, diesen Abend so richtig auf die Pauke zu hauen. Wir alberten die ganze Zeit rum, sprachen über alte Zeiten und kicherten, wie zwei alberne Schulmädchen. Und schließlich gingen wir in meinen Stammclub. Es war schon sehr spät und so gönnte ich es Milan, als er sich mit einem heißen, jungen Typen auf und davon machte. Ich selbst setzte mich an die Bar und bestellte einen Kaffe mit Schuss. Es war eine Woche vor Weihnachten und draußen herrschten Minusgrade, so dass ich mich erstmal aufwärmen musste. Mit der Tasse in meinen kalten Händen drehte ich mich um und betrachtete die Menschenmassen auf der Tanzfläche und dann sah ich ihn. Raiden, wie er mit einem jungen Twink tanzte und flirtete.

 

In mir kochte unerklärliche Wut hoch und mein Herz raste. Alle Gedanken, die ich mir um ihn gemacht hatte, alle Ängste, dass er mir nicht genug vertraute, dass er vielleicht gar nicht auf Männer stand und nicht wusste, wie er sich jetzt mir gegenüber verhalten sollte. Und jetzt sah ich die reine Wahrheit vor mir: Er wollte mich einfach nicht. Ich bedeutete ihm gar nichts. Nicht mal, als Freund. Raiden schien meinen Blick zu spüren, denn er sah verwirrt auf und damit direkt in meine Augen. Sein Gesicht wurde ausdruckslos und er ließ zu, dass der Twink sich noch enger an ihn presste. Verletzt schüttelte ich meinen Kopf und trank meinen Kaffee in einem Zug aus. Mit Schwung knallte ich das Geld auf den Tresen und verließ den Club, ohne mich noch einmal umzudrehen. Die ganze Zeit spürte ich seinen brennenden Blick in meinem Rücken, aber er sollte nicht die Tränen sehen, die mein Gesicht hinunter liefen.

 

 

*

 

 

An meinem letzten Tag besuchte ich zum vorerst letzten mal die Universität, die fast eine zweite Heimat für mich geworden war. Ich durchquerte die Bibliothek, in der ich so viele Stunden verbracht hatte und mich mit Bach, Tschaikowsky und Liszt auseinander gesetzt hatte. Betrachtete versonnen die Hörsäale, in denen sie uns schwitzen lassen hatten. Mein letzter Weg führte mich zu den Übungsräumen, in denen ich soviel Zeit verbracht hatte, mich an die großen Meister heranzuarbeiten und in denen ich mein erstes Stück angefangen hatte. Denn vollendet war es noch lange nicht.

 

Ich war froh, als ich einen freien Raum fand und schloss leise die Tür hinter mir. Wenigstens einmal noch wollte ich hier spielen, bevor ich ging. Sanft ließ ich vor dem schwarzen Flügel nieder und öffnete seine Tastatur. Zart strich ich darüber und ließ die ersten Töne meines Stückes erklingen, als die Tür des Übungsraumes hinter mir zu knallte. Noch ehe ich wirklich reagieren konnte, wurde ich hochgerissen und umgedreht. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich in die wütend funkelnden Augen von Raiden.

 

„Was sollte das gestern?“, zischte er mehr, als er fragte.

 

Langsam kochte die Wut auch in mir hoch. „Wovon redest du bitte?“, wollte ich fauchend wissen und schlug seine Hände zurück, aber er packte mich nur an den Oberarmen und drückte zu.

 

„Du warst gestern in dem Club“, versuchte er mir auf die Sprünge zu helfen. „Und ich rede von deinen Blicken, deinen Gesten, deiner Mimik.“

 

„Da schau mich nicht an, wenn es dir nicht passt.“ Trotzig blickte ich ihm in die Augen und sah, wie seine Lippen kurz zuckten, bevor er mich wieder wütend anblitzte.

 

„Was machst du nur mit mir?“, fragte er. Jetzt um einiges ruhiger. „Warum kann ich dich nicht einfach vergessen?“

 

Mir stockte der Atem und bevor ich es verhindern konnte, machte sich das Pflänzchen der Hoffnung in mir breit. Konnte ich seine Worte richtig deuten? Waren es die verborgenen Worten, die sich meines dummes Herz so erhoffte? Voller Angst, voller Zweifel sah ich ihn an, sah, wie er immer näher kam und schließlich – endlich – seine Lippen auf meine presste. Es war kein sanfter Kuss, kein zärtlicher. Diese Berührung war hart und sprach von seinen ganzen unterdrückten Gefühlen, von seiner ganzen Wut. Fest presste er mich an sich und ebenso wild erwiderte ich seinen Kuss. Wollte ihn noch näher, an mich drücken, als er den Kuss löste und mich von sich schob.

 

„Aber es geht nicht“, keuchte er und wandte sich ab. „Das darf nicht sein.“ Er verließ den Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Mit klopfenden Herzen starrte ich die Tür an und sank auf den Hocker des Flügels, um mich zu beruhigen. Erst viel später bemerkte ich die Tränen, die mein Gesicht hinunter liefen. Und ich konnte nichts dagegen tun, um sie zu stoppen.

 

 

 

~~~~~~*****~~~~~~

 

 

Es war Heiligabend und ich saß alleine in einem kleinen Häuschen in Stralsund und versuchte, meinem Lied endlich ein Ende zu geben. Ich war froh über die Ruhe und die Einsamkeit, denn es gab so vieles, über das ich nachdenken musste. Da war zu viel, was in mir brodelte, was sich immer wieder einen Weg nach oben kämpfte und das ich versuchte, zu unterdrücken. Ich konnte die ausgelassene Stimmung meiner Familie jetzt einfach nicht ertragen und hatte mich mit einer Ausrede vom familiären Weihnachtsfest abgemeldet.

 

Ich versuchte, meine Gedanken wieder zu ordnen und schrieb an meinem Lied. Wieder und wieder versuchte ich neue Notenfolgen zu finden, verwarf sie wieder und probierte andere aus, aber nichts wollte so richtig passen. Die Klänge in meinem Inneren waren irgendwie erstorben, als Raiden gegangen war. So vergingen Stunden und ich merkte gar nicht, wie es Abend wurde und ein Schneesturm durch Stralsund wehte. Erst, als der Wind kräftig an die Fenster stieß und sie klapperten, schrak ich auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Wild stürmten dicke Flocken durch die Luft und immer wieder peitschte der Wind durch die kahlen Äste.

 

Ich kontrollierte noch einmal die Fenster und die Tür. Bei letzterer erschrak ich fürchterlich, als sich ein Mann näherte. Dick eingepackt und über und über mit Schnee bedeckt. Erst als der Schein der Lampe auf ihn fiel, direkt vor der gläsernen Tür, erkannte ich die grünen Augen des Mannes. Schnell öffnete ich die Tür und zog Raiden ins warme Haus.

 

„Sag mal, spinnst du?!“, fauchte ich ihn an. „Bei dem Wetter marschierst du da draußen herum! Du hättest dir den Tod...!“

 

Weiter kam ich nicht, denn Raiden umschloss mein Gesicht mit seinen eiskalten Händen und küsste mich mit einer Inbrunst, die mir jeden Boden unter den Füßen wegzog. Ich konnte mich nur an ihn klammern und seinen Kuss erwidern. Ich war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, konnte nur noch fühlen. In mir breitete sich Hitze aus und mein Herz beschleunigte seinen Rhythmus um das Doppelte. Atemlos lösten wir uns voneinander.

 

„Warum bist du einfach gegangen?“, wisperte er und strich immer wieder über mein Gesicht und über meine roten Haare. „Warum hast du mir solche Angst bereitet? Ich dachte, ich sehe dich nie wieder.“

 

Sprachlos starrte ich ihn an und war absolut verwirrt. „Du warst doch derjenige, der sich immer weiter distanziert hat, der immer wieder gegangen ist. Der sich einen Dreck, um meine Gefühle geschert hat.“

 

Ich war den Tränen nahe. Jedes Gefühl, das ich so lange unterdrückt hatte, wollte jetzt sofort und auf der Stelle aus mir herausbrechen. Ich taumelte unter der Wucht des Sturmes, der über mich hereinbrach. Hätte Raiden mich nicht gehalten, wäre ich gefallen. Aber er drückte mich nur noch fester an sich und wisperte leise an meinem Ohr, das Gesicht an meinen Hals vergraben, so dass ich seinen hektischen Atem spüren konnte, „Versteh doch, ich bin nicht gut genug für dich. Ich bin der verkrüppelte Pianist, der nur noch Musik auf dem Papier betreibt. Ich wollte dir nicht im Weg stehen.“

 

Und ich verstand endlich, warum er so gehandelt hatte. Tief, ganz tief in seinem Inneren musste eine riesige Angst sitzen, dass ich ihn verlassen könnte. Dass er zu wenig für mich sei. Ich umfasste seinen Körper und mir war es vollkommen egal, dass meine Kleidung nass würde. Fest presste ich mich an ihn, umklammerte ihn regelrecht. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, denn er war einen Kopf größer als ich und wisperte in sein Ohr, „Du bist alles für mich, Raiden. Ohne dich will ich nicht länger leben. Ich liebe dich, schon seit ich dich das erste Mal gesehen habe.“

 

Ungläubig starrte er mich an und ich nutzte meine Chance, um meine Lippen sanft auf seine zu drücken. Nach einem Augenblick erwiderte er den Kuss und mein Herz flatterte aufgeregt, als er sanft mit seiner Zungenspitze über meine Lippen fuhr. Mit einem Keuchen öffnete ich die Lippen und er drang beinahe sofort in meinen Mund. Sanft erkundete er mich und ich erschauerte. Atemlos lösten wir uns voeinander.

 

„Du solltest aus der nassen Kleidung raus, bevor du dir doch noch eine Erkältung holst“, meinte ich rau und räusperte mich. „Am besten gehst du heiß duschen. Ich lege dir schon mal Handtücher hin.“

 

Irgendwie brauchte ich einen kurzen Augenblick für mich allein, um zu realisieren, was gerade geschehen war. Ich musste meine Gefühle ordnen, die voller Glückseligkeit waren und mich taumeln ließen. Nachdem Raiden im Bad verschwunden war, legte ich ordentlich Holz in den Kamin und ließ mich auf den großen, kuscheligen Teppich davor nieder. Eingewickelt in eine blaue Decke starrte ich in die tanzenden Flammen und hing meinen Gedanken nach. Irgendwie kam mir das alles hier noch so unreal vor. Ich konnte es noch gar nicht glauben und doch sprachen die Schmetterlinge in meinem Bauch und mein flatterndes Herz vom Gegenteil.

 

Ich bemerkte gar nicht, wie sich Raiden näherte. Erst, als er sich unter die Decke kuschelte und mich auf seinen Schoß zog, nahm ich ihn richtig wahr.

 

„Woran denkst du, mon angel?“, wollte er leise wissen, während er begann meinen Rücken zu streicheln. Seufzend lehnte ich mich an seine Brust und schmiegte mein Gesicht an seinen Hals. Die Stelle, die mein Atem berührte, überzog sich mit Gänsehaut. Ich musste schmunzeln.

 

„An nichts“, erwiderte ich leise. „Und an alles.“ Ich spürte das Vibrieren von Raidens Körper, noch bevor er leise kicherte.

 

„Nicht auslachen“, brummte ich und schmiegte mich noch enger an ihn. Er war so warm und roch so gut. Ich wollte nie wieder woanders hin. Genau hier war mein Platz. Mein Zuhause. Raiden presste mich noch enger an sich. Tief holte er Luft und strich sanft über meinen Rücken, was sanfte Schauer auslöst. Zufrieden schnurrend blickte ich zu ihm auf. Seine Augen strahlten glücklich und waren so sanft und wieder war ich gebannt von dem unendlichen Grün seiner Augen.

 

„Ich liebe dich auch, mon angel“, sanft lächelte er und kam mir immer näher. „Mehr, als du dir vorstellen kannst.“

 

Ich hielt den Atem an, als seine Lippen meine berührten. Erst sanft und dann fordernder. Wie seine Berührungen immer intensiver wurden und unglaubliche Hitze, beinahe wie glühende Lava, meinen Körper durchzog.

 

In dieser Nacht liebten wir uns das erste Mal. Seine Berührungen waren so sanft und gleichzeitig so erregend. Er behandelte mich, als wäre ich ein kostbarer Schatz, den er hüten musste. Seine Küsse stahlen mir den Atem und ließen mich keuchend zurück, während seine Lippen eine Spur von Liebkosungen über meinen ganzen Körper wandern ließen. Schauer überwältigten mich, während ich ihn immer enger an mich presste und versuchte seinen Körper überall zu streicheln, doch packte meine Hände und drückte sie über mich.

 

„Das hier ist nur für dich“, wisperte er rau. Sein dunkler Blick verbrannte mich, bevor seine sanften Berührungen noch fordernder wurden.

 

Und als er sich endlich – endlich – in mir versenkte, stöhnte ich meine Lust heraus. Es fühlte sich so perfekt an. Er fühlte sich so perfekt an. Alles an ihm – und er gehörte endlich zu mir. Ich würde ihn nie wieder gehen lassen. Raiden fand einen Rhythmus, der mich schnell an meine Grenzen trieb. Stöhnend und keuchend wand ich mich unter ihm, forderte einen noch schnelleren Rhythmus, wollte ihn noch enger spüren, noch tiefer in mir. Und er tat es und zeigte mir den Himmel. Immer und immer wieder.

 

Es war die gleiche Nacht, in der ich die Melodie unserer Herzen vollendete.

 

 

~~~~~~*****~~~~~~

 

 

Ich spielte gerade die letzten Klänge unseres Liedes, als ich in die Realität zurück kehrte. Die Magie des Stücks fesselte mich immer wieder und ich konnte unsere Liebe dann noch tiefer spüren. Das Band, das uns verband, wurde dann für mich greifbar, denn in diesem Stück fanden sich nicht nur meine Gefühle für ihn. Auch seine Liebe, seine Angst, seine Leidenschaft hatten sich zwischen die Noten geschlichen. Noch immer konnten mich diese Töne verzaubern, obwohl ich sie bereits unzählige Male gespielt hatte.

 

Ich spürte seinen brennenden Blick im Rücken und musste an das kleine Kästchen in meiner Garderobe denken. Heute Nacht, wenn alle Besucher gegangen und die Bühne und der Saal komplett leer waren, genau um Mitternacht, wenige Augenblicke bevor wir unseren vierten Heiligabend zusammen feierten, würde ich das kleine Kästchen hervor ziehen, in dem sich zwei Ringe befanden und ihn fragen, ob er die Ewigkeit mit mir wagen will.

 

Mit einem Lächeln vollendete ich unser Lied und als donnernder Applaus den Saal füllte, drehte ich mich um und blickte direkt zu Raiden. Seine Augen sprachen von tiefer Liebe und in diesem Augenblick, wusste ich, wie er antworten würde – denn in unseren Herzen spielten die gleichen Klänge unsere Melodie.

 

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: alles meins^^
Tag der Veröffentlichung: 23.12.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für einen wunderbaren Freund, der mir sehr viel bedeutet

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