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Kastanienbraun

Mit einem entspannten Lächeln lasse ich mich auf der braunen Sitzbank nieder und starre durch die bunt gefärbten Kastanienblätter in den wolkenlosen, blauen Himmel. Ich blinzele, als Sonnenstrahlen ihren Weg durch die noch dichten Blätter finden und genieße die Wärme, die sie auf meiner blassen Haut hinterlassen. Mit einem stillen Seufzen schließe ich meine Augen und atme tief die reine Luft ein. Für Ende September ist es recht kühl, doch ich mag es so, denn das sagt mir, dass der Herbst bald anfangen wird. Ich liebe den Herbst. Die bunten Blätter, die vom leichten Wind davon getragen wurden. Die Stürme, den Regen – alles liebe ich am Herbst. Ich freue mich jedes Jahr riesig darauf, denn der Herbst erinnert mich auch an dich.

 

 

Ein leichtes Ploppen ertönt, als mich ein harter Gegenstand am Hinterkopf trifft. Kurz reibe ich über die schmerzende Stelle und öffne dann die Augen, um mir den Übeltäter genauer anzusehen. Rund und unschuldig glänzend, liegt er in meinem Schoß. Eine Kastanie. Mit einem Lächeln nehme ich sie in die Hand und betrachtete sie von allen Seiten. Sie ist perfekt. Keine Unebenheiten. Nur glatte, tiefbraun glänzende Haut. Perfekt – genau wie du es warst. Kastanien erinnern mich immer an dich. Ich habe dich immer meine kleine Kastanie genannt, denn für mich warst du das. Mit deinen braunen Augen, die wie Kastanien glänzten und mit der Sonne um die Wette strahlten, deinem feinen, geschmeidigen, kastanienbraunen Haar, das immer in dieser besonderen Nuance glänzte, die mich an Herbst und Sturm erinnerte.

 

 

Du warst schon immer etwas ganz Besonderes gewesen. Einzigartig und das in jeder Facette. Obwohl du mein allerbester Freund warst und wir uns schon kannten, als wir beide noch in Windeln rumliefen, kannte ich nicht alle deiner Facetten und trotzdem oder vielleicht auch deswegen, liebte ich dich so sehr. Wir sind zusammen zur Schule gegangen und haben unseren Lehrern Streiche gespielt. Sind beide von unserem Baumhaus gestürzt und lagen nebeneinander im Krankenhaus. Schelmisch grinsend. Beide jeweils einen Arm eingegipst. Wir fanden zusammen heraus, dass wir mit Mädchen nichts anfangen konnten. Du hast mir meinen ersten Kuss gegeben. Grinsend erinnere ich mich daran, wie wir uns danach angesehen haben und beschlossen, dass wir kein Liebespaar werden, sondern für immer beste Freunde bleiben. Wir schworen uns damals, dass wir in guten und in schlechten Zeiten immer füreinander da sein würden – und das waren wir auch. Gemeinsam bestanden wir unser Abitur. Ich ein wenig besser, als du, was dich ärgerte, aber schon einen Moment später meintest du grinsend, dass ich dir dann eben im Studium Nachhilfe geben müsste. Wir bewarben uns für die gleiche Uni, weit entfernt von unserem Dorf, das wir beide als viel zu klein und weltfremd empfanden. Wir wollten Abenteuer erleben, uns so richtig verlieben, unsere Traummänner finden.

 

 

Ich erinnere mich noch daran, wie ich mit dem weißen Brief zu dir gerannt bin und wieder mal hattest du den gleichen Gedanken, wie ich, denn wir trafen uns in der Mitte. Gemeinsam gingen wir zu unserem Lieblingsplatz. Einem See, der umgeben war von Wald. Ein Steg führte bis zur Mitte und wir ließen uns am Ende nieder. Lange hatten wir kein Wort gesagt, hingen unseren Gedanken nach, bis du mich antipptest und gefragt hast, ob wir tauschen sollen. Du zeigtest dabei auf die Briefe in unseren Händen. Still nickte ich, denn in meiner Kehle hatte sich ein Riesenkloß gebildet, den ich nicht herunter schlucken konnte. Damals bedeutete dieser Brief die Welt für uns. Weg aus dem heimatlichen Dorf, rein in die Großstadt. Abenteuerluft schnuppern und das Leben auf der Überholspur genießen.

 

Ich spürte deine Hände zittern, als du mir deinen Brief reichtest. Du warst genauso schrecklich aufgeregt, wie ich. Wir sahen uns noch einen Augenblick an und dann begannst du meinen Brief zu öffnen und ich tat es dir gleich. Mit angehaltener Luft entfaltete ich das Stück Papier, das unsere Zukunft darstellen würde und starrte auf die Buchstaben, als hätten sie ein Eigenleben. Angenommen – stand dort. Wir freuen uns Ihnen mitteilen zu dürfen... . Ich schrie auf, gleichzeitig mit dir. Wir fielen uns in die Arme und grinsten mit der Sonne um die Wette. Wir waren beide angenommen worden. An unserer Traumuniversität.

 

Schnell war entschieden, dass wir zusammen in eine WG ziehen würden. Es dauerte etwas, bis wir schließlich auch die perfekte Wohnung fanden. Eine wunderschöne Dreizimmerwohnung mit Balkon, großen hellen Räumen und nicht weit von der Uni entfernt. Mit der Straßenbahn brauchte man vielleicht fünfzehn Minuten.

 

 

Ein ganz neuer Lebensabschnitt begann für uns. Wir freuten uns beide riesig, doch die Zeit, die dann kam, hatten wir beide nicht eingeplant. Dein Studium lief super und du warst begehrtester Junggeselle in der hiesigen Schwulenszene. Du gingst jedes Wochenende weg, hattest immer wieder neue Bekanntschaften und während ich mich davon zurückzog – irgendwie hatte ich Angst davor, dieses eine Mal nicht mit dir mithalten zu können – wurdest du scheinbar magisch davon angezogen. Du lebtest auf großem Fuß und warst glücklich. Du strahltest noch mehr, als jemals zuvor. Die Großstadt bekam dir gut, aber unsere Freundschaft bekam dadurch Risse. Du machtest neue Bekanntschaften, mit denen du lieber etwas unternahmst, als mit mir. Ich blieb irgendwie auf der Strecke zurück, während du die Großstadt im Sturm erobert hast.

 

Mein Studium lief super, ich war einer der Besten, aber ich hatte kaum Freunde. Ich war scheinbar anders oder mit mir wollte sich keiner abgeben – nicht mal du. Zumindest nicht bis zu diesem einen Tag. Ich weiß noch, dass das Wintersemester neu angefangen hatte und du zu einer Erstiparty gegangen bist. „Frischfleisch checken“, hattest du gemeint und warst dann lachend mit deinen neuen „Freunden“ davon gegangen. Ob ich eifersüchtig war? Zu der Zeit war ich einfach nur schrecklich enttäuscht. Enttäuscht darüber, dass dir unsere Freundschaft scheinbar so wenig bedeutete. Den Abend verbrachte ich mit einer selbstgemachten Pizza und meinem Lieblingsfilm – The Breakfastclub. Es war auch dein Lieblingsfilm, aber du hattest ihn dir schon lange nicht mehr angesehen. Ich weiß noch, dass ich damals auf dem Sofa eingeschlafen war und auch gar nicht mitbekommen habe, wie du nach Hause kamst.

 

 

Erst am nächsten Morgen, als ich schlaftrunken ins Bad wankte, sah ich, was dir passiert war. Das ganze Bad roch fürchterlich nach Erbrochenem und du lagst mitten darin. Kaum noch bei Bewusstsein und ohne wirkliche Erinnerungen. Ich rief den Notarzt an und half dir, dich auf die Toilette zu setzen. Mit Mühe wusch ich das Gröbste ab und lehnte dich an die Wand, als es klingelte. Schnell waren die Sanitäter oben und nahmen dich mit.

 

„Drogen“, war ihre knappe Antwort auf meine Frage, was mit dir passiert sei. Ich durfte nicht mitfahren, da ich kein Angehöriger war. Ich nutzte die Zeit meiner Ungewissheit, um das Bad zu reinigen und zog mir dazu Gummihandschuhe an. Stunde um Stunde brachte ich voller Unruhe hinter mich, bis endlich das ersehnte Läuten des Telefons ertönte und man mir mitteilte, dass du endlich erwacht seist. Erleichtert machte ich mich auf den Weg ins Krankenhaus, hielt jedoch bei einem Floristen, um dir deine Lieblingsblumen zu kaufen. Nelken.

 

Am Empfang sagte man mir, wo man dich untergebracht hatte und ich machte mich erleichtert auf den Weg. An deinem Zimmer angekommen, klopfte ich an und vernahm dein leises „Herein“ nur undeutlich. Schwungvoll öffnete ich die Tür und erschrak zutiefst, als ich dich sah. Dein Haar stumpf, deine Augen glanzlos und dein Gesicht so bleich, wie das Laken, auf dem du lagst. Mit einem mulmigen Gefühl in der Bauchgegend war ich näher getreten und hatte mich neben dich gesetzt. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Doch ich wollte dich nicht darauf ansprechen. Ich wusste, du würdest von alleine anfangen. So, wie du es immer getan hast.

 

„Man hat mir Drogen in mein letztes Getränk gemischt“, begannst du zittrig.

 

Deine Stimme hörte sich heiser an, rau. Ich nickte und schwieg. Wartend darauf, dass du weiter erzählen würdest.

 

„Dadurch war ich enthemmt und hatte scheinbar ungeschützten Sex. Es wurden Spermaspuren gefunden.“

 

Ich musste schlucken. Wir beide wussten, was das bedeuten könnte.

 

„Die Ärzte schließen eine Vergewaltigung nicht aus.“ Deine Stimme war ganz leise, zittrig. So, als würdest du mit dir kämpfen müssen, die Tränen, die fließen wollten, zurück zu halten. Ich ließ die Nelken, die ich in meiner Hand zerdrückte, auf das Krankenhausbett sinken und legte meine Arme um dich. Erst wehrtest du dich dagegen, doch ich begann, dir leise, tröstende Worte ins Ohr zu flüstern. Mit einem Mal ging ein Ruck durch dich hindurch und du hast dich richtiggehend an mich geklammert. Immer wieder hast du aufgeschluchzt. Du weintest meinen Pullover nass, aber mir machte das nichts aus. Ich streichelte dein kastanienbraunes Haar und starrte aus dem Fenster. Ich weiß noch, dass es angefangen hatte zu regnen. Beinahe so, als würde der Himmel deinen Schmerz teilen.

 

 

Ich weiß nicht, wie lange ich da so mit dir saß, doch irgendwann kam die Schwester rein und bat mich in einer halben Stunde zu gehen. Ich nickte nur und sah zu, wie du dich in dein Bett gekuschelt hast. Es dauerte nicht lange, bis du eingeschlafen warst. Bevor ich ging, küsste ich deine Stirn und betete gleichzeitig, dass du noch einmal Glück haben würdest. So etwas hattest du wirklich nicht verdient.

 

 

Doch drei Monate später wusste ich, dass meine Gebete nicht erhört wurden waren. Ich hielt deine Hand, als der Arzt dir schonend beibrachte, dass du dich mit HIV infiziert hattest. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass du regelrecht zusammen gebrochen bist. Erst schriest du alles und jeden an, auch mich. Dann weintest du wieder in meinen Armen, verfluchtest die Welt, dein Schicksal. Noch lange, nachdem deine Tränen versiegt waren, hielt ich dich in meinen Armen und streichelte deinen Rücken. Es war eine schwere Zeit für uns. Ich war immer für dich da, auch als sich alle anderen von dir abwandten.

 

Wir machten unseren Abschluss und zogen dann zusammen in eine andere Stadt, wo wir beide arbeiteten. Ich eröffnete einen kleinen Buchladen, meinen kleinen Schatz. Die Medikamente, die der Arzt dir verschrieben hatte, wirkten gut und die neue Umgebung half dir dabei, dich wieder zu finden. Doch ganz der Alte wurdest du nie. Die Zeiten, in denen du sorglos ausgegangen bist, waren vorbei. Lieber sahst du dir mit mir Filme an. Wir waren uns in dieser Zeit besonders nah. Und irgendwie spürte ich einfach, dass du unsere Freundschaft gerade in diesem Moment ganz dringend brauchtest. Du brauchtest die Nähe zu einem anderen Menschen, doch schon bald merkte ich, dass ich dir nicht wirklich das geben konnte, was du brauchtest. Du sehntest dich nach Liebe. Echter und wahrer Liebe durch einen Mann, der dich genauso wahrnahm, wie du warst.

 

 

Seufzend strecke ich mich und bewege meine Glieder, spüre, wie die Kälte an mir hoch kriecht und sich auf meine Haut legt. Stöhnend stehe ich auf und stecke die kleine Kastanie in meine Manteltasche. Mit einem Lächeln laufe ich weiter den Park entlang und genieße die warmen Sonnenstrahlen. Genauso, denke ich. Genauso hatte die Sonne damals geschienen, als wir Nate kennengelernt haben.

 

 

Es war ein Dienstag, irgendwann im August. Draußen herrschten extreme Temperaturen und wir beide waren dankbar, für die erfrischende Kühle, die die Klimaanlage in meinem Laden spendete. Du halfst mir, meine Bücher zu katalogisieren, denn mein kleiner Laden war mittlerweile sehr beliebt geworden, so dass sich die Nachfragen nach bestimmten Büchern verdoppelt hatten. Ich weiß noch, dass du an einen meiner kreisrunden Tische saßest und sehr gewissenhaft, jedes Buch in die Inventarliste eintrugst. Durch die großen Schaufensterscheiben fiel sattes, warmes Sonnenlicht, das sich in deinem kastanienbraunen Haar verfing und es wie einen Heiligenschein glänzen ließ. Für mich sahst du in diesem Moment aus, wie eine Lichtgestalt. Wunderschön. Atemberaubend. Perfekt. Eine perfekte, kleine Kastanie ohne jeden Makel. Mit einem Lächeln beobachtete ich dich, wie du hochkonzentriert, Buch für Buch in meine Liste eingetragen hast, als mich die kleine Glocke an meiner Vordertür aus den Gedanken riss. Ich setzte ein freundliches Lächeln auf und blickte dem Kunden entgegen, als mir der Atem stockte und mein Herz begann zu rasen, so schnell, als wollte es aus meiner Brust springen und sich in die Arme des Fremden werfen. Er war von großer Statur, muskulös, dunkel – jemand, der einen in den Arm nahm und vor allen Übeln der Welt beschützen konnte. Als er mich mit seinen blauen Augen ansah, musste ich hart schlucken und mich überfiel eine Schüchternheit, die ich so nicht von mir kannte. Gerade, als ich ihn begrüßen wollte, wandte er seinen Kopf und sah dich an. Es war einer dieser magischen Momente, wie man sie aus den Hollywoodfilmen kennt. Du, die Lichtgestalt und er dein dunkler Paladin. In diesem Moment sah ich, dass der Mann, an dem ich soeben mein Herz verloren hatte, seines ebenfalls verlor – an dich. Meine kleine, perfekte Kastanie.

 

 

Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Für diesen einen Augenblick schien die Zeit still zu stehen, als er zu dir hinüber ging und dich etwas fragte. Ich verstand nicht, was, dafür war das Rauschen in meinen Ohren zu intensiv. Ich sah, wie ihr ins Gespräch kamt, vernahm dein glückliches Lachen und sah, wie du ihn zärtlich anblicktest. Das war der Augenblick, als mein Herz in tausend Stücke zersprang. Denn ich wusste, du hattest diese Liebe so sehr verdient und ich wollte sie dir nicht nehmen. Ich weiß noch, dass ihr dann zusammen gegangen seid – irgendwohin. Ich weiß es nicht und ich wollte es auch nicht wissen. Ich blickte euch lächelnd nach, noch lange, nach dem ihr aus meinem Sichtfeld verschwunden ward. Ich bemerkte erst meine Tränen, als ich das Salz schmeckte, das sich auf meine Lippen legte.

 

 

Seit diesem Tag warst du wie ausgewechselt. Fröhlicher, glücklicher. Ihr gingt gemeinsam aus und hattet schon bald ein Lieblingsrestaurant, das ihr jeden Freitag besuchtet. Du schwärmtest jeden Tag von ihm und so lernte auch ich ihn besser kennen. Ich erfuhr, dass er Küsse im Regen liebte und am liebsten spazieren ging, wenn es draußen stürmte. Dass er kaum Fleisch aß, dafür aber jede Art von Käse. Du sagtest, dass er sogar noch besser kochen konnte, als ich und wir beide bestimmt ein Superteam wären, so als Köche.

 

Und irgendwann, irgendwann sagtest du mir seinen Namen. Nathan. Kurz Nate und dass er es liebte, wenn du ihn so nanntest. Er liebte überhaupt alles an dir. Deine Haut, deine fröhliche Art, das Glitzern deiner Augen, wenn du lachtest. Er war fasziniert von dir. Ich konnte ihn so gut verstehen. Und das tat mir am meisten weh. Ich hatte einmal gelesen, dass man am glücklichsten ist, wenn es derjenige ist, den man am meisten liebt. Und ihr ward beide absolut glücklich. Das sah man in jeder Geste, in jeder Mimik, in jedem Augenblick, den ihr miteinander teilen durftet. Doch in keinem Buch stand, wie groß der Schmerz war, dabei zu zusehen, wie die beiden Menschen, die ich über alles liebte, miteinander glücklich wurden. Ich kapselte mich ab und du schienst es nicht einmal zu bemerken. Du hattest die rosarote Brille auf und lebtest im Moment. Deine Krankheit schien dir immer unwichtiger zu werden – genauso wie ich. Aber ich konnte es dir nicht verdenken, denn du hattest das Glück ja an deiner Seite. Ein Glück, dass ich dir so sehr gönnte und wofür ich dich gleichermaßen hasste.

 

 

Ich wusste, dass meine Gefühle falsch waren, aber ich konnte sie nicht abstellen. Egal, wie sehr ich es versuchte. Ich konnte dieses Bild von euch beiden einfach nicht ertragen und machte gute Miene zum bösen Spiel. Keiner schien es zu bemerken, bis zu jenem Tag im Dezember. Es war ein Freitag gewesen und Nate brachte dich heim von eurem Date. Ihr beide strahltet um die Wette und gerade, als ihr euch küsstest, kam ich um die Ecke. Ich hatte nicht schlafen können, wurde immer wieder von seltsamen Träumen geweckt und hielt es nicht länger im Bett aus. Mein Hals war staubtrocken und ich hatte nur ein Glas Wasser trinken wollen, als ich euch sah. Ein unermesslicher Schmerz durchfuhr meinen Körper und ich keuchte erschrocken auf, was ich sofort mit einem Husten überspielte. Ihr beide blicktet mich erschrocken an und ich hustete noch ein bisschen, um die Sache glaubhaft zu gestalten. Du hast mich angelächelt und mir auf den Rücken geklopft und gefragt, ob alles okay sei. Ich konnte nur nicken, traute meiner Stimme nicht. Und wandte mich um, um in die Küche zu gehen. Ich spürte einen brennenden Blick im Rücken, aber ich ging, ohne zurück zu blicken. Bald verabschiedete sich Nate und ich hörte, wie du in dein Zimmer gingst und als ich aus der Küche kam, sah ich Nates Geldbörse auf unserer Kommode liegen.

 

 

Ich ging in dein Zimmer, um sie dir zu bringen, doch du meintest, dass es wichtig sei, dass er sie sofort bekam. Du batest mich, sie ihm zu bringen, denn du fühltest dich nicht gut. Ich weiß nicht, ob du da schon wusstest, wie sehr ich mich zu ihm hingezogen fühlte oder ob es bereits das erste Anzeichen deiner Krankheit war, aber du legtest dich hin und ich zog mir meine dicken Winterstiefel an und rannte nur im Schlafanzug die Treppe hinunter. In der einen Hand seine Geldbörse, in der anderen meinen Wohnungsschlüssel. Es war eiskalt, als ich durch die Haustür schlüpfte und ich wäre beinahe ausgerutscht, so glatt war die Straße. Als ich mich umwandte, sah ich ihn gerade um die Ecke verschwinden und ich rannte ihm vorsichtig hinterher, darauf achtend, dass ich nicht ausrutschte.

 

„Nate“, rief ich immer wieder. „Nate! Warte bitte.“

 

Bei dem letzten Ruf schien er mich endlich gehört zu haben, denn er drehte sich um und sah mir entgegen. Mit wenigen Schritten war ich bei dem dunklen Mann und keuchte. Ich war noch nie der sportliche Typ gewesen und die kleine Strecke hatte mich außer Atem gebracht. Nate sah mich undurchdringlich an, als ich ihm seine Geldbörse reichte und ich wand mich unter seinem Blick. Der Ausdruck seiner Augen war anders, als er mich betrachtete. Es war nicht dieser freundschaftliche Ausdruck, den ich kannte, wenn wir etwas zu dritt unternommen hatten – dieser Ausdruck war dunkler, sehnsuchtsvoller, hungriger.

 

Ich erzitterte unter seinem Blick und spürte die Gänsehaut, die meinen Rücken empor kroch. Ich weiß nicht, ob es an der Kälte lag oder an dem Ausdruck seiner Augen, als ich mich schützend umschlang und von einem Bein aufs andere trat, um mich zu wärmen. Auf einmal bildeten sich Sorgenfalten und Nate meinte mit sorgenvoller Stimme, „Geh lieber wieder ins Haus. Du holst dir sonst den Tod.“

 

Ich nickte nur und wünschte ihm eine Gute Nacht, bevor ich mich umwandte und nach Hause ging, kurz bevor ich um die Ecke verschwand, blickte ich noch einmal zurück. Ich sah, dass er sich keinen Zentimeter gerührt hatte, sondern mich aus dunklen Augen beobachtete. Etwas, was mich mehr als verwirrte.

 

 

Tage vergingen und wurden zu Wochen und ich bemerkte, dass sich Nate veränderte. Obwohl sein Verhalten dir gegenüber gleich blieb – immer liebevoll, immer zärtlich – verhielt er sich anders. Ich konnte es damals nicht richtig benennen und vielleicht sah ich auch nicht richtig hin, aber sein Verhalten gegenüber mir veränderte sich. Hatte er mich früher eher freundschaftlich behandelt, schien er jetzt meine Nähe zu suchen. Und dann sein Blick – dieser Ausdruck in seinen wunderschönen, blauen Augen. Dieser Hunger, diese Sehnsucht.

 

Jedes Mal erzitterte ich unwillkürlich, wenn ich in seine Augen sah. Es war atemberaubend und es war so falsch. Ich durfte diese Gefühle nicht haben. Ich wollte dir nicht wehtun, denn ich sah, dass Nate alles war, was du dir jemals erträumt hattest. Er war dein Traumprinz, dein Ritter und ich hatte nicht das Recht, ihn dir wegzunehmen, obwohl meine Sehnsucht nach ihm, immer stärker wurde.

 

Ich zog mich noch mehr aus eurem Leben zurück, denn ich konnte es immer weniger ertragen, euch zusammen zu sehen. Und obwohl ich immer versuchte, dir ein guter Freund zu sein, konnte ich diese Nähe zwischen dir und Nate nicht mit ansehen, konnte nicht verstehen, dass du mit ihm glücklich werden konntest. Etwas, dass mir nicht vergönnt sein würde. Von dem ich dachte, dass es mir nicht vergönnt sein würde.

 

 

Mit einem Seufzen streiche ich über die taufeuchten Blätter des Haselnussstrauches, an dem ich vorüber gehe. Es war damals wirklich keine einfache Zeit – du warst der glücklichste Mensch auf Erden und ich missgönnte es dir so sehr. Ich hasste mich selbst so sehr dafür, aber schließlich kam es doch anders, als ich dachte.

 

 

Ich weiß noch, dass es ein sehr stürmischer Tag war, als ich gerade den Laden abschließen wollte. Es regnete, wie aus Gießkannen und kein vernünftiger Mensch befand sich noch auf der Straße. Ich liebte das Geräusch des fallenden Regens schon immer. Schon als kleines Kind saß ich oft stundenlang am Fenster, wenn es regnete und starrte einfach hinaus, genauso, wie ich es an jenem Tag getan hatte. Gedankenverloren folgte ich mit meinen Blicken den einzelnen Regentropfen, die zu Boden fielen und fühlte mich genauso, wie jeder einzelne von ihnen. Wie Regentropfen, zersprang auch ich immer wieder in Einzelteile, nur um diesen Verlauf immer wieder von vorn zu beginnen.

 

Damals fragte ich mich oft, ob es denn keinen Platz für mich gab – ein Platz nur für mich. Da, wo ich hingehörte. Nur ich. Ich fühlte tiefe Melancholie in mir, genauso, wie es Shakespeare in seinem Werk Hamlet beschrieb. Wie der Dänenprinz, fühlte auch ich mich hin und her gerissen, zwischen dem, was richtig war und dem, was ich wollte. Als hätte der Himmel meine Gefühle aufgeschnappt, verstärkten sich der Sturm und der Regen. Fasziniert betrachtete ich dieses Schauspiel und nahm die dunkle Person, die sich mir näherte, kaum wahr. Erst, als sie direkt vor mir stand, erkannte ich Nate. Er war komplett durchgeweicht und ich ließ ihn zu mir in den Laden, bevor ich die Tür verschloss und mich zu ihm umdrehte. Ich sah ihm dabei zu, wie er sich aus seiner nassen Jacke schälte.

 

Jungenhaft grinste er mich an, bevor er mit seiner tiefen Stimme meinte, „Ich bin froh, dass ich dich noch erwische. Ich brauche unbedingt ein Buch.“

 

Schwach erwiderte ich sein Lächeln und drehte mich dann zu meinen Bücherregalen. Ich hätte mir denken können, dass er nicht wegen mir hier war. Und auch, wenn ein dummer Teil in mir darauf gehofft hatte, war ich doch unendlich froh darüber, dass es nicht so war. Meine Selbstbeherrschung war am Rande des Unmöglichen und schon diese kleine Nähe zu ihm, brachte sie schmerzhaft zum Wanken.

 

 

„Was suchst du denn für ein Buch? Welches Thema?“, fragte ich ihn heiser und überblickte die tausend Buchrücken, die ich in meinem Buchladen hatte.

 

„Ich suche ein Buch über Liebe“, flüsterte er hinter mir. „Wahre Liebe.“

 

Schluckend ging ich in den dunklen Gang zwischen zwei riesigen Bücherregalen und strich mit meinem Zeigefinger über die Buchrücken. Mir fielen nur die alten Klassiker ein, Romeo und Julia oder Kabale und Liebe. Bücher, in denen wahre Liebe mit so zauberhaften Worten beschrieben wurde.

 

„Hast du Vorstellungen, wie die Handlung in etwa sein soll?“, fragte ich nachdenklich.

 

Ich war voll konzentriert auf meine Arbeit und durchforstete mein Gehirn nach dem passenden Buch, so dass ich seine nächsten Worte kaum verstand. Er flüsterte fast und ich spürte, dass er mir immer näher kam, als er mit sanfter Stimme meinte, „Ich möchte ein Buch, dass beschreibt, was der richtige Weg ist, wenn man merkt, dass man eine ganz andere Person liebt. Das mir hilft, eine Entscheidung zu treffen, wie ich weitermachen soll, nachdem ich bemerkt habe, dass ich die Person, mit der ich zusammen bin, nur wie einen Bruder liebe, einen Freund. Das mir zeigt, wie ich der Person, die solch einzigartige Gefühle in mir weckt, meine Gefühle zeigen soll, wo ich doch so große Angst habe, dass er sie nicht erwidert, dass er mich deshalb hassen könnte.“

 

Während seiner Worte hatte ich in jeder Bewegung inne gehalten. Mein Atem ging nur noch stockend und mein Herz raste, als wollte es aus meiner Brust springen. Ich spürte, wie er immer näher kam und sich schließlich ganz an mich presste. Mich umfasste, so stark, als wollte er mich nicht mehr gehen lassen.

 

 

„Caleb, ich brauche dich“, flüsterte Nate heiser und presste mich noch enger an sich.

 

Es war das erste Mal, dass er meinen Namen aussprach und es klang süßer, als alles, was ich mir vorgestellt hatte. Ich wähnte mich am Ziel all meiner Träume. Und doch... Da warst du. Du, der diese Liebe so sehr verdiente. Mehr, als jeder andere auf der Welt. Viel mehr, als ich. Doch konnte ich mich nicht wehren, als Nate mich zu sich herum zog und mich küsste. Sanft. Leidenschaftlich, voller Sehnsucht. Hielt nicht dagegen, als er mich mit sich auf den Boden zog und mich entkleidete. Mein Geist war willig und mein Fleisch schwach. So lange hatte ich mich nach ihm gesehnt, hatte mich nach ihm verzehrt. Ich war hin und her gerissen, aber ich konnte seinen Lippen nicht widerstehen, die sich ihren Weg über meinen Körper bahnten. Nicht der fiebrigen Hitze, die sich über meinen ganzen Körper ausbreitete. Mit Faszination strich ich immer wieder über seine glatte Haut und fuhr mit Staunen über seine definierten Muskelstränge. Konnte das Stöhnen nicht unterdrücken, das aus mir herausbrach, als er mich am zentralen Punkt meiner Lust berührte. Konnte nicht aufhören zu keuchen, als sich sein nackter Körper an meinen presste. Und als er sich endlich in mir versenkte, mit mir eins wurde, wusste ich, dass ich für immer ihm gehören würde. Er war der Erste und er würde für immer der Einzige bleiben. Farben explodierten vor meinen Augen und ich drängte mich noch enger an ihn, wollte ihm noch näher sein. Ich wollte mich in ihm verkriechen, mich unter seiner Haut verstecken und ihn nie wieder gehen lassen. Sein Rhythmus war unwiderstehlich. Immer stetig, manchmal schnell, manchmal langsamer. Es schien beinahe, als wollte er diesen intimen Moment hinauszögern, wollte unsere leidenschaftliche Verbindung so lange, wie möglich aufrechterhalten. Und doch spürte ich, wie sich die große Hitze in meinem Körper sammelte und schließlich ihren Höhepunkt fand. Ich stieß einen Schrei hervor und presste mich regelrecht an ihn, im gleichen Moment, als auch Nate seine Erfüllung fand.

 

 

Erschöpft und überaus befriedigt, sank ich auf den Boden und zog ihn mit mir. Spürte, wie sich seine Brust hastig bewegte und sein Herz raste. Ihn so nah zu spüren, noch in mir, war der schönste Augenblick, den ich je verspürte hatte. Sanft verteilte er Schmetterlingsküsse auf meinem Gesicht und als ich ihn anblickte, stockte mir der Atem. In seinen Augen glühte Liebe, nichts anderes, als reine Liebe. Mir schossen Tränen in die Augen und als sich unsere Lippen zu einem erneuten Kuss fanden, legte auch ich all meine Liebe hinein. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir dort lagen. Im Arm des Anderen. Streichelnd, liebkosend, uns küssend. Doch irgendwann endet jeder schöne Augenblick und so auch dieser. Still zogen wir uns an und als er ging, ging er mit dem Versprechen, dir zu sagen, was er für mich empfindet. Wollte dir die Wahrheit sagen. Ein Teil von mir war so glücklich, dass ich ihn bald im Arm halten würde, dass er bald ganz und gar mir gehören würde, aber ein anderer Teil fürchtete sich. Fürchtete sich davor, zu sehen, was mit dir geschehen würde, wenn er dich verließ.

 

 

Ich blieb noch eine Stunde in meinem Buchladen, denn ich wollte euch Zeit geben, miteinander zu reden, euch auszusprechen, euch zu verstehen. Leise schloss ich die Haustür auf und erblickte seine Schuhe. Fein säuberlich neben deine gestellt. Ich weiß nicht mehr, was ich damals fühlte, als ich dieses Bild sah. Zu verschwommen sind meine Erinnerungen, denn nur wenige Sekunden danach brach meine Welt erneut in Stücke, denn deine war es schon längst.

 

Ich fand euch im Wohnzimmer. Du warst ganz eng an ihn gekuschelt, klammertest dich regelrecht an ihn. Eine Aura von Wut und Verzweiflung schien dich zu umgeben und ich fragte mich unwillkürlich, was geschehen war. Als du mich bemerktest, vergrubst du dein Gesicht noch mehr in Nates Brust und ich blickte in sein Gesicht. Ein Gesicht, das einer eisigen Maske glich, obwohl es vor wenigen Stunden noch so leidenschaftlich ausgesehen hatte. Sein Blick war unergründlich, als du zu erzählen begannst. Du warst beim Arzt gewesen. Reiner Routinetermin. Nichts Besonderes und doch hatte der Arzt schlechte Neuigkeiten. Du hattest schon vorher bemerkt, dass die Wirkung deiner Medikamente nachgelassen hatte und doch hattest du gehofft, dass es nicht so schlimm wäre, doch der Arzt meinte, dass deine Blutwerte absolut nicht in Ordnung wären.

 

 

Deine nächsten Worte nahm ich nur noch verschwommen war. Nicht länger unter der Nachweisgrenze. Der Virus hatte gestreut. Ich wusste, was das bedeutete. Was das für dich bedeutete. Der Virus war ausgebrochen. Hatte sich in deinen Blutbahnen verteilt und dich zum Tode verurteilt. Der Arzt hätte gemeint, er wüsste nicht, wie lange du noch hättest. Mit anderen Worten, wie lange du noch hier auf Erden wandeln würdest. Ich wusste nicht, woran ich in diesem Moment mehr erstickte. An der Tatsache, dass du sterben würdest? Oder eher daran, dass ich dich in deiner dunkelsten Stunde alleine gelassen hatte, um dich zu hintergehen. Als ich sah, wie sehr du dich an Nate klammertest, dich an ihn presstest und er dich beschützend umfangen hielt, beschloss ich, dir alles Glück meiner Welt zu Füßen zu legen. Niemals solltest du erfahren, wie sehr ich den Mann liebte, an dessen Brust du lehntest. Ich riss mir das Herz aus meiner Brust, denn du hattest diese Liebe so viel mehr verdient, als ich. In mir breitete sich Kälte aus, kroch durch meine Blutbahnen und setzte sich als dicker Klumpen in meinem Bauch fest. Mit all meiner Willenskraft drängte ich die Tränen zurück, die sich in meinen Augen sammelten und verließ schweigend den Raum. Das, was du jetzt brauchtest, konnte ich dir nicht geben. Das konnte nur Nate und ich wusste das. Nur Nate konnte dich glücklich machen und ich gönnte es dir. Doch als ich den Raum verließ, zersprang mein Herz in tausend Stücke. Nicht nur mein Herz, auch ein Teil meiner Seele starb, denn ich wusste, dass es jetzt so viel schwerer war, dir mein Glück zu überlassen, jetzt nachdem ich wusste, wie sich seine Hände auf meinem Körper anfühlten, wie warm seine Umarmung war, wie weich seine Lippen.

 

 

Er kam am nächsten Tag zu mir in den Laden. Tiefe Augenringe zierten sein Gesicht und er wirkte bleich und ausgelaugt. Er wollte mich in seine Arme ziehen, mich küssen, mich umarmen. Doch ich wehrte ihn ab. Mit aller Kraft. Und als er mich fragte, warum ich das tat, log ich ihn an. Meinte, dass es nur Spaß gewesen war. Reiner Trieb. Nichts weiter. Alles, ohne Gefühl. Ich sah ihm geradewegs in die Augen, als ich das zu ihm sagte und betete, dass er in meinen Augen las, wie ernst ich meine Worte meinte. Hoffte, dass er mir nicht ansah, wie sehr es mich schmerzte, ihn gehen zu lassen, ihn anzulügen. Er verließ meinen Laden im Zorn und ich wusste, dass er zu dir gehen würde, denn du warst sein Licht, sein Halt. Er war keine Minute hinaus, brach ich zusammen. Ich weinte, schrie, verfluchte die Welt und mein Schicksal, verfluchte alles und jeden, obwohl ich wusste, dass ich diesen Weg selbst gewählt hatte. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich immer wieder so handeln würde. Für dich. Für dich allein.

 

 

Es vergingen drei Monate und du blühtest richtig auf. Strahltest und schienst dein Leben in vollen Zügen zu genießen. Zusammen mit Nate, der mir jetzt nur noch distanziert begegnete. Von seiner einstigen Liebe zu mir schien nichts mehr übrig zu sein und ich verschloss den Schmerz, der in einer ungekannten Brutalität immer wiederkehrte, tief in mir. Du solltest nicht sehen, wie weh es mit tat, wenn ich euch zusammen sah. So vertraut. So unendlich zärtlich. Es war für mich eine Erleichterung, als du nach drei Monaten freudestrahlend in mein Zimmer kamst und lachend meintest, dass ihr zusammen ziehen wollt. Du warst so glücklich, richtig überschwänglich, dass sich selbst mir ein Lächeln abrang. Du bemerktest meine Trauer und schobst sie darauf, dass du bald ausziehen würdest. Du meintest, dass wir uns jeder Zeit sehen könnten und ihr bestimmt eine Wohnung in der Nähe finden würdet. Noch einmal umarmtest du mich überschwänglich und gingst dann aus der Wohnung, riefst mir an der Haustür jedoch noch einmal zu, dass ihr euch jetzt Wohnungen ansehen würdet. Ich blieb zurück, am Boden. In tausend Teile zersplittert. Wie ein Regentropfen, wenn er den Boden berührt. Und ich wusste, ich hoffte, dass ich das Richtige tat, wenn ich dir dieses Glück schenkte.

 

 

Es dauerte nicht lange und ihr hattet tatsächlich die perfekte Bleibe für euch gefunden. Eine kleine Zweiraumwohnung. Tatsächlich nicht weit von unserer alten Wohnung entfernt. Es dauerte dann noch drei Wochen bis der Umzug begann und als dein bester Freund half ich natürlich mit, auch wenn ich die ganze Zeit dagegen ankämpfte in Tränen auszubrechen, wenn ich Nates kalten Blick auf mir spürte. Doch ich wusste, dass ich das Richtige tat. Noch ging es dir gut und du konntest das Glück, dass Nate für dich war, genießen. Ich hatte gelesen, wie schnell es gehen konnte, war der Virus erst einmal ausgebrochen und doch hoffte, betete ich für dich, dass du noch jede Menge Zeit haben würdest, um dein neues Leben zu leben. Mit Nate an deiner Seite.

 

Nachdem alle Möbel aufgebaut waren, verabschiedete ich mich schnell. Ich nannte einen flüchtigen Grund, an den ich mich heute nicht einmal mehr erinnern konnte, aber ich wollte bei eurer Feier nicht dabei sein. Jeder Mensch hat seine Grenzen und meine war schon lange erreicht. Ich balancierte auf diesem schmalen Drahtseil und mit jeder Minute, die ich länger in eurer Nähe blieb, spürte ich den Abgrund näher kommen. Meine Welt bestand aus Schmerz, aber solange ich dich glücklich sah, wusste ich, dass alles richtig war.

 

 

Doch nach einem halben Jahr änderte sich euer Leben abrupt. Du hattest dir eine Grippe eingefangen. Eine äußerst kritische Situation für jeden mit einer Immunschwäche. Man konnte dir richtig ansehen, wie sehr dir der Infekt zu setzte. Doch immer, wenn ich dich sah, strahltest du mit der Sonne um die Wette. Dein Lebenswillen war ungebrochen, auch wenn dein Körper dem nicht lange standhielt. Die Grippe heilte nie richtig aus, du warst immer angeschlagen und die Ärzte meinten, wenn die Grippe erneut ausbricht, könnte es sein, dass du es diesmal nicht schaffen würdest. Dein Körper war zu schwach, auch wenn dein Willen stark war. Nate nahm sich damals Urlaub, um für dich da zu sein.

 

Bei einem Besuch erzähltest du mir, dass er mit dir ans Meer fahren will. Du warst noch nie dort gewesen und wolltest endlich wissen, wie es aussah. Drei Tage danach machtet ihr euch auf den Weg, nur mit dem Auto. Nate hatte euch ein kleines Strandhaus gemietet, so dass du jeden Tag das Meer sehen konntest. Ich stand damals auf dem Gehsteig und beobachtete, wie er dir zärtlich und sanft ins Auto half, dich angurtete und sich dann auf den Fahrersitz begab. Ich winkte euch zum Abschied und wünschte euch viel Spaß. Dass es dein letzter Urlaub sein würde, wussten wir damals alle nicht, aber ich glaube, du hast es bereits geahnt.

 

 

Starker Wind kommt auf und lässt dunkle Wolken am Himmel vorüber ziehen. Kurze Zeit ist die Welt in Licht und Schatten getaucht und ich beobachte das Schauspiel fasziniert. Der Herbst ist unberechenbar. War es in dem einen Moment noch sonnig und warm, konnte es schon im nächsten stürmen und regnen. Mit einem Seufzen mache ich mich auf dem Heimweg, als ich die ersten Regentropfen auf meiner Haut spüre. Schon bald strömte der Regen nur so zur Erde, aber es machte mir nichts aus – ich liebte den Regen. Seine Reinheit, seine Lebendigkeit, das Leben, das er versprach. Der Park endete und machte einen breiten Straße Platz. Überall sehe ich Menschen durch die Gassen rennen – hektisch, schnell, ohne Rücksicht auf andere. Selbst in dieser kleinen Stadt gab es ein gewisses Maß an Anonymität. Damals hatte uns das beiden gefallen. Eine Stadt, die klein und gemütlich wirkte, wo aber dennoch nicht jeder jeden kannte, doch als deine Krankheit, als deine Schwäche immer stärker wurde, wünschtest du dich zurück in unser Dorf. Alles zurück auf Anfang. Zu dem Tag, an dem See, als wir unsere Briefe öffneten und sich unsere Welt verändert hatte. Mit langen Schritten laufe ich durch Straßen, komme vorbei an Kleinhäusern und an Gärten. Je stärker der Regen wird, desto weniger Menschen sehe ich auf der Straße. Und ich erinnere mich daran, dass es genauso stark regnete, als ich dich damals im Krankenhaus besuchte.

 

 

Nach eurem Urlaub schienen deine Kräfte noch mehr zu sinken. Du wirktest immer ausgezehrter, kränker. Du nahmst immer mehr ab, als würde dein Körper die Nahrung, die du zu dir nahmst, nicht wirklich verarbeiten. Und schließlich brachst du zusammen. Nate rief den Notarzt und man brachte dich ins Krankenhaus. Sein Blick war voller Sorge, voller Angst. Er liebte dich auf seine Weise. Tief. Innig. Du warst für ihn sein Ein und Alles. Genauso, wie du es dir gewünscht hattest. Er war dein Paladin, der Mann, der dich genauso liebte, wie du wirklich warst. Das Besondere in dir sah, das ich schon immer in dir gesehen hatte. Er durfte mit dir mitfahren, als er sagte, dass er dein Verlobter sei. Ich weiß noch, dass ein unsäglich schmerzhafter Stich durch meinen Körper fuhr, als ich dieses Wort vernahm. Verlobter – du hattest mir nicht gesagt, dass er dich gefragt hatte, ob du ihn heiraten möchtest. Noch eine Weile nachdem der Krankenwagen weg gefahren war, stand ich auf dem Gehsteig. Innerlich war ich wie erstarrt und wusste nicht, was ich fühlen sollte. Alles war Eis. Alles war kalt. Meine Angst um dich, meine Sorge, kämpfte mit dem Gefühl des Verlusts. Es war alles zu viel, alles zu intensiv. Ich hasste mich so sehr dafür, dass ich selbst jetzt – selbst in dem Moment, in dem du alles zu verlieren drohtest, eifersüchtig auf dich war. Eifersüchtig auf dein Glück, diesen Mann, den ich so sehr liebte, Dein nennen zu dürfen. Meine Gefühle waren so falsch, waren so unwichtig, versuchte ich mir klarzumachen. Alles, was in diesem Moment zählte, warst du. Nur du zähltest – du und dein Kampf. Mein Inneres erstarrte zu Eis und ich konnte mich endlich bewegen. Es war alles taub, aber endlich konnte ich mich meiner Aufgabe widmen.

 

 

Nate hatte mir den Schlüssel zu eurer Wohnung gegeben, um ein paar deiner Sachen zusammen zu packen. Ich versuchte, die Gemütlichkeit und zärtliche Wärme zu ignorieren, die mich umfing. Überall hingen Fotos. Zeigten, wie glücklich ihr miteinander ward. Wie viel ihr euch bedeutetet. So schnell, wie möglich packte ich deine Sachen – ich konnte es einfach nicht ertragen. Bevor ich eure Wohnung verließ, schwor ich mir, dass ich ab jetzt versuchen würde, dir wieder ein besserer Freund zu sein. Du verdientest es so sehr.

 

Es regnete in Strömen, als ich endlich das kleine Krankenhaus erreichte, in das man dich und Nate gebracht hatte. Schnell fand ich deine Zimmernummer heraus und sah gerade noch, wie eine Schar Ärzte in weißen Kitteln dein Zimmer verließen. Kurz zögerte ich, war mir nicht sicher, ob du mich jetzt, in diesem Moment überhaupt sehen wolltest, aber dann handelte mein Körper einfach, ohne dass es mir wirklich bewusst war. Ich klopfte an und betrat nur wenige Sekunden später dein Zimmer. Es war ein schönes Raum. Gestrichen in warmen Farben. Mit einem riesigen Fenster, aus dem man in den schön gestalteten Garten des Krankenhauses sehen konnte. Direkt vor deinem Fenster stand ein Kastanienbaum, dessen Blätter sich schon längst verfärbt hatten. Er trug nur noch wenig Laub und als durch den Sturm erneut Blätter abrissen, kam mir unwillkürlich der Gedanke, dass es aussah, als würde der Baum die Zeit widerspiegeln, die dir noch vergönnt war. Mit einem Kopfschütteln versuchte ich diesen schrecklichen Gedanken abzuschütteln, aber es gelang mir nur einen Moment lang, denn als ich dich ansah, kehrte das mulmige Gefühl sofort zurück. Mit doppelter Stärke. Du sahst so bleich aus, so ausgezehrt. Unter deinen Augen befanden sich riesige, dunkle Augenringe. Dein sonst so leuchtendes Haar war stumpf und kraftlos, aber ein Blick in deine Augen ließ mich stocken. Sie leuchteten. So glücklich, so fröhlich – wie kleine Kastanien in der warmen Herbstsonne.

 

 

Ich blieb sehr lange an diesem Tag bei dir. Wir redeten, wir lachten. Ich konzentrierte mich voll und ganz auf dich, ignorierte Nates dunkle Blicke. Selbst, als sich mein Herz immer wieder schmerzhaft zusammen zog. Als du schließlich erschöpft einschliefst, erhob ich mich leise. Einen Moment stand ich da und blickte auf dich hinab. Mit einem sanften Lächeln beugte ich mich zu dir hinab und küsste dich auf die Stirn, wie damals, als alles seinen Anfang nahm.

 

Leise verließ ich das Zimmer und seufzte tief auf, als mich all meine Gefühle einholten, die ich tief in mir verschlossen hatte. Ich spürte meinen seelischen Schmerz beinahe körperlich und Tränen füllten meine Augen. Müde ging ich einige Schritte, aber seine tiefe Stimme hielt mich zurück.

 

„Du hast mich damals angelogen, als du gesagt hast, dass du nichts für mich empfindest.“ Es war keine Frage. Vielmehr eine nüchterne Feststellung der Tatsache.

 

„Du hast uns aufgegeben, damit er glücklich ist“, seine Stimme klang ungläubig, beinahe fassungslos.

 

Ich traute mich nicht, zu ihm zu blicken, ihn anzusehen. Er sollte nicht die Tränen sehen, die über meine Wange liefen. Meine Schultern sackten nach unten und meine Stimme klang ganz leise, als ich Nate antwortete, „Ich konnte dich ihm nicht wegnehmen. Nicht jetzt. Er hat alles Glück dieser Welt verdient und du bist sein Glück. Du warst es schon im ersten Augenblick, als er dich sah.“

 

Ich hörte nicht die Schritte, die sich mir näherten und erschrak, als ich seine warme, sanfte Hand auf meiner Schulter spürte. „Und was ist mit dir?“, flüsterte er heiser. „Was ist mit uns?“

 

Ich wandte mich nicht zu ihm um, sah ihn nicht an, als ich mit fester Stimme erwiderte, „Es gab nie ein Uns, Nate. Wir haben nie angefangen, nie geendet. Wir sollten nicht sein.“

 

Ich schüttelte seine Hand ab und ging einige Schritte, doch ich kam nicht weit, denn seine zornigen Worte hielten mich zurück.

 

„Du gibst so schnell auf? Gibst dein Glück so leichtfertig jemand anderen?“

 

Verkrampft blieb ich stehen, kämpfte mit mir, holte tief Luft – und wandte mich zu ihm. Ich sah, dass er erschrak und einen Schritt zurücktaumelte, denn in meinem Gesicht stand all mein Schmerz geschrieben, all meine Hoffnung, all meine Wut. Tränen liefen unaufhaltsam an meinen Wangen hinab und doch lächelte ich, strahlte ich, als ich ihm antwortete, „Ich habe mein Glück nicht leichtfertig vergeben und auch nicht an irgendjemanden. Ich habe es meinem besten Freund geschenkt, der alles Glück dieser Welt verdient hatte. Immer. Und ich würde es jeder Zeit wieder tun.“

 

Es war die Wahrheit – egal, wie sehr es mir wehtun würde, egal, ob ich daran zugrunde gehen würde. Für dich würde ich alles tun – auch meine Liebe geben. Nur, um dich glücklich zu sehen.

 

Auch Nate sah die Wahrheit und ich beobachtete, wie all seine Wut aus seinem Körper wich.

 

„Hast du dabei auch einmal an mich gedacht?“, fragte er leise und blickte mich unergründlich an.

 

„Immer“, hauchte ich. „Die ganze Zeit war mein Herz bei dir.“

 

Fassungslos sah er mich an und streckte sein Hand nach mir aus, doch ich schüttelte den Kopf, wehrte mich vor seiner Berührung.

 

„Es ist zu spät“, hauchte ich und rannte dann. Rannte davon. Vor der glühenden Liebe, die aus seinem Blick sprach.

 

 

Ich besuchte dich jeden Tag im Krankenhaus. Sah, wie du Tag für Tag immer schwächer wurdest und wie die Kraft deines Körpers mehr und mehr abnahm.

 

Es war einer dieser sonnigen Herbsttage, als ich zu dir ging. Ich hatte dir Nelken mitgebracht und freute mich darauf, dich zu sehen, doch als ich dein Zimmer betrat und Nate sah, wie er verkrampft am Fenster stand und sich kaum rührte, verstand ich, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich dich ansehen durfte. Leise näherte ich mich deinem Bett. Du sahst so weiß aus, so bleich und die Hand, die ich in meine nahm, war eiskalt. Du wusstest, dass es bald vorbei sein würde – das sah ich in deinen Augen. Und doch strahltest du mich an. Warst froh, mich zu sehen. Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Alles war erstarrt und doch fühlte ich, wie sich die eiskalte Furcht in mich krallte. Du durftest nicht gehen, durftest mich nicht allein lassen. Ich brauchte dich doch. Du warst doch alles, was ich hatte.

 

Ich spürte die Tränen nicht, die mir die Wangen hinab liefen, sah dein Gesicht nur noch verschwommen vor mir. Mit einem sanften Lächeln wischtest du die Tränen fort und meintest, „Hey, nicht weinen. Ich gehe doch nicht für immer.“

 

Ich schluchzte auf bei deinen Worten und krampfte meine Hände in deine. Ich konnte, ich wollte dich nicht gehen lassen.

 

„Ich muss gehen“, flüstertest du leise. „Meine Zeit hier ist vorbei.“

 

Ich weinte nun hemmungslos. Ich wollte dich nicht verlieren, du durftest noch nicht gehen. Wir hatten doch noch so viel vorgehabt, hatten noch so viele Pläne.

 

„Du darfst noch nicht gehen“, hauchte ich leise. Ich war egoistisch, aber ich wollte dich nicht verlieren. Ich hatte Angst davor, dich zu vergessen, wenn du nicht mehr da warst.

 

Als hättest du meine Gedanken gelesen, sagtest du leise – deine Stimme wurde immer schwächer, „Solange du an mich denkst, mich in Erinnerung behältst, werde ich weiterleben. In deinem Herzen, in deiner Erinnerung.“

 

Still senkte ich meinen Kopf, doch du packtest mein Kinn und zwangst mich, dich wieder anzublicken.

 

„Ich habe dir nie dafür gedankt, dass du so ein toller Freund warst. Ich hab mich nie bedankt, dass du immer zu mir gehalten hast. Du warst der beste Freund, den ich mir wünschen konnte. Weißt du, wie ich dich immer genannt habe?“

 

Ich schüttelte den Kopf und sah, wie sich erneut ein sanftes Lächeln auf deinem wunderschönen Gesicht ausbreitete.

 

„Du warst mein kleiner Engel, der mir geschickt wurde. Und ich danke alles und jedem dafür, dass ich bei dir sein durfte.“

 

Hemmungslos schluchzte ich auf. Ich konnte dich doch jetzt nicht verlieren. Du gehörtest doch zu mir. Ein Leben ohne dich – ich konnte es mir nicht vorstellen.

 

 

Ich spürte, dass deine Hände immer mehr zitterten, so viel Kraft kostete es dir, mich festzuhalten. Ich umfasste deine Hände und half dir. Müde lächeltest du mich an und riefst dann leise nach Nate. Als er an dein Bett trat, umfasstest du seine rechte Hand und meintest leise, „Eins müsst ihr mir versprechen, wenn ich gegangen bin, dann lebt endlich eure Liebe.“

 

Erschrocken zuckte ich zusammen, wollte etwas einwenden, aber du unterbrachst mich lächelnd.

 

„Ich habe doch gesehen, wie ihr euch angesehen habt, wir ihr euch nach dem Anderen gesehnt habt, aber ich war egoistisch. Ich wollte euch beide, ich hatte Angst, ihr würdet mich sonst vergessen. Ich bin froh, dass ich zwei Menschen hatte, die mich so beschützt haben, die immer für mich da waren.“

 

Wieder schluchzte ich auf. Ich konnte nicht anders. Alles, was ich empfand, war pure Trauer. Ich wollte nicht, dass du gehst.

 

„Ich will, dass ihr beide glücklich werdet. Versprecht mir das“, batest du leise. Ich sah zu Nate, sah die Tränen, die seine Wangen hinabliefen und nickte. Ich würde dir alles versprechen, was du wolltest. Alles. Als auch Nate sanft nickte, schlosst du deine Augen.

 

„Ich liebe euch über alles“, hauchtest du und schliefst mit einem Lächeln ein und ich wusste, du würdest jetzt für immer schlafen.

 

Unter Tränen hauchte ich dir einen Kuss auf die Stirn, als Nate nach den Schwestern rief und als ich aus dem Fenster blickte, sah ich wie sich das letzte Blatt des Kastanienbaumes, der vor deinem Zimmer stand, im Wind verlor.

 

 

Danach ging alles sehr schnell. Die Schwestern kamen in Begleitung des diensthabenden Arztes, der dich untersuchte und deinen Tod feststellte. Herzstillstand. Dein Körper war zu schwach gewesen. Irgendwie erlebte ich alles in Trance. Ich weiß noch, dass sie dich zudeckten und hinausfuhren. Ich bemerkte erst, dass ich noch immer deine Hand hielt, als mich die Schwestern baten, dich loszulassen. Es klang so endgültig und doch wusste ich, dass mir nichts anderes übrig blieb.

 

Ich weiß nicht mehr, was Nate dann getan hat. Er sprach noch mit dem Arzt, als ich regelrecht floh. In unsere einstige gemeinsame Wohnung, in der mich alles an dich erinnerte. Jeder Winkel, jedes Möbelstück, jede Blume. Ich rollte mich auf unserer, meiner Couch ein und weinte hemmungslos. Um jeden Augenblick, den wir nun nicht mehr miteinander teilen konnte, um jede Sekunde, die ich dich nicht mehr berühren konnte. Als du gegangen bist, nahmst du einen Teil von mir mit dir und ich wusste einfach nicht, wie ich weiterleben sollte. Alleine. Ohne dich. In diesem Augenblick wünschte ich, die Zeit würde stehen bleiben.

 

 

Aber natürlich blieb die Zeit nicht stehen. Die Tage liefen weiter und die Welt hielt ihren Lauf konstant. Ich war nur ein Mensch. Nichtsbedeutend im Auge der Zeit. Tage wurden zu Wochen und ich versuchte, dich gehen zu lassen. Doch es gelang mir kaum. Zuviel erinnerte mich an dich. Ich bedauerte, dass ich dir nie gesagt hatte, wie sehr ich dich liebe, wie viel du mir bedeutet hast. Ich bedauerte, dir nie wieder sagen zu können, dass ich dich vermisse. So schrecklich vermisse und dass du hier, auf dieser Welt ein Loch gerissen hast, das keiner füllen konnte.

 

Meine Tage erlebte ich, wie ein Zombie. Gefangen im Schmerz lief ich nur noch auf Autopilot. Erfüllte meine täglichen Pflichten, aber die Freude, die ich sonst bei meiner Arbeit empfunden hatte, fehlte. Du fehltest. Die einzige Konstante, die immer bei mir war. Wir hatten so viel geteilt. In guten, wie in schlechten Zeiten. Wir hatten alles gemeistert. Zusammen und gerade in diesem Augenblick konnte ich dir nicht mehr beistehen. Ich war wütend, zornig und voller Trauer. Ich konnte dich einfach nicht gehen lassen, auch wenn ich es sollte. Mir ging es richtig schlecht – ich ignorierte alles und jeden – und erst, als ich die Einladung zu deiner Beerdigung in den Händen hielt, bemerkte ich, dass fast zwei Monate vergangen waren. Zum ersten Mal seit langem nahm ich meine Umgebung wieder bewusst wahr. Meine Wohnung war zugemüllt. Überall standen leere Pizzakartons, benutzte Taschentücher pflasterten den Boden und alles war eingestaubt. Ich nutzte meine Wut und putzte wie ein Irrsinniger, danach fuhr ich in die Stadt und besorgte mir einen Anzug für deine letzte Reise.

 

 

Müde streiche ich über meine Augen und wandere langsam den Pfad hinauf zu meinem neuen Zuhause. Ich streichle über Charlies Kopf, unser Berner Sennen Hund, der mich freudig begrüßt. Mit einem Lächeln öffne ich die Eingangstür und sofort ist er an meiner Seite. Ich bin komplett durchnässt. Der Regen war sehr stark gewesen. Mir war eiskalt, doch als ich ihn auf der Veranda sehe, kann ich ein Lächeln nicht unterdrücken. Mit schnellen Schritten bin ich auch schon bei ihm und er schließt mich freudig in seine Arme. Nate ist so warm und er duftet nach Herbst. Ich strecke mich nach oben und küsse seine warmen Lippen. Er presst mich noch enger an sich und hält mich ganz fest.

 

„Wo warst du?“, fragt er leise und streichelt dabei über meine nassen, blonden Haare.

 

„Im Park“, antworte ich und höre ihn tief aufseufzen.

 

„Heute ist es genau vier Jahre her“, flüstert er und drückt mich noch enger an sich. Ich nicke, als mir plötzlich etwas einfällt. Mit einem Lächeln drücke ich Nate etwas von mir weg und fische die kleine Kastanie aus meiner Manteltasche.

 

„Schau mal, was ich gefunden habe“, meine ich grinsend und zeige ihm die kleine Frucht. „Sie ist mich regelrecht angesprungen.“

 

Wir beide beginnen zu lachen und Nate zieht mich ins warme Haus und auch als ich meinen vom Regen schweren Mantel ausziehe, lässt er meine Hand nicht los.

 

 

Es war ein verregneter Tag, als deine Beerdigung stattfand. Ich kam absichtlich zu spät, denn ich wollte die ganzen Leute nicht sehen, die dich gar nicht richtig gekannt hatten und nur da waren, um zu erfahren, warum du gestorben bist. In der Kapelle saß ich ganz hinten. Weit entfernt von den anderen und beobachtete mit einem zynischen Grinsen, wie sie sich von dir verabschiedeten. Wie sie Reden über dich hielten, obwohl sie keine Ahnung hatten, wer du wirklich warst. Ich beobachtete den Trauerzug, der deinem schweren, aus dunklem Holz bestehenden Sarg folgte. Ich wartete eine ganze Weile, ehe ich folgte. Schon vom Weiten sah ich, wie jeder Einzelne eine Schippe mit dunkler Erde nahm und sie über deinen Sarg warf. Sich so von dir verabschiedete. Der Regen tropfte auf uns hinunter, viele hatten ihren Regenschirm aufgespannt, aber nicht ich. Mir machte der Regen nichts aus. Es waren Tränen aus dem Himmel und ich freute mich über jede einzelne. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie endlich alle gegangen waren und ich mich zögernd näherte. Deine Eltern hatten einen wunderschönen Grabstein ausgesucht. Kleine Engel zierten ihn und ich wusste, du hättest dich sehr darüber gefreut. Ich bemerkte nicht die Tränen, die meine Wangen hinabliefen, als ich still Abschied von dir nahm, versuchte, dich gehen zu lassen.

 

 

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort stand, als ganz plötzlich der Regen aufhörte und jemand meine eiskalte, klamme Hand umfasste.

 

„Er ist an einem guten Ort“, sagte er und strich mit seinem Daumen über meinen Handrücken. Ich zitterte am ganzen Körper, so sehr erschreckte mich seine plötzliche Nähe. Sie kam unerwartet und tat meiner wunden Seele doch so gut.

 

„Er wird über uns wachen“, flüsterte Nate heiser.

 

Ich konnte nur nicken, traute meiner Stimme und sagte dann doch, „So, wie wir über ihn.“

 

Wir standen dort, bis der Regen ganz aufhörte und als wir gingen, brach die Sonne am Himmel empor und erleuchtete deine letzte Ruhestätte. Und Nate hielt die ganze Zeit meine Hand.

 

 

Wieder lächle ich und blicke hinunter auf unsere Hände, als mir eine Idee kommt.

 

„Lass uns die Kastanie einpflanzen. In unserem Garten“, bitte ich Nate und er nickte nur.

 

Gemeinsam gehen wir in unseren Geräteschuppen und holen eine kleine Schaufel. Ich weiß schon den perfekten Platz für die kleine Kastanie. Direkt neben der Hollywoodschaukel, auf der Nate und ich immer sitzen. Er buddelt ein kleines Loch und ich lasse die braun glänzende Frucht in der feuchten Erde verschwinden. Gemeinsam bedecken wir sie mit Mutterboden und als wir fertig sind, hat es aufgehört zu regnen. Als Nate mich sanft an sich zieht und mich zärtlich küsst, weiß ich, dass ich endlich zu Hause bin und ich weiß, dass du irgendwo auf uns wartest. Darauf, dass wir zu dir kommen und mit dir zusammen glücklich werden. Ich freue mich schon darauf, aber vorerst genieße ich das Leben, wie es kommt.

 

 

Danke, Sebastian, meine kleine Kastanie. Danke für Alles.

 

 

 

 

ENDE

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.09.2014

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