Die verlorene Zeit
In einem Land viele, viele Jahre bevor wir in Städten lebten, gab es zwei Riesen. Kaum ein Mensch wagte sich in dieses Land, denn man erzählte sich schlimme Dinge über die beiden Riesen. Aber wenn man genau nachfragte, wusste keiner so richtig, wie die Riesen dort lebten. Es war ein riesiges Land. Menschen hätten siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebzig Jahre gebraucht, um es zu durchwandern, um von einem Ende zum anderen zu gelangen. Für die beiden Riesen war es nur zu gut, denn so hatten sie ihre Ruhe, wurden nicht bei ihren täglichen Arbeiten gestört und lebten so viele Jahre glücklich miteinander. Nun, an einem wunderschönen Tag, in einem kleinen Ort, an einem dunklen Wald, konnten plötzlich die Menschen die Zeit nicht wiederfinden. Keiner wusste, wo sie geblieben ist. Niemand hatte sie seit dem frühen Morgen gesehen. Alle großen und kleinen Leute in diesem Ort waren sehr aufgeregt. Sie rannten hin und her, alle durcheinander. Sie rannten zu dem dunklen Wald, aber keiner von ihnen traute sich wirklich hinein. Niemand wollte nachsehen, ob sich die Zeit dort versteckt hält. Sie berieten den ganzen Tag lang, was jetzt zu tun sei. Ohne Zeit wollten sie nicht weiterleben. Die Alten im Dorf erzählten wunderbare, ja wundersame Geschichten aus vergangenen Zeiten. Die jüngeren unter ihnen waren sich einig, sie hätten sowieso immer zu wenig Zeit und deshalb brauchen sie die Zeit unbedingt zurück. Die Kinder aus dem Dorf ließen sich gar nicht stören und nutzten diesen herrlichen Tag ohne die ständigen Ermahnungen der Erwachsenen: „Wir haben keine Zeit mehr!“ oder „Komm, die Zeit ist um, wir müssen gehen.“ So verging der Tag und nur weil die Sonne im dunklen Wald verschwand, merkten die Leute aus diesem Ort, dass der Tag zu Ende ging und die Nacht hereinbrach. Der Dorfälteste gab am Abend bekannt:“ Derjenige, der uns die Zeit zurück bringt, darf, wenn er wiederkommt, in dem großen Haus mit der großen Uhr in unserer Dorfmitte wohnen. Er darf jeden Tag die riesigen, goldenen Zeiger der Uhr putzen und dafür sorgen, dass die Zeit nicht wieder verloren geht.“ So manch ein Dorfbewohner überlegte angestrengt, ob er gehen und die verlorene Zeit zurückholen sollte. Aber so manch einer hatte auch dringende Gründe, nicht zu gehen. Da waren die Familien mit den Kindern. Da waren die Kühe, sie mussten am Abend in den Stall und Futter haben. Da waren die Äpfel an den Bäumen, die darauf warteten, geerntet zu werden. Die ganze Nacht lang überlegten die Leute, wer denn mutig genug sei, um zu gehen. Es gab ja auch noch den dunklen Wald, von dem keiner wusste, wie es darin aussah. Nie hatte einer der Leute dieses Dorfes je Zeit in diesen Wald zu gehen. Aber am Dorfrand lebte ein Bursche allein in einer kleinen Hütte. Seine Eltern sind gestorben, da war er noch sehr klein. Kaum ein Dorfbewohner hatte sich um ihn gekümmert, er lebte sehr zurückgezogen, wusste jedoch über alles, was sich im Dorf abspielte bescheid. Er ahnte, wo man nach der verlorenen Zeit suchen müsste. Früh am nächsten Morgen machte er sich auf, packte seine Sachen in einen Rucksack und ging zum Dorfältesten mit der Bitte, man möge ihn gehen lassen, die Zeit zurückzuholen. Die Dorfbewohner waren sehr erfreut, sie jubelten und klatschten und riefen ihm zu.“ Ja, beeile dich, hol uns die Zeit zurück. Wir werden auf dich warten und alles für ein großes Fest vorbereiten. Nimm dir soviel Zeit, wie du brauchst, aber beeile dich.“
Sie gaben ihm noch zu Essen und zu Trinken mit auf dem Weg und dann zog er los. Dieser tapfere Bursche war der Einzige, der den dunklen Wald kannte. Nur zu oft war er dort, suchte sich Pilze und Beeren und erlegte ab und an ein Wild, um sich zu ernähren. Der Tag war sehr hell, die Sonne schien warm durch die Baumwipfel, die Sonnenstrahlen erhellten den Waldboden und kitzelten die Nase des Burschen. Er hörte die vielen Vögel zwitschern und machte es ihnen nach. Ein leichter Wind ging von Baum zu Baum, es erfreute den Burschen, da es aussah, als spielten die Bäume miteinander. Beschwingt und gut gelaunt ging er schnellen Schrittes den Weg entlang. Plötzlich kam ihm ein Brausen und Tosen entgegen. Er hielt inne. Da bemerkte er, dass die Blätter anfingen zu rascheln, die Äste an den Bäumen sich immer stärker bewegten und auf einmal kein Vogel mehr zu hören war. Er huschte blitzschnell unter einen umgefallenen Baum und wartete, er traute sich kaum zu atmen. Er konnte seinen Augen kaum trauen, was war das? Riesige Schuhe, Beine so lang wie Baumstämme, ein riesiger Körper und ein schrecklich grimmiger Kopf kam tosend durch den Wald gestampft. „Bei den Gebeinen meines Vaters und meiner Mutter, was soll ich bloß tun?“ Zitternd überlegte der Bursche, was er jetzt unternehmen könne. Sein Mut aber verließ ihn nicht, er sprang in einem schnellen Schritt auf den alten knorrigen Baum und stellte sich dem Riesen in den Weg. „Halt!“ schrie er, so laut er konnte. „Wohin so schnell?“ Der Riese hielt inne. Hatte er da was gehört. „ Hier unten!“ schrie der Bursche „Hier unten!“ Der Riese bückte sich mit einer Wucht, dass die Äste und Blätter der umstehenden Bäume herabfielen. „ He du kleiner Wicht, stellst dich mir in den Weg? Mach ´das du wegkommst, sonst zertrete ich dich, du hässlicher kleiner Wurm!“ Der Bursche plusterte sich auf und nahm all’ seinen Mut zusammen und rief dem Riesen entgegen „ Na, na, na, du großer Kerl, nun mal nicht so stürmisch. Ich bin auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Du bist so riesig, du kommst schnell voran mit deinen langen Beinen. Nimm mich doch mit, dann finde ich die Zeit schneller. Die Dorfbewohner brauchen die Zeit dringend zurück.“ Der Riese fing an zu lachen, er musste sich aufrichten, ja sogar seinen Bauch halten. Er konnte sich kaum beruhigen. Im Wald donnerte es und schallte es so grusselig, dass der Bursche fast von seinem Baumstamm fiel. Die Bäume, der Waldboden, alles bebte und zitterte. Plötzlich wurde es ganz still. Der Riese beugte sich zum Burschen runter, hielt ihm seine Hand entgegen, hob ihn zu sich empor, direkt vor sein Gesicht. Dem Burschen wurde ganz ängstlich, er zitterte am ganzen Leib. Er konnte nun dem Riesen direkt in das riesige Gesicht schauen. Zwei riesige Augen glotzten ihn an. Eine riesige Knollennase und erst der riesige Mund, aus ihm blinkten riesige Zähne. Der Riese begann zu reden, der Bursche musste sich festhalten, um nicht abzustürzen. „Weißt du kleiner Wicht, du bist sehr mutig, das gefällt mir, du hast dich auf den Weg gemacht, um die Zeit zu suchen. Ich nehme dich mit, wenn du mir auf dem Weg zu meinen Brüdern, die ich besuchen möchte, schöne Lieder singst.“ ´Nichts einfacher, als das´, dachte sich der Bursche und war einverstanden. Singen konnte er. In den vielen Jahren der Einsamkeit hat er viele Lieder gesungen und Spaß daran gehabt. Der Riese und der Bursche kamen schnell voran.
Sie kamen vorbei an riesigen Seen. Sie gingen durch dunkle Wälder und über weite Felder und Wiesen. Wo die Menschen siebentausendsiebenhundertsiebenundsiebzig Jahre gebraucht hätten, schafften es die Beiden in siebenundsiebzig Tagen. Es war eine wunderbare Zeit für den Burschen und den Riesen. Sie verstanden sich gut. Der Riese hatte eine tolle Reisebegleitung, er war begeistert vom Gesang des Burschen und trällerte lustig mit. Am siebenundsiebzigsten Tag kamen sie im Land der Riesen an. Es war ein weites Land. Der Boden strahlte in den Farben Orange, Braun, Grau und ab und an ein zartes Grün. Man konnte von Horizont zu Horizont schauen und der blaue Himmel wölbte sich darüber.
Der Bursche saß in der Hutkrempe des Riesen und hatte so den besten Blick über dieses wunderschöne Land. Der Riese wurde immer schneller, denn in der Ferne sah er schon einen seiner Brüder auf ihn zu kommen. Sie haben sich viele Jahre nicht gesehen. Der Bursche spürte schon wieder Angst beim Gedanken an die Begegnung mit weiteren Riesen, er konnte schon die stürmische Begrüßung spüren und bat den Riesen ihn vorher abzusetzen. Der Riese hielt vorsichtig und liebevoll seinen Hut in die Nähe des Erdbodens und der Bursche sprang so schnell er konnte auf einen kleinen Hügel. Die Riesen begannen sich zu umarmen und mit den Füßen, aus Freude über die Begegnung, zu stampfen. Sie klatschten in die Hände und tanzten vor Vergnügen, das der Erdboden bebte. Es dauerte nicht lange, angezogen vom Lärm, kam er dritte Bruder auf sie zu. Noch einmal musste der Bursche warten bis die drei Brüder sich begrüßt hatten. Völlig erschöpft, voller Freude über dieses Wiedersehen legten sich die Drei auf den Boden und ruhten sich erstmal aus. Einer nach dem Anderen schlief fest ein. Einer schnarchte lauter, als der Andere. Für den Burschen waren es entsetzliche Geräusche, schade, dass ihr sie nicht hören könnt. Er war es gewohnt abzuwarten und den Dingen seine Zeit zu geben. Er machte es sich gemütlich und entspannte sich von der langen Reise. Nach einer Weile schlief auch er ein. Der Bursche hatte einen wundersamen Traum – Die Riesen legten ihn auf eine Feder, pusteten so kräftig, dass er auf dieser Feder durch das Land fliegen konnte und endlich wieder in seinem Dorf ankam. Er landete mit seiner Feder auf dem Dorfteich. Die Leute kamen alle angelaufen und begrüßten ihn stürmisch und fragten hastig „Wo ist die verlorene Zeit? Zeig sie uns, wo hast du sie?“ Der Bursche aber blieb ganz ruhig. Er zog in aller Ruhe ein kleines Kästchen aus seiner Hosentasche und rief den Leuten zu:“ Ihr habt alle soviel Zeit, wie ihr braucht, lasst euch nicht hetzen und macht öfter mal eine Pause. Lasst eure Kinder in Ruhe spielen, ermahnt sie nicht immer auf die Zeit. Die große Uhr soll in Ruhe ihren Lauf nehmen, wir werden zu jeder Zeit alles schaffen." Er warf aus seinem kleinen Kästchen jedem Bewohner eine merkwürdige Figur zu. Dann setzte er sich wieder auf seine Feder und wie durch ein Wunder erhob sie sich sanft im Wind. Er schwebte davon. Von diesem Tag an, ging es in diesem Dorf immer sehr ruhig zu. Jeder, der dort wohnte, hatte Zeit zum Klönen, zum Arbeiten, zum miteinander Lachen, zum Fröhlich sein.
Die Großen und die Kleinen waren stets guter Dinge bis aus dem kleinen Dorf, am dunklen Wald eine riesige Stadt wurde. Da hatten die Leute wieder das Problem mit der verlorenen Zeit. Nur die Leute, die das Land der Riesen fanden, mit den weiten Feldern und bunten Wiesen, den vielen Seen und den tiefen Wäldern haben die Zeit gefunden. Dort leben auch heute noch Leute, die Zeit haben miteinander zu Arbeiten, zu Lachen, zu Klönen und Fröhlich zu sein. Wenn du gut aufgepasst hast, wirst du die Zeit nicht verlieren!
Texte: Alle Rechte bei Evelin Hoop
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Text und Fotos Evelin Hoop
Tag der Veröffentlichung: 29.05.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die die Zeit verloren haben und auf der Suche nach ihr sind.