Nachts leuchtet die rote Laterne für die Kleine, zweimal die Woche.
Die kleine Nadja, die am Maßband im Türrahmen der Küche bis zum Frosch reichte, der gerade aus dem Glas kroch, aber noch nicht von der Sonne empfangen wurde. Ihre Freundin Franziska hatte die 1 Meter Marke längst über- schritten. Franziska saß immer souverän auf ihrer Bank und beantwortete die Fragen des Lehrers korrekt. Nadja wirkte verschüchtert, hielt sich krampfhaft an ihrem Bleistift fest, kritzelte ein paar Figuren in ihr Heft und hoffte, nicht angesprochen zu werden. Nicht, dass sie nicht wusste, was der Lehrer wissen wollte, es entfiel ihr in dem Augenblick, als sie ihren Namen hörte. „Wenn sich die Igel küssen, dann müssen müssen müssen sie ganz ganz fein behutsam sein.“ Nadja sollte sich vor die Klasse stellen und dieses Lied singen. Das Vorsingen wurde zensiert. Sie gehorchte, konnte jedoch beim Singen ihre Tränen nicht zurückhalten.
Abends wartete sie in ihrem Zimmer darauf, dass die Mutter den Raum betrat und bemühte sich dann, besonders freundlich zu sein. Ihre Mutter strich mit frisch gewa- schenen Fingern über die Lampe. Inzwischen war Nadja acht Jahre alt und musste sich für jedes Körnchen Staub ein einen Vortrag anhören, über Ordnung und Sauberkeit, die in diesem Haus zu herrschen hatten. Sie solle froh sein, dass sie ein gut eingerichtetes Zimmer hatte. Einen Kleiderschrank, in dem die Kleidung nach Größe geordnet liegen sollte und nicht auf dem Boden. Ein Regal für die Bücher und Kisten, in denen sie den losen Kleinkram verstauen sollte. Sie räumte auf, und nachdem ihre Mutter das Zimmer erneut inspiziert, sich einigermaßen zufrieden gezeigt und ihr eine ‘gute Nacht‘ gewünscht hatte, stieg Nadja leise im Dunkeln aus dem Bett und begann vorsich- tig, sämtlichen Kleinkram im gesamten Zimmer auf dem Fußboden zu verteilen.
Am liebsten waren ihr die Bau klötze, die sie türmchen- weise auf dem Teppich errichtete, das Feuerwehrauto, der ferngesteuerte Jaguar und ihre Kuscheltiere. Sie stellte sich vor, wie diese Tiere lebendig wurden und sie beschütz- ten. Den Dackel platzierte sie direkt vor ihrem Bett. Er sollte auch ihr Tagebuch und die Nahrungsmittel, die sie gelegentlich unter ihrem Bett versteckt hielt, bewachen. Abendbrot isst man am Abend und nicht in der Nacht. Käse und Wurst werden nicht ohne Brot gegessen. Der Belag wird dünn aufgetragen. Nur dumme Menschen essen Schokolade, und sie solle sich ein Beispiel an ihrer Mutter nehmen, die jedes Frühjahr eisern ihre Fastenkur durch- hielt. Tat sich Nadja doch einmal zu viel auf, wurde ihr die Schnitte aus der Hand gerissen und unter den kritischen Blicken ihrer Eltern begann die Prozedur von neuem. Fortan aß sie heimlich. Vor allem Schokolade. Bald passten die Hosen nicht mehr. Ihre Mutter strafte sie mit bösen Blicken, führte diese plötzliche Gewichtzunahme jedoch auf die Pubertät zurück. Trotzdem sollte sie ein Beispiel an der besagten Fastenkur nehmen. Dicke Menschen sind undiszipliniert; in diesem Haus herrscht Disziplin, denn nur so könne man in seinem Leben etwas erreichen.
Eines Frühjahrs nahm sich Nadja das Beispiel zu Herzen, entdeckte die Macht des Nichtessens und fastete so lange, bis sie in die Klinik kam. Ihre Mutter hielt ihr vor, sie habe das nur getan, um sie von der Arbeit abzuhalten. Die Mutter kam einmal in vierzehn Tagen zu Besuch, obwohl sie im Haus tätig war. Stattdessen tauchte der Vater jeden Abend an ihrem Bett auf und mit ihm dunkle Erinnerungen. Wie sie sich trotz der Verbote eines Nachts dazu durch- rang, ein Glas Wasser zu holen. Sie schlich auf Zehen- spitzen zur Küche. Auf halbem Weg passierte sie die angelehnte Wohnzimmertür, durch die ein aufgeregter Disput ihrer Eltern drang. Ihr Name fiel und mit ihm etwas wie, man hätte sie nicht in die Welt setzen dürfen.
In ihrer Grundschulzeit wachte sie eines morgens auf und konnte im Haus niemanden finden. Sie verbrachte Stunden in steigender Angst. Womöglich war ihren Großeltern etwas zugestoßen. Die Eltern jedoch kehrten ausge- sprochen heiter zu später Stunde heim und erkundigten sich, ob sie auch einen schönen Tag gehabt hätte. Und warum sie das Geld nicht ausgegeben habe, das man ihr auf den Schrank gelegt hatte, den sie gerade so mit halbem Kopf überragte. Dabei war ein Zettel mit der gekritzelten Bemerkung, sie möge den Tag hübsch verbringen. Solche Zettel fand Nadja eine Zeitlang gehäuft vor. Ihre Angst wurde sie dank der unleserlichen Handschrift dennoch nicht los, besonders an Tagen, die keinen Grund hergaben, das Haus zu verlassen. Auch wurde sie angehalten, einen solchen Zettel vorzulesen, ihr Versagen mit der Bemerkung kommentiert, ob sie tatsächlich zur Hauptschule wolle. Dort seien bekanntlich nur kriminelle Idioten, vor denen sie jeden Abend bei Tisch gewarnt wurde. Als ihre Freundin und sie verschiedenen Bildungswege einschlugen hieß es: „Franziska kommt nicht mehr ins Haus.“ Sie solle den Kontakt abbrechen, das Mädchen entspräche nicht ihrem Niveau! Ihr Vater blickte grinsend auf sie herab und flüsterte etwas wie, sie sei doch sein Goldstück, und wie sie sich so etwas antun könne.
In früher Kindheit wünschte sich Nadja zum Geburtstag Murmeln. Die bekam sie prompt und verteilte sie noch am selben Abend auf dem Teppich. Er sollte darauf ausrut- schen, wenn er kam. Ein anderes Mal stahl sie aus der Küche eine Tüte Popkorn. Sie hoffte, durch das Knacken rechtzeitig gewarnt zu sein, erwachte jedoch erst, als sie seine Hand spürte. Nachts schlief sie schlecht.
Sie befand sich in einer Holzhütte, umgeben von satt- grünen Wiesen. Im Garten stand ihr Kamel, an einen Pfahl gebunden und genoss die Sonne. Jemand klopfte. Zwei Kleinkinder standen mit den Eltern vor der Tür und erkundigten sich nach dem Weg in die Stadt. Abends sah Nadja fern. Seltsamerweise tauchte dieselbe Familie auf ihrem Bildschirm auf. Sie war dabei, eine neue Wohnung zu beziehen. Vor dem Haus parkte der Kleintransporter. Und die Eltern mühten sich mit einem schweren Holzschrank ab. Auf halber Treppe entglitt er ihnen und stürzte auf die Kinder nieder, die eben noch in fröhlicher Abenteuer- umzugslaune auf dem Treppenansatz spielten. Sie schaltete den Apparat aus, legte sich schlafen. Gegen Mitternacht erwachte sie. Ein ungewöhnlicher Tumult drang vom Garten her an ihr Ohr. Das Fenster war angelehnt. Nadja sah einen wildgewordenen Braunbär, der sich über ihr Kamel hermachte. In Nachtkleidern stürzte sie aus der Hütte, rannte den Weg in entgegengesetzter Richtung zur Stadt entlang ohne zu wissen, was sie dort erwartete. Das Kamel brach leblos zusammen. Der Bär lies von ihm ab und nahm ihre Fährte auf. Nadja erblickte auf freiem Feld ein altes Backsteinhaus. Vier Stufen führten zu einer Holztür. Die Klingel fehlte. Vom Bär verfolgt hämmerte sie mit beiden Fäusten gegen das Holz. Die Tür wurde sogleich geöffnet. Hastig trat sie ein. Der Bär blieb draußen, er machte es sich vor den Stufen bequem, verhielt sich ruhig. Ihr fiel diese abrupte Verhaltens- änderung nicht auf, war sie noch mit dem Gedanken beschäftigt, ob es nicht unverschämt war, nachts bei Fremden an die Tür zu klopfen. Vor ihr stand lächelnd eine alte Dame, die grauen Haare zum Dutt gebunden. Das Lächeln hatte etwas Heimtückisches, was ihr nicht sofort bewusst war.
Nadja wurde in ein kleines, dunkles Zimmer geführt und nahm auf einem der drei Sofa platz. Die alte Dame verschwand. Außer den Sitzgelegenheiten befand sich noch ein Kühlschrank neben der Tür. Wartend betrachtete Nadja die einst bläulich geblümt, weitgehend vergilbte Tapete. Über einem Sofa hing ein verstaubtes Gemälde. Der röhrende Hirsch hatte seien Weg in diesen Wohnraum gefunden. Weder einen Tisch noch ein Regal konnte sie entdecken, nur eben diesen Kühlschrank. Das Ambiente erinnerte sie stark an einen Wartesaal. Sie wurde unruhig. Der Dame wird doch wohl nichts zuge- stoßen sein. Vielleicht kocht sie Tee. Aber so lange braucht kein Mensch. Nadjas Blick blieb erneut an dem Kühlschrank haften. Sie hörte noch immer kein Geräusch und beschloss ihn sich genauer anzusehen. Im Grunde ging es sie nichts an, ob sich jemand einen Kühlschrank in den Wohnraum stellt. Es war auch nicht ihre Art, fremde Schränke zu öffnen. Doch ihre Neugierde besiegte die Bedenken. Vorsichtig erhob sie sich und schlich auf das Küchengerät zu. Ihre Hand berührte den weißen Griff. Da stand die alte Dame plötzlich vor ihr, mit Tablett, zwei Tassen, einer Kanne und sprach: „Jetzt wollen wir uns erstmal stärken, nicht meine Kleine?“ Die Dame stellte das Tablett auf den Kühlschrank. Sie reichte ihr eine Tasse, goss Tee ein. Man will sie doch hoffentlich nicht vergiften. Ihr ungutes Gefühl wuchs. Da die Dame von der selben Flüssigkeit trank, nahm sie ebenfalls einen Schluck und gähnte bald. „Ach, du bist müde, wenn du magst, kannst du gleich schlafen gehen.“ Ihre Gastgeberin wollte eben noch das Geschirr in die Küche bringen und ihr dann das Gästebett zeigen. Nadja stand wartend im Flur. Sie konnte einen Blick in den Nebenraum werfen. Dort standen vier Kühlschränke und drei Kühltruhen. Kurzentschlossen betrat sie den Raum, öffnete geschwind einen Kühlschrank und sah etwas, was sie lieben nicht gesehen hätte. Die alte Dame nahm Nadja an die Hand, führte sie in den Keller. Dort standen zwei Holzpritschen, der Raum war gekachelt und an der Wand ein Kühlschrank. Daneben hing einen Schürze, die sich die Alte kurzerhand umband. Unter dunklen Gewändern zog sie ein silberglänzendes Messer hervor, zwang die Kleine sich zu entblößen und auf eine der Pritschen zu legen. Die Alte wetzte das Messer und sprach: „Natürlich mache ich mit dem Bär gemeinsame Sache. Was glaubst du denn, für wen ich das Fleisch aufbewahre?“
Tag der Veröffentlichung: 14.03.2009
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