Roja Bellamares, oder kurz Roo, wie sie von ihren zwei engsten und einzigen Freundinnen genannt wurde, war nicht unbedingt abergläubisch, doch sie wollte ihr Glück auch nicht herausfordern. Deshalb fand man in ihrer Wohnung überall typische Glückssymbole, die aus mehreren Kulturen stammten. Das waren zum Beispiel bronzene Hufeisen, grüne Kleeblätter, gläserne Nazar-Amulette, oder Hamsas aus Holz und Metall. Die Talismane brachten nicht nur Glück, sie dienten zudem auch noch als äußerst dekorativer Wandschmuck. Oder sie hingen an langen Fäden von den Fenstern herab.
Die zusammengewürfelte Wohnungsausstattung spiegelte ganz deutlich Rojas Sammelleidenschaft, für alles Ausgefallene wider. Das Mobiliar bestand aus einer kuriosen Ansammlung von alten, geschenkten und gefundenen Einzelstücken, die trotz der unterschiedlichen Stilrichtungen, in sich stimmig wirkten. Eine besondere Vorliebe hegte sie für Schränke und Kommoden, mit verschnörkelten Ornamenten. Davon konnte sie nicht genug bekommen. In jedem Zimmer standen mindesten zwei, wenn nicht mehr dieser pompösen Aufbewahrungsmöbel herum. Wenn ihr das Dekor nicht zusagte, legte sie kurzentschlossen selbst Hand an und bemalte, oder verzierte die Möbelstück kunstvoll.
Bei Roja Zuhause bekam man nie kalte Füße. Das war ihr besonders wichtig, denn frieren war ihr ein Gräuel. Wo man auch hinguckte, bedeckten Teppichflicken, die sie selbst aus den unterschiedlichsten Materialien herstellte, den kalten Boden. Auf diese Weise schenkte sie nicht nur ausgedienter Kleidung, ein zweites Leben als Bodenläufer, sondern machte gleichzeitig Platz in ihrem Kleiderschrank für neue Schätze.
Die Morgendämmerung brach herein und läutete einen neuen Tag ein. So richtig hell wurde es zu dieser Jahreszeit jedoch nicht. Alles war mit einem grauen Schleier der Trostlosigkeit bedeckt. Das hatte der Winter so an sich. Selbst die Sonne hing in einem matten Gelbton am Himmel. Meistens verbarg sie sich hinter einer dicken Wolkendecke und war kaum zu erkennen. Nur wenn man genau hinsah, konnte man die blassen Umrisse des Feuerballs erahnen. Eigentlich war es ein ganz normaler Tag, mit einer winzigen Ausnahme, denn Roja erwachte ungewöhnlich früh an diesem Morgen. Ihr war als ob sie von jemandem gerufen wurde, doch da sie alleine in der Wohnung lebte, war das nicht möglich. Minutenlang lag sie reglos, unter mehreren Schichten von Wolldecken begraben und starrte abwartend die Zimmerdecke an. Wenn sie nur lange genug ausharrte, würden sie vielleicht zurück in die Traumwelt abtriften. Obwohl sie noch sehr müde war, war an Schlaf dennoch nicht mehr zu denken, denn unter den isolierenden Lagen von Stoff, war es mittlerweile unerträglich warm geworden. Roja sah letztendlich ein, dass es keinen Zweck hatte den Schlaf zu erzwingen und fand sich damit ab. Von der Müdigkeit noch leicht benommen, strampelte sie sich mit den Füßen frei und reckte alle Viere von sich. Anschließend gähnte sie genüsslich, wie ein Murmeltier, nach dem Erwachen aus einem langen Winterschlaf.
Nachdem sie die letzten Anzeichen von Müdigkeit hinfort gegähnt hatte, setzte sie sich auf, schwang ihre langen Beine über den Rand der Matratze und schoss wie eine Sprungfeder vom Bett hoch. Noch während sie mit den Zehen in den flauschigen Teppichvorleger eintauchte, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Irgendetwas stimmte nicht, denn ein Gefühl des Unbehagens durchzuckte sie und ließ die feinen Härchen im Nacken, wie kleine Zinnsoldaten strammstehen. Die Ursache hierfür war gleich gefunden. Ein Hosenbein ihres Pyjamas war hochgerutscht, wogegen sie eine absolute Abneigung hegte. Während sie ungeschickt auf einem Bein balancierte, streifte sie mit Hilfe des anderen Fußes das störende Beinkleid herunter und brachte es in die gewünschte Wohlfühlposition zurück. Grazil sah die Zirkuseinlage nicht gerade aus.
Daraufhin stakste Roo mit langen Schritten, schnurstracks auf das einzige Fenster im Schlafzimmer zu. Mit einem Ruck zog sie die bunt gestreiften Vorhänge zurück, um den neuen Morgen zu begrüßen. Tollpatschig wie sie war, stieß sie dabei versehentlich einen der unzähligen Kakteen um. Dicht an dicht bewohnten die genügsamen Sukkulenten, den überladenen Fenstersims und wucherten in sämtliche Himmelsrichtungen, um den besten Platz an der Sonne zu ergattern. Geistesgegenwärtig streckte Roja eine Hand nach dem herabstürzenden Kaktus aus, um ihn aufzufangen. Doch als ihr dann die spitzigen Stacheln auffielen, bereute sie ihre katzenartigen Reflexe und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Mit geschlossenen Augen wartete sie darauf, dass sich die Dornen des piksenden Gewächs, in ihre Haut bohrten. Doch sie wartete vergebens, denn weder landete die Pflanze in ihrer Hand, noch vernahm sie den dumpfen Aufprall des Topfes auf dem Fußboden. Verwundert blinzelte sie durch ein Auge und prüfte die Lage. Eine unerwartete dritte Möglichkeit, über den Verbleib der Kaktee offenbarte sich ihr, denn er levitierte in einer kreisenden Bewegung über ihrer Hand. Unverzüglich riss das Mädchen beide Augen weit auf. Was sie erblickte machte sie derart stutzig, dass sie glaubte ihr Verstand spielte ihr einen Streich. Doch in der Tat hing die Pflanze an keinen unsichtbaren Drähten und schwebte in der Luft.
„Ich glaube mich knutscht ein Pferd“, stammelte sie verdattert und griff zögerlich nach dem Blumentopf. Als ihre Fingerspitzen das Gefäß kaum streiften, plumpste es in ihre Hände und der Spuk hatte ein Ende. Völlig neben der Spur, stellte sie die Pflanze zurück auf den Sims und grübelte, ob sie unter Halluzinationen litt. Doch dann schüttelte sie heftig den Kopf und schob es auf die frühe Uhrzeit. Roo beschloss den Vorfall als eine durch Schlafmangel bedingte Einbildung abzuhaken und widmete ihre Aufmerksamkeit dem Wetter. Die düstere Witterung brachte sie umgehend auf andere Gedanken. Der verhangene Himmel tauchte die ganze Stadt in ein dramatisches Halbdunkel. Wolken über Wolken in den unterschiedlichsten Grautönen, zauberten ihr ein Schmunzeln auf die Lippen. Zufrieden atmete sie tief ein, denn das Schmuddelwetter war geradezu ideal für ihr geplantes Vorhaben und kam wie gerufen. Vor allem wenn man so wenig Aufsehen erregen wollte wie nur irgendwie möglich. Für den noch jungen Vormittag stand nämlich eine spezielle Shoppingtour ganz oben auf Rojas To-do-List.
Um sich etwas Zauber in ihrem Leben zu bewahren, hatte Roo eines Tages beschlossen ihr ungewöhnliches Hobby zum Beruf zu machen. Das selbstbestimmte Fräulein Bellamares verdiente sich ihren Lebensunterhalt mit Heilkunde. Egal wo es zwickte und zwackte, sie kannte ein Kraut das dagegen gewachsen war. In der heutigen Zeit der perfekten Selbstdarstellung auf diversen Social Media Plattformen, war es eher unüblich, dass sich eine junge Frau in ihrem Alter für Unkraut mehr begeistern konnte, als für das perfekte Selfie. Aber nichts an Roja Bellamares war konventionell. Sie saß lieber Zuhause und schmökerte in einem Kräuterlexikon, als auf einer wilde Party die Nächte durchzutanzen. Lieber machte sie eine Wanderung in den nächstgelegenen Wald, um Pilze und Wildkräuter zu sammeln, als sich im Freibad ihre weiße Haut in der Sonne zu verbrutzeln. Eine Unterhaltung mit gurrenden Tauben in den Straßen, zog sie jedem Gespräch mit Gleichaltrigen vor, da die sich nur über Luxusartikel und andere sinnfreien Dinge unterhielten. Über die Jahre hatte sich das strebsame Fräulein Bellamares ein umfangreiches Wissen, von Heilmedizin jeglicher Art angeeignet und wandte dieses erfolgreich, bei ihrem stetig wachsenden Kundenstamm an. Je nachdem welches Wehwehchen die Leidtragenden beklagten, griff sie auf einen reichen Fundus an Heilkräutern, selbstangesetzten Tinkturen und von Hand angerührten Salben zurück. Auch fernöstliche Medizin, wie Akupunktur oder die vedische Heilkunst der Klangmassage, fanden in ihren Sitzungen eine Anwendung.
Mit dem Wintereinbruch neigten sich einige wichtige Komponenten von ihren Vorräten dem Ende zu. Diese Zutaten bildeten jedoch die Basis von diversen natürlichen Heilmitteln, die sie für ihre Tätigkeit als Heilkundige, selbst herstellte und dringend benötigte. In den vergangenen Tagen versuchte sie mehrmals die unverzichtbaren Bestandteile zu besorgen, doch es war wie verhext. Beinahe täglich kam etwas Unvorhergesehenes dazwischen. Also schob sie die Aufgabe immer weiter vor sich hin, bis alles aufgebraucht war. An diesem Morgen blieb ihr daher nichts anderes übrig, als schleunigst für Nachschub zu sorgen, denn es war der letzte Tag, an dem sie diese unabdingbaren Bestandteile besorgen konnte. Unter keinen Umständen durfte sie diese letzte Gelegenheit unerledigter Dinge verstreichen lassen. Dafür würde sie auch die ein oder andere Unannehmlichkeit in Kauf nehmen. Hauptsache ihr blieb es erspart, ihre treue Kundschaft erneut zu enttäuschen und bis ins Frühjahr vertrösten zu müssen. Halbe Sachen waren schlecht fürs Geschäft. Schlichtweg undenklich.
Schon einmal war der selbststudierten Heilpraktikerin eines ihrer Superwässerchen ausgegangen, zur Missgunst einiger übel gelaunten Pensionärinnen. Seid diese nämlich Rojas Wunderheilung für sich entdeckt hatten, schlossen sich die rüstigen Damen, mit ihrer neugewonnenen und verbesserten Lebensqualität, zu einer Gymnastikgruppe zusammen. Davor waren sie auf starke Schmerzmittel angewiesen. Der bunte Pillensalat befreiten sie zwar von so manchen Leid, doch der Beipackzettel mit den unliebsamen Nebenwirkungen war dafür länger als ein Rattenschwanz. Müdigkeit und Trägheit waren nur die mildesten Begleiterscheinung der rezeptpflichtigen Medikamentencocktails. Dank den magischen Händen der jungen Heilerin und ihren wundersamen Tinkturen, benötigten die älteren Frauen nur noch einen Klecks Creme, den sie auf die schmerzenden Körperstellen auftrugen und - wunder oh wunder - fühlten sie sich wie junge Gazellen, die federnd über die weiten Hallenböden des Lady Fitnessstudios tänzelten.
Roja schauderte bei dem Gedanken die sportlichen Ruheständlerinnen noch einmal mit einer Hiobsbotschaft enttäuschen zu müssen. Unfassbar wie schnell sich die ansonsten liebenswürdigen und friedfertigen Omis in einen aufgebrachten Mob verwandeln konnten, die sie nur zu gerne auf dem nächsten Scheiterhaufen brennen sehen wollten. Alleine die Erinnerung daran trieb ihr den kalten Schweiß auf die Stirn und ließ sie nervös an ihren ohnehin schon sehr kurz geratenen Fingernägel kauen. Die Damen zahlten jedoch gut und auch das Trinkgeld fiel stets sehr spendabel aus, daher nahm sie es den Rentnerinnen nicht allzu übel. Dennoch sollte dieser denkwürdige Zwischenfall eine einmaligen Sache bleiben. Nicht auszudenken was sie dem Mädchen beim erneuten Ausbleiben der Ware antun würden. Vielleicht teeren und federn, das käme den gnädigen Damen garantiert recht. Roja schüttelte den Kopf, als sie sich an die erbosten Gesichter der Frauen zurück erinnerte und nahm sich fest vor ihren Kunden keinen Grund für Unzufriedenheit zu liefern.
Neben den gängigenTees und ordinären Heilkräutern, die man in jedem gutsortiertem Kräuterladen wie dem stadteigenen Wuzel-Medikus unterhalb der Blutbrücke erhielt, bestand Rojas gut bestücktes Sortiment, auch aus längst in Vergessenheit geratenen Präparaten, deren Zusammensetzung einzigartige Ingredienzien beinhalteten. Hinter jeder Schranktür und in jedem Schubfach verbargen sich sorgfältig ausgewählte und in Einmachgläsern, Tütchen, Tiegeln und Säckchen aufbewahrte Kräuter. Je nach Bedarf mischte sie die Zutaten in einer Schale zusammen und stellte daraus wundersame Heilmittel her. In liebevoll ausgewählten, bauchigen Flakons abgefüllt, warteten die daraus gekochten Kräuteressenzen in dunklen Schubladen und auf verstaubten Regalen auf ihren Einsatz. Die Gefäße bestanden zumeist aus kostbarem Buntglas und nur Roja wusste, was genau sich in welchem Fläschchen befand und was die darin enthaltenen Flüssigkeiten bewirkten. Zumeist erkannte sie den Inhalt bereits an den unterschiedlichen Farben der Flakons. Zur Sicherheit markierte sie zusätzlich die Flaschenböden mit Kürzeln und Symbolen, die nur sie entziffern konnte. Jedes Mal, bevor sie den Korkverschluss eines Flakons öffnete, warf sie einen prüfenden Blick auf die Unterseite, um sich zu vergewissern, dass sie die korrekten Zutaten miteinander mixte, die speziell auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Kunden abgestimmt waren. Die Kochstube glich daher einer kleinen Hexenküche. Von den Wänden baumelten büschelweise getrocknete Kräuter und Gewürze, ebenso Töpfe, Pfannen und anderer Krimskrams. Einfach alles was sie für ihre Arbeit benötigte.
Einige der erforderlichen Zutaten auf Rojas Einkaufszettel waren derartig exotisch oder unüblich, dass man sie in den gängigen Geschäften vor Ort käuflich nicht erwerben konnte. Zumindest nicht in der Form, in der sie diese benötigte. Selbst im Internet war es ziemlich umständlich bestimmte Komponenten zu erhalten, da ihr der Zoll einen Strich durch die Rechnung machte. Denn nicht jedes Kraut durfte so einfach mir nichts dir nichts, ins Land eingeführt werden. Trotzdem fand das clevere Mädchen Mittel und Umwege, um an ihre Ware zu kommen. Roja hatte zum Beispiel ein Händchen dafür bestimmte Personen kennenzulernen, die in zwielichtige Geschäfte verstrickt waren und Gefallen für einen Gefallen austauschten. Und wenn es notwendig war, war sie auch gewillt vollen Körpereinsatz zu zeigen, um einige der speziellen Raritäten selbst zu beschaffen. Erfreulicherweise fand sie einiges davon in den großzügig angelegten Parks der Stadt vor, oder in den Schrebergärten von Hobby-Vollblut-Gärtnern. Vor allem im Frühjahr bis in den Spätherbst hinein, wiesen die gut gepflegten Grünanlagen eine reichhaltige und variationsreiche Flora auf.
Bisweilen wurde jedoch die ein oder andere Einkaufstour in der Natur zu einem öffentlichen Spektakel, in dem die scheue Bürgerin zu ihrem Leidwesen die Hauptrolle spielte. Flanierende Fußgänger blieben oftmals stehen und sahen ihr neugierig dabei zu, wenn sie sich einmal wieder auf Abwegen befand und sich in schwindelerregenden Höhen, behäbig wie ein Nilpferd von Ast zu Ast hangelte. In den wankenden Wipfeln wuchsen auch auf den untersten Zweigen die erforderlichen Viktualien, doch nur hoch oben in den Baumkronen erhielt sie wurmlose Nüsse, sonnengereifte Beeren und die üppigsten Zapfen in bester Qualität. Ebendiese galt es zu ergattern. Denn nur das Beste war gerade gut genug für ihre Cremes, Tees und Tinkturen.
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Roja beeilte sich und packte alles was sie für ihren Ausflug benötigte in einen Rucksack, der mittlerweile nur noch von verrosteten Ansteck-Pins und zerfledderten Aufnäher zusammengehalten wurde. Dennoch erfüllte der ausgebeulte Ranzen zuverlässig seine Aufgabe. Nur weil etwas kleinere Mängel aufwies, war das für ihren ausgeprägten Sinn für Nachhaltigkeit und Recycling noch lange kein Grund, um es zu Entsorgung. Diese ganze Wegwerfgesellschaft war ihr ohnehin zuwider. In ihren jungen Jahren machte sie es sich zur Aufgabe, nicht zum Problem der stetig zunehmenden Vermüllung des Planeten beizutragen, sondern ein Teil der Lösung zu sein. Kaputte Dinge zu reparieren und Upcycling spielten in ihrem Leben daher eine große Rolle. Löcher jeder Größe wurden eifrig gestopft und geflickt, bis ihre zarten Finger von den Nadelstichen blutig waren und alles was nicht mehr seinen angedachten Zweck erfüllte, oder unreparierbar war, wurde entweder für brauchbare Ersatzteile ausgeschlachtet, oder zweckentfremdet und eine neue nützliche Aufgabe zugewiesen. So kam es, dass die hälfte ihrer Pflanzen in Einmachgläsern, Dosen und sogar in Gummistiefeln eine neue Heimat fanden.
Als nächstes schlüpfte sie in eine bequeme, locker sitzende Jeans, die genügend Bewegungsfreiheit gewährte und streifte sich einen warmen Pullover über. Anschließend griff sie nach einer dicken, gefütterten Jacke, die schon einiges mitgemacht hatte und starke Abnutzungsspuren zeigte. Ihren fransigen Lieblingsmantel ließ sie bewusst an der Garderobe hängen, da das Vintage-Kleidungsstück auf gar keinen Fall schmutzig werden durfte. Da es noch sehr früh war, schliefen die meisten und drehten sich im Bett zum zehnten Mal auf die andere Seite. Roo musste sich beeilen, um nicht unnötig kostbare Zeit zu vergeuden. Desto länger sie nämlich trödelte, umso wahrscheinlicher wurde es auf Passanten zu treffen, die teils neugierig und teils verständnislos ihrem Treiben beiwohnten. Vielleicht lag es am Wetter, doch im Moment verspürte sie nicht das Bedürfnis nach menschlicher Interaktion.
Die Zeit saß ihr im Nacken und nahm ihr jeden Sinn für Gelassenheit, denn das mahnende Ticken des Sekundenzeigers trieb sie beharrlich voran. Roja gönnte sich nicht einmal mehr ein Frühstück, obwohl sie hungrig war. Mit knurrendem Magen verließ sie eiligst die Wohnung, polterte die rustikalen Holztreppen im Hausflur hinunter und brach schwungvoll durch die schwere Eisentür ins Freie. Draußen war es bitterkalt. Ein eisiger Wind umfing sie und tastete mit seinen frostigen Fingern nach winzigen Schlitzen, in die er hineinfahren konnte. Umgehend zog sie den Reißverschluss der Jacke bis unter ihre Nase hoch, um sich besser vor der frostklirrenden Kälte zu schützen und machte sich unverzüglich auf den Weg. Schnellen Schrittes huschte das Mädchen durch die noch unbelebten Gassen. Es war ungewohnt still, doch aus nicht allzu weiter Ferne vernahm sie das vertraute Klappern von Rollläden die hochgezogen wurden. Allmählich erwachte das Leben in den steinernen Gebäuden. Nach und nach erleuchteten vereinzelte Fenster in den Häusern an denen sie vorüber ging und erhellten ihren Pfad wie wegweisende Fackeln. So richtig schnell konnte sie sich jedoch nicht fortbewegen, denn das Kopfsteinpflaster erwies sich als ungeahnte Rutschpartie. Dank der Minusgrade und des nächtlichen Nieselregens, waren die abgerundeten Pflastersteine stellenweise mit einer spiegelglatten Frostlasur überzogen, wodurch sie gezwungen war langsamer voranzuschreiten.
„So ein Mist aber auch“, zeterte Roo und tastete sich an den Fassaden der Gebäude entlang. Im schlurfendem Schneckentempo suchte sie angestrengt den Boden unter ihren Füßen ab, um die rutschigen Stellen möglichst zu umgehen. Klug wie sie war, machte sich sich die seichten Lichtkegel aus den umliegenden Fenstern zunutze und sah sie hier und da ein verräterisches Funkeln auf dem Holperasphalt aufblitzen. Souverän umging sie die gefrorenen Stellen und schaffte es, sich nicht auf den Hosenboden zu setzen. Ein Sturz käme ihr zudem mehr als ungelegen. Roja trug eine fragile Fracht bei sich, die ihren wackeligen Marsch mit einem sanften Klirren untermalte und unüberhörbar aus dem Rucksack ertönte. Dieser war nämlich bis oben hin mit leeren Gläsern und Flaschen gepackt, die im Schritttakt rhythmisch aneinander schlugen. Sobald das junge Mädchen Müllcontainer und andere beliebte Plätze von Ratten passierte, hielt das ein oder andere Nagetier bei der Futtersuche erschrocken inne und horchte alarmiert auf. Jedoch hatte Roja nicht vor das Altglas zu entsorgen, oder gar sich mit den angriffslustigen Müllbanditen anzulegen. Nein. Die eingepackten Gefäße dienten als Gefäße für eine ganz besondere Flüssigkeit.
Ihr Weg führte sie geradewegs zum großen Stadtpark, der als grüne Lunge bekannt war. Für Touristen eher unspektakulär, da die Grünanlage nicht viel zu bieten hatte. Für Einheimische diente der Park mit seinen großflächigen Liegewiesen, als eine Oase der Erholung. An diesem Tag suchte die Heilkundige gezielt den Neptunbrunnen auf. Bei dem antiken Wasserspiel mit den grotesken Figuren, handelte es sich jedoch nicht um ein ordinäres Dekorationselement, sondern um einen magischen Brunnen. Genauer gesagt hatte das Wasser darin besondere Kräfte. Zumindest stand das in einem alten, zerfledderten Tagebuch geschrieben, welches Roja auf ihren Entdeckungstouren durch die Stadt zufällig gefunden hatte. Es lag unter einem schweren Stein begraben. Ein innere Stimme führte sie damals zu dem Versteck und veranlasste die Finderin es an sich zu nehmen. Es gehörte einer gewissen Wicka Bruksmor, doch zu diesem Namen fand Roja keinerlei Eintragungen, daher entschied sie sich das mysteriöse Buch zu behalten. Die Seiten waren vergilbt, doch die Schrift war noch gut zu erkennen. Nicht alles darin niedergeschriebene ergab für die belesene junge Damen einen Sinn. Da war die Rede von Ritualen und Beschwörungen, von Hexen, die Zaubersprüche wirkten und allerlei anderer magischer Hokuspokus. Roja glaubte zwar nicht an Magie, dennoch fühlte sie sich zu diesem Buch auf seltsame Weise hingezogen. Außerdem beinhaltete es uralte Rezepturen und Beschreibungen von Heilpflanzen, die sie neugierig machten und ihr Interesse für das Erlernen und Ausüben der Kräuterheilkunde erweckten - wie sich schnell herausstellte, hatte sie eine natürliche Begabung dafür. Einer der unzähligen Bucheinträge beschrieb den Neptunbrunnen und das darin enthalten Zauberwasser. Auch wenn sie nichts von Zauberei hielt, so sprach es zumindest ihre Experimentierfreude an. Deshalb wollte sie den alten Rezepten aus dem Tagebuch zumindest eine Chance geben. Seitdem bildete das unscheinbare Brunnenwasser die Basis ihrer meisten Tinkturen und die Zufriedenheit ihrer Kundschaft war Beweis genug, dass es zumindest keinen Schaden anrichtete.
Roja benötigte etliche Liter der trüben Brühe, um über den Winter zu kommen, bevor die Brunnenanlage abgestellt wurde und erst im Früher wieder ihren Betrieb aufnahm. Am Ziel angekommen, setzte sie den Rucksack ab, öffnete die Umschlaglasche und holte ein Paar Gummistiefel heraus, welches gleich obenauf lag. Dann tauschte sie die Sneaker gegen das kniehohe, wasserabweisende Schuhwerk und klemmte sich so viele Gefäße unter die Arme wie sie auf einmal tragen konnte. Im Anschluss stieg sie vorsichtig über den Steinrand in das Brunnenbecken hinein und fühlte wie das kalte Nass den Stiefel umschloss. Der Wasserstand des Brunnens war zwar nicht besonders hoch, doch die Höhe erreichte knapp das Schaftende der Stiefel. Daher war sie gezwungen langsam durch das Becken zu waten, damit das Eiswasser nicht ins Innere schwappte. Zielstrebig steuerte Roo die Brunnenmitte an, denn dort befand sich ein imposanter Bronzeguss, der seinem Namen alle Ehre machte. Auf dem aufragenden Mittelrisalit stand die übergroße, gekrönte Statue des römischen Gottes Neptuns. Dieser wurde von zwei Meeresreiter auf geflügelten Pferden mit Schwimmflossen und von zwei Nymphen mit Rudern flankiert. Roja hatte es speziell auf die Pferde abgesehen, oder vielmehr auf das Wasser, welches aus ihnen heraus sprudelte. Die benötigte Flüssigkeit vom Rand des Brunnens abzuschöpfen, wäre bei weitem unkomplizierter gewesen. Doch laut Tagebucheintrag war die Heilwirkung des magischen Nasses kraftvoller, wenn man es direkt frisch aus dem Maul des Wasserspeiers auffing. Das mühsame Abfüllen des Wunderwassers war jede Strapaze wert. Damit heilte sie nicht nur hartnäckige Warzen und Furunkel, sondern auch allerlei anderer Wehwehchen ihrer Patienten. Weshalb dieses Brunnenwasser so gut wirkte, befand sich außerhalb ihrer Kenntnis, doch da es half, stellte sie die heilenden Kräfte der Plörre nicht weiter in Frage.
Während Roja die letzten mitgebrachten Flaschen am Maul des speienden Pferdekopfes auffüllte, ergoss sich das plätschernde Eiswasser unerbittlich über ihre ungeschützten Hände. Aufgrund der Kälte versteiften sich allmählich ihre Finger und verkrampften sich, wodurch ihr beinahe ein Glas aus den starren Fingern glitt. Ihre Hände fühlten sich so an, als ob sie mit tausenden Nadeln traktiert wurden, doch sie hielt tapfer weiter durch, bis auch der letzte mitgebrachte Behälter randvoll mit der kostbaren Flüssigkeit gefüllt war. Nachdem sie alles wieder sicher in ihrem Rucksack verstaut hatte, legte sie eine kurze Pause ein, um ihre blaugefrorenen Hände mit heißem Atem aufzuwärmen. Dessen nicht gewahr, dass sie beobachtet wurde, näherte sich eine Joggerin, die das ganze Spektakel aufmerksam von Anfang bis zum Schluss mit angesehen hatte. Auf ihrer morgendlichen Route durch den Park, war ihr das junge Fräulein im Brunnen gleich aufgefallen. Die besorgte Läuferin war extra mit ihrem Hund stehen geblieben, um das merkwürdige Treiben von Roja genauer unter die Lupe zu nehmen. Bis zuletzt hatte sie auf einen passenden Moment gewartet, um die verrückte Brunnenwasserdiebin zu Stellen.
„Hey, was soll das werden, wenn du damit fertig bist?“, fragte die Joggerin plump. Wie ein Wachmann der seine Runden im Park drehte und einen Dieb auf frischer Tat ertappte, stemmte sie ihre Hände in die Seiten und machte sich so groß wie möglich, um einschüchternd zu wirken. Roja zurrte gerade die Riemen des Rucksacks auf ihrem Rücken fest und lehnte sich leicht nach vorne, um das Gewicht der vollen Behälter besser tragen zu können. Erschrocken blickte sie auf und starrte die Frau für einige Sekunden sprachlos an. Der Tag hatte so vielversprechend begonnen. Im Geiste sah sie sich bereits auf dem Rückweg nach Hause. Ein lautes Magengrollen machte sie darauf aufmerksam wie hungrig sie war und wie sehr sie sich nach warmen Pancakes mit frischen Früchten und Ahornsirup verzehrte. Roja fühlte sich überrumpelt und suchte nach einer passenden Ausrede. Die selbsternannte Hüterin des Gesetztes deutete ihr ungeduldig an, dass sie endlich mit der Sprache herausrücken solle, indem sie ihr Kinn nach vorne schob und gleichzeitig ihren Kopf ein wenig hob. Das Mädchen wollte etwas erwidern, doch ihr Blick blieb an dem tierischen Begleiter der Frau haften und zwar etwa auf Hüfthöhe. Sie hatte einen riesigen Hund bei sich, der sie mit seinen tiefschwarzen Augen eindringlich anstarrte und begann sich neben ihr aufzubauen. Ein leichter Schauder kroch Roja über den Rücken. Eigentlich mochte sie Tiere. Vor allem Hunde waren ihr wohl gesonnen, obwohl sie eher einen Draht zu Katzen hatte.
„Gu… Guten Morgen“, stammelte sie zum Gruß und versuchte mit einem übertrieben fröhlichen Grinsen, die Situation zu entspannen. Dann erinnerte sie sich an ihren Notfallplan und griff in die Jackentasche. Gefasst zog sie den eigens für solche Momente angedachten gefälschten Ausweis hervor und schluckte nervös.
„Ich bin im offiziellen Auftrag der Stadt hier und habe die letzten Wasserproben vor der bevorstehenden Winterpause entnommen, um es auf mögliche bakteriellen Verunreinigungen zu untersuchen“, erwiderte sie glaubhaft und hielt den Ausweis hoch. Die Joggerin wollte sich von der Echtheit des Dokuments selbst überzeugen. Mit großen Schritten verringerte sie den Abstand bis auf wenige Zentimeter, um den Ausweis besser in Augenschein nehmen zu können. Ihrem tierischen Bodyguard befahl sie mit einer strengen Handbewegung, sich nicht von der Stelle zu rühren. Roja war froh, dass sie das Ungetüm auf Abstand hielt.
„Frau Wicka Bruksmor - Umweltbeauftragte im Einsatz zum Erhalt des grünen Stadtbildes und allen dazugehörigen Aufgaben“, las sie laut vor und kräuselte dabei die Stirn unterhalb ihres Schweißbandes. Das Stadtwappen zusammen mit einem Stempel und der Unterschrift des >> Ersten Stadtrats <<, verliehen dem Dokument einen hochoffiziellen Eindruck. Für Leihen war die Fälschung nicht zu erkennen. Eine ihrer zwielichtigen Bekanntschaften hatte ihr das Dokument besorgt. Würde sich jedoch tatsächlich einmal jemand die Mühe machen und Nachforschungen anstellen, würde man dem Schwindel auf die Schliche kommen und ganz schnell herausfinden, dass eine solche Position gar nicht existierte. Zumindest konnte man sie anhand des eigentümlichen Namens, im Nachhinein nicht ausfindig machen und zur Rechenschaft ziehen. Da es nur eine kleine Notlüge war und sie niemanden damit verletzte, fühlte sie sich auch nicht schlecht, sobald sie den gefälschten Ausweis zückte.
„Was für ein ungewöhnlicher Name“, stellte sie fest. Roja nickte und lächelte schief.
„Meine Familie stammt aus dem Norden“, erklärte sie. Die Joggerin rümpfte die Nase und gab sich damit schon mal zufrieden, denn sie rückte ihr von der Pelle ab und machte nicht mehr einen gar so misstrauischen Eindruck wie zuvor. Dennoch war sie nicht völlig davon überzeugt.
„Sie sehen ganz schön jung aus für solch eine Tätigkeit“, stellte sie fest und zog verwundert eine Augenbraue hoch.
„Ich… Bin noch in der Ausbildung“, reagierte Roja schnell. Die Frau sah sie für einen Augenblick forschend an. Roja hielt ihrem Blick stand und biss angespannt die Zähne zusammen. Wenige Sekunden später konnte sie wieder aufatmen, denn offenbar überzeugte sie die Dame endgültig mit dieser kleinen Flunkerei. Die Joggerin nickte einsichtig und hatte dem Ganzen nichts mehr beizufügen. Was kümmerte es sie auch, ob irgendjemand Wasser aus einem Brunnen abschöpfte. Seit wann war das ein Verbrechen?
„Wenn das so ist, dann wünsche ich dir viel Erfolg, Wicka. Wir brauchen mehr junge Leute wie dich, die sich für die Umwelt engagieren.“ Anschließend verabschiedeten sie sich voneinander und die sportliche Passantin nahm ihren morgendlichen Lauf umgehend wieder auf. Mit einer schwungvollen Drehung kehrte sie auf ihre Route zurück und signalisierte ihrem Hund anhand eines scharfen Pfiffs ihr zu folgen. Roja sah dem hypnotisch schwingenden Haaren der Frau nach, die sie in einen Pferdeschwanz gebunden hatte und der nun rhythmisch auf und ab wippte. Als sie ihren Blick nach einigen Sekunden davon löste, bemerkte sie, dass der Hund nicht auf das Kommando seines Frauchens gehorchte, da dieser keine Anstalten machte, sich in Bewegung zu setzen. Außerdem hatte sich der Abstand zwischen ihr und dem Vierbeiner auffällig reduziert. Roja runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen skeptisch zusammen. Das Tier hatte sich doch tatsächlich an sie herangepirscht! Irgendetwas war im Busch, das konnte Roja deutlich spüren. Der Vierbeiner fixierte sie und ließ sie nicht mehr aus den Augen. Normal war das nicht. Sein untypisches Verhalten war ein klares Anzeichen dafür, dass ihr das Tier gefährlich werden konnte.
Die Hundebesitzerin hatte bereits mehrere Meter zurückgelegt, ehe ihr auffiel, dass ihr Begleiter noch nicht in ihrem Sichtbereich auftaucht war. Da sie nicht einmal das vertraute Wetzen seiner Krallen auf dem Asphalt vernahm, suchte sie vorsorglich erst die rechte, dann die linke Seite nach dem Hund ab. Zuletzt warf sie einen prüfenden Blick über ihre Schulter und glaubte sie sah nicht recht, denn das Tier befand sich noch immer bei dem Mädchen. Als wäre sein Ungehorsam nicht genug gewesen, schien es ganz so, als ob er sie bedrängte. Die entgeisterte Hundebesitzerin blieb augenblicklich stehen und starrte ihren Hund fassungslos an, der ihr bis dato aufs Wort gefolgt hatte. Die Hundeschule schloss der Vierbeiner mit Bestnoten ab, deswegen war sein atypisches Verhalten höchstalarmierend.
„Bei Fuß!“, gellte es aus der Richtung der Joggerin. Entgegen ihrer Erwartung ignorierte der Vierbeiner erneut ihren Befehl. Intuitiv bewegte sich Roja rückwärts gehend vom Hund weg.
„Brav, mein großer. Brav. Alles ist gut“, redete sie mit sanfter Stimme auf das Tier ein. Roja ahnte, dass hier gerade etwas völlig aus dem Ruder lief und erfasste den Ernst der Lage binnen zweier Herzschlägen. Sein Benehmen glich eher dem eines wilden Wolfes auf der Jagd, als dem eines domestizierten Haustiers. Plötzlich kam Bewegung ins Spiel. Der Hund verlagerte sein Körpergewicht nach vorne und machte einen Schritt auf das Mädchen zu. Dabei ging er in eine leicht geduckte Haltung und winkelte seine Hinterläufe an. Vorerst verharrte er in dieser bedrohlichen Position, doch dem jungen Mädchen und auch der Hundebesitzerin wurde schlagartig bewusst, dass die Situation eine gefährliche Nuance angenommen hatte. Erneut versuchte die Joggerin ihren Hund zurückzurufen.
„Hier her!“, befahl sie laut. Dennoch konnte man hören wie jede Selbstsicherheit aus ihrer Stimme gewichen war. Es klang mehr nach einer Bitte, als nach einer Aufforderung. Der Vierbeiner lehnte sein Frauchen in der Rolle des Alphas offenkundig ab, denn es kümmerte ihn nicht, welche Anweisungen sie in seine Richtung bellte. Empört über diesen Zustand, verdrängte die Frau den kurzen Anflug von Panik und löste sich aus ihrer Angststarre. Mit geballten Fäusten stampfte sie dann auf ihren Hund zu. Sie war wütend. Zurecht.
„Ich habe die Faxen endgültig dick. Ich bin deine Herrin und du Köter folgst mir gefälligst!!“, schnaubte sie aufgebracht.
„Stopp, nicht. Keine Schritt weiter!“, forderte Roja sie harsch auf ohne dabei ihren Blick von dem Tier abzuwenden. Die Joggerin blieb abrupt stehen und sah das Mädchen verdutzt an. Dann japste sie empört nach Luft und wollte dem jungen Fräulein die Leviten lesen. Schließlich hatte ihr ein Teenager in der Ausbildung nicht zu sagen, was sie als erwachsene Frau zu tun hatte. Doch der sorgenvolle Unterton, der in der Stimme des Mädchens mitschwang bremste sie in ihrer Aufregung und veranlasste sie genauer hinzusehen. Konzentriert richtete sie ihre Aufmerksamkeit erneut auf den Hund. Als sie unmittelbar erkannte was sich direkt vor dem Mädchen ereignete, riss sie voller Entsetzten die Augen auf und hielt den Atem an. Der Hund übertrat eine Grenze, indem er seine Lefzen zurückzog und seine wahre Natur offenbarte. Unter dem schwarzen, zottigen Fell blitzen schneeweiße Reißzähne hervor. Das Tier fletschte die Zähne und knurrte bedrohlich. Das Grollen kam tief aus seiner Kehle. Leise, aber beständig.
Roo konnte das Gesicht der Frau zwar nicht richtig erkennen, doch sie ahnte, dass ihr Schweigen von Angst und Hilflosigkeit gezeichnet war. Etwas Fürchterliches stand ihr bevor. Es war nur noch eine Frage von Sekunden. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Die Anspannung jagte ihre Körpertemperatur unkontrolliert in die Höhe. Unter der dicken Winterjacke wurde es unerträglich heiß und das Atmen fiel ihr schwer. Gerne hätte sie sich alles vom Leib gerissen, doch jede unüberlegte Bewegung würde das Vieh zum Angriff verleiten. Die Chancen gegen solch eine Bestie anzukommen waren gering. Fieberhaft suchte Roja nach einer Lösung, doch sie konnte sich vor Aufregung kaum konzentrieren.
„Diese Hitze…“, murmelte sie erschöpft und reckte ihren Hals wie eine Schildkröte in Höhe, in der Hoffnung einen abkühlenden Luftzug zu erhaschen. Dummerweise vergaß sie die Last auf ihrem Rücken und entspannte ihre Schultern. Just in diesem Moment drohte sie nach hinten zu kippen, da das Gewicht des Rucksacks sie herunter zog. Augenblicklich geriet sie ins Taumeln und stieß mit den Waden gegen den Beckenrand des Neptunbrunnen. Das lärmende Geräusch der aneinander klirrenden Glasbehälter, zusammen mit den ruckartigen Bewegungen, besiegelten ihr Ende und scheuchten das Tier unvermittelt auf. Ein kleiner Moment der Unachtsamkeit genügte der Bestie, um in die Offensive zu gehen. Der Hund setzte mit seinen kräftigen Hinterläufen zum Sprung an, und preschte los. Rojas Puls beschleunigte sich und das Blut rauschte in ihren Ohren. Alles um sie herum verlangsamte sich und geschah wie in Zeitlupe.
„Brutus, nicht!“, brüllte seine Besitzerin hysterisch. Ihre Stimme klang seltsam verzerrt. Welch passender Name für solch eine illoyale Seele dachte sich Roja, während sie sich fragte wie es zu dieser Situation überhaupt hatte kommen können. Alles nur, weil man vermeintlich magisches Brunnenwasser nirgendwo kaufen konnte. Hätte sie Weihwasser benötigt, welches vom Papst Franziskus persönlich gesegnet wurde, wäre die Ware problemlos an sie ausgeliefert worden. Das auch noch per Express, innerhalb von 24 Stunden.
Plötzlich wurde alles ruhig um das Mädchen herum. Weder vernahm sie das säuselnde Plätschern des Brunnenwassers, noch den Wind der durch die kahlen Äste der Bäume brauste. Im nächsten Moment überkam Roja eine seltsame Ruhe. Ihr Herzschlag pendelte sich allmählich in einen stetigen und kräftigen Rhythmus ein. Ein Gefühl von Gelassenheit durchflutete ihren Körper und vermittelt ihr eine gewisse Ruhe. Auf einmal fühlte sie sich nicht mehr ohnmächtig vor Angst, sondern war erfüllt von Zuversicht. Mit festem Blick trat sie der Attacke des Hundes entgegen. Reflexartig hob sie die Arme, um das angreifende Tier abzuwehren. Doch dann geschah etwas merkwürdiges. Kurz bevor die mordlüsterne Bestie seine scharfen Beißer in dem weichen Fleisch ihrer Kehle vergraben konnte, begannen ihre Handinnenseiten wie verrückt zu kribbeln. Ihr war als ob eine Armee aus Ameisen herbeigeeilt kam, die aus ihrer Körpermitte strömten und nun aus ihren Händen heraus bersten wollten wie brodelnde Lava aus einem Vulkan. Ohne zu überlegen, richtete sie ihre glühenden Handflächen auf Brutus. Dann geschah das völlig Unmögliche. Der Vierbeiner verlor den Boden unter seinen Pfoten und erhob sich in die Lüfte. Roja führte den stämmigen Körper des Hundes über ihren Kopf hinweg und beförderte Brutus geradeswegs in den Brunnen. Mit einem lauten Platscher landete das Tier unversehrt im Eiswasser und begann panisch zu paddeln, um seine Schnauze über Wasser zu halten. Besonders helle war dieses Hundeexemplar nicht. Brutus benötigte mehrere Sekunden, um zu realisieren, dass er groß genug war, um im Becken mühelos stehen zu können.
Roja betrachtete entgeistert ihre Hände und sackte erschöpft in sich zusammen. Überwältigt von dem Rausch, der sie Augenblicke zuvor noch zu ekstatischen Höhenflüge emporhob, haderte sie nun mit den extremen Folgeerscheinungen, nachdem das Hochgefühl ein jähes Ende nahm. Es war ein abrupter Abfall von der zuckersüßen Euphorie zur bitteren Nüchternheit, die trostlos und farblos war. Das Mädchen kauerte auf den Knien und rang nach Fassung. Ihr Kopf fühlte sich wie ein schwerer Zementblock an und alles drehte sich. In unmittelbarer Nähe vernahm sie die stampfenden Schritte der Hundebesitzerin, die angerannt kam. Doch nicht um dem Mädchen zur Hilfe herbeizueilen, sondern um ihre missratene Töle zu retten. Die Joggerin kletterte ungeschickt über den steinernen Beckenrand und landete mit einem dumpfen Bauchplatscher im Brunnen.
„Brutus, halte durch!“, jaulte sie theatralisch und verschmierte ihre Mascara, die nicht wasserfest war und ihre Augen reizte.
„Dein Frauchen ist gleich bei dir“, beschwichtigte sie den verstört dreinblickenden Vierbeiner, während sie hektisch durch das eisige Nass watete. Roja nutzte den Überraschungsmoment und verlor keine Zeit. Obwohl sie vollkommen entkräftet war, zwang sie sich mit eisernem Willen auf die Füße hoch und unterdrückte das Verlangen, sich an Ort und Stelle zu einem Häufchen Elend zusammenzukauern und hemmungslos zu weinen. Der Schock saß ihr noch tief in den Knochen. Die Knie waren weich und sie zitterte am ganzen Körper, doch das Adrenalin in ihrer Blutbahn hielt sie aufrecht.
„Hey, Mädchen. Was hast du meinem geliebten Brutus angetan? Das arme Tier ist völlig außer sich!“, beschwerte sich die Joggerin und umklammerte bibbernd ihren Hund. Roja reagierte nicht.
„Ich rede mit dir, du rote Zora! Was bist du?“, zischte sie verärgert und machte Anstalten, gemeinsam mit dem Vierbeiner zu ihr herüber zu waten. Für eine Auseinandersetzung mit einer erzürnten Frau mittleren Alters fehlte Roja jedoch die Energie. Dieser unerklärliche Zwischenfall hatte sie völlig ausgelaugt. Roja ballte die Fäuste und bebte. Nicht einmal sie selbst verstand was geschehen war. Wie sollte sie dann der aufgebrachten Hundebesitzerin eine plausible Erklärung abgeben, ohne wie eine Verrückte zu klingen? Davon abgesehen war sie das Opfer und nicht der dumme Kläffer, der sie grundlos attackierte. Sie hatte ihr eigenes Leben verteidigt und dabei dem Tier nicht mal ein Haar gekrümmt. Der Flohteppich war nur ein Bisschen nass geworden. Das war kein Grund dermaßen auszuflippen. Genau genommen sollte Roja der Frau eine Standpauke halten. Doch da in ihrem Kopf das absolute Chaos herrschte und sie keinen klaren Gedanken fassen konnte, beschloss sie zu fliehen. Ohne Vorwarnung rannte sie los. Sie rannte so schnell es der vollgepackte Rucksack und ihre Beine zuließen. Die Frau bedachte das verwirrte Mädchen mit einem Donnerwetter an Beschimpfungen, ohne auch nur einmal dazwischen Luft zu holen. Doch das war Roja egal, denn sie war noch einmal mit dem Schrecken davon gekommen. Erst als
sie die schützende Innenstadt erreichte und den Park weit hinter sich gelassen hatte, blieb sie stehen und fühlte wie heiße Tränen ihre erröteten Wangen benetzten.
Der Schrecken über das, was am Neptunbrunnen vorgefallen war, war allgegenwärtig und rumorte in ihrem Inneren wie ein nimmersatter Bandwurm. Wie eine Gejagte, die befürchtete man würde ihr Versteck ausfindig machen, verbarrikadierte sich Roja in ihrem Zuhause und schottete sich tagelang von der Außenwelt ab. In dem Tagebuch von Wicka Bruksmor hatte sie gelesen, dass man negative Energien mit Räucherwerk vertreiben konnte. Also zündete sie büschelweise getrockneten weißen Salbei und allerlei anderer Kräuter an und hoffte die würzig duftenden Rauschwaden würden alles Schlechte ausräuchern.
Dem Mädchen war elend zumute. Zerknirscht nahm sie auf ihrem alten Lieblingssessel platz und kauerte sich mit angewinkelten Beinen zu einer kleinen Kugel zusammen. Flauschige Decken und Überwürfe sorgten für den extra Wohlfühlfaktor, den sie dringend nötig hatte. Sobald man auf dem bequemen Stoffhaufen Platz nahm, versank man regelrecht darin. Ein perfekter Zufluchtsort, nach dem katastrophalen Zusammentreffen mit Brutus der zotteligen Bestie. Roo presste ihren Körper in die Kuhle der Sessellehne und hüllte sich in Lagen von Decken ein. Das Gewicht und die Wärme vermittelten ihr ein Gefühl von Schutz, während sie sich verkrampft an einer dampfenden Tasse Kräutertee festhielt und darauf wartete, dass das Heißgetränk abkühlte. Es handelte sich um eine spezielle Mischung aus Bachblüten, Baldrianwurzel, Johanniskraut und Lavendel, die eine beruhigende und entspannende Wirkung hatten. Denn seit Tagen überschlugen sich ihre Emotionen und brachen wie tosende Wellen auf sie ein. Obwohl sie nicht fror, zitterte sie wie Espenlaub. Seit Tagen versuchte sich Roja einen Reim darauf zu machen was passiert war, doch sie tappte im Dunkeln. Geistesabwesend starrte sie die gegenüberliegende Wand an und versuchte eine Erklärung in dem abstrakten Muster des Wandteppichs zu finden. In Gedanken ließ sie die Geschehnisse Revue passieren und ging minuziös den Ablauf durch. Doch keines der Bilder in ihrem Kopf lieferte eine aufschlussreiche Erkenntnis.
Plötzlich klingelte es an der Haustür. Ein glockenhelles Ding-Dong riss das aufgewühlte Mädchen unvermittelt aus ihren Überlegungen heraus. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken, während sich das Gefühl von Beklommenheit in ihr ausbreitete und sie für einen kurzen Augenblick lähmte. Völlig reglos und starr vor Angst stierte sie in den dunklen Hausflur und rätselte, wer sich wohl auf der anderen Seite der Wohnungstür befand. Es läutete abermals. Dieses Mal klang es energisch, da der Knopf für mehrere Sekunden gedrückt wurde. Die länge indizierte, dass sich das nicht aussitzen ließ. Nach einer kurzen Pause läutete es wieder. Dieses Mal schellte es ohne Unterlass. Es war nervtötend. Wer auch immer sich auf der anderen Seite befand, war entschlossen genug die Bewohnerin dieses Domizils herauszulocken. Roja sah sich gezwungen der lärmenden Aufforderung Folge zu leisten, um den Ganzen ein Ende zu setzen. Notgedrungen überwand sie ihre Angststarre und schälte sich widerwillig aus dem schützenden Kokon aus Decken heraus. Dann schlich sie leise zur Tür und stellte sich auf die Zehenspitzen, um durch den Spion zu spitzeln. Doch das Guckloch war zappenduster, da es von außen scheinbar abgedeckt wurde.
„Mach schon die Tür auf, Roo, wir wissen, dass du Zuhause bist!“
„Wo soll sie auch sonst sein“, trällerte eine weitere Stimme. Roja fiel umgehend ein Stein vom Herzen, als sie die weiblichen Stimmen erkannte. Augenblicklich öffnete sie ihren besten Freundinnen die Tür und ließ sie eintreten. Erleichtert fiel sie Miri und Valerie um den Hals und drückte sie fest an sich. Die Mädels taten es ihr gleich und erwiderten die stürmische Umarmung ebenso herzlich, dennoch waren sie von Rojas überschwänglicher Begrüßung überrascht. Ihr Lieblingsrotschopf hatte zwar ein großes Herz, doch für gewöhnlich hielt sie sich mit körperlicher Zuneigung zurück.
„Was ist denn mit dir los? Wie komme ich zu dieser seltenen Ehre?“, fragte das Mädchen mit den Baggy-Jeans und der umgedrehten Snapback-Cap. Valerie war eine von Rojas langjährigen Freundinnen und war in der Öffentlichkeit so gut wie nie ohne ihr Markenzeichen anzutreffen. Snapbacks waren ihre Sammelleidenschaft und gehörten Winter wie Sommer auf ihren Kopf. Egal für welchen Anlass, sie hatte eine Cap für jede Gelegenheit. Manch einer munkelte hinter vorgehaltener Hand, dass ihre Haare mit der Kopfbedeckung verwachsen seien. Doch das waren haltlose Gerüchte von Neidern, die eifersüchtig waren, da ihnen selbst diese Schirmkappen nicht standen. Zudem hatte sie schon unzählige Male einen Blick auf Valeries wunderschönen Wuschelkopf werfen dürfen und konnte diese lächerlichen Gerüchte daher dementieren. Nur falls es jemanden interessierte.
„Huch, was ist denn mit dir los? Ist jemand gestorben?“, fragte Miri und verzog ihr Gesicht zu einer ulkigen Grimasse. Sie war die ungekrönte Meisterin darin die absurdesten Fratzen zu ziehen. Ihr Gesichtsyoga brachte so manch einen aus der Fassung, denn niemand erwartete, dass so ein hübsches Mädchen wie Miriam, Mut zur Hässlichkeit besaß. Ohne zu zögern verwandelte sich ihr Gesicht, innerhalb eines Atemzugs, von der Schönen zum Clown. Die Menschen, die den Spaßvogel in ihr Herz geschlossen hatten, kamen regelmäßig in den Genuss ihres erstaunlichen Talents.
„Haben wir Weihnachten, Ostern und meinen Geburtstag zusammen?“, spaßte Valerie und trug den rothaarigen Klammeraffe in die Wohnung rein.
„Schön, dass ihr hier seid“, nuschelte sie an Valeries Hals und löste die Umarmung.
„Klar sind wir hier. Du hast im Gruppenchat geschrieben, dass es ein Notfall ist“, erinnerte Miri sie an den Grund ihres Kommens und musterte sie besorgt. Valerie neigte ihren Kopf ein wenig zur Seite und zog eine Augenbraue skeptisch hoch.
„Alles in Ordnung mit dir, oder hast du schon wieder zu viel von deinen Kräutern inhaliert?“, hakte sie nach. Ihre Hände hatte sie mittlerweile wieder in den Hosentaschen vergraben. Auch so ein typisches Markenzeichen von dem sportlichen Mädchen.
„Ja doch, alles bestens“ gab Roja ihnen zu verstehen und streckte zum Spaß ihre Zunge heraus. Dann schob sie die beiden in Richtung Wohnzimmer und deutete ihnen an es sich bequem zu machen. Endlich waren Miriam, Valerie und Roja wieder vereint. Es war ein raren und kostbarer Momente, denn der Alltag vereinnahmte sie alle drei. Die Ausbildung von Valle und Miriams Studium, ließen immer weniger Platz für spontane Mädchenabende. Ganz davon abgesehen befand sich Roja in der Abschlussklasse des Gymnasiums und mit ihrem Job als Heilkundige, war sie von morgens bis abends schwer beschäftigt. Der Rotschopf spürte wie die Anwesenheit ihrer Freundinnen sie allmählich zu ihrer gewohnten Gelassenheit zurückkehren und sie entspannen ließ. Zufrieden blickte sie von ihrem Sessel in die Runde und spürte wie ihr Herz aus Freude einen Hüpfer machte.
Valerie war mit ihren kurzgelockten, kakaobraunen Haaren beschäftigt und kämmte sie mit der Hand nach hinten, um dann möglichst schnell die Schirmmütze drauf zusetzen, ehe sich die sturen Locken wieder aufstellten. Sie war der herzliche Kumpeltyp, die sich härter gab, als sie in Wirklichkeit war. Auf Valle war immer Verlass und sie besaß stets ein offenes Ohr, wenn man mal eine Schulter zum Ausheulen brauchte. Das einfühlsame Mädchen wusste wie man jemanden gut zuredete und wieder Mut machte. Ihr vertraute man gerne Geheimnisse an, denn man wusste, dass sie sich eher die Zunge abbeißen würde, als etwas zu verraten.
Miriam war die vernünftigste unter ihnen, denn sie studierte BWL im ersten Semester. Sie nahm das Studium sehr ernst, doch weder war sie eine Langweilerin noch eine Spießerin, denn sie liebte es die Nächte zum Tag zu machen und zog regelmäßig durch die Clubs der Stadt. Auf den Mund war sie auch nicht gefallen. Mit einem flotten Spruch auf der Zunge, behauptete sie sich gegen jeden, der ihr irgendwie blöd kam. Wenn man sie mit einem Tier vergleichen würde, dann wäre sie eine Mischung aus einem willensstarken Panther und einer gerissenen Katze. Ihr konnte man nichts so schnell vormachen. Mit den langen, seidig-glänzenden, schwarzen Haaren und den aufgeweckten, grau-blauen Augen, wickelte sie fast jeden um den kleinen Finger. Ein nein bekam sie daher fast nie zu hören. VIP-Karten für eine Veranstaltung, die schon als längst ausverkauft galt? Kein Problem, so etwas war ein Kinderspiel für sie. Da sie ein überaus kommunikativer Mensch war, kannte sie jeden Hinz und Kunz der irgendwie wichtig und von Nutzen war. Ein absolutes Networking-Talent. Roja schätzte sich überaus glücklich solche Freundinnen in ihrem Leben zu wissen. An sich waren die drei grundverschieden, doch sie teilten dieselben Werte wie Ehrlichkeit, Loyalität und Vertrauen. Das Schicksal hatte die Mädchen zusammengeführt. Nachdem Roja schon im Kleinkindalter ihre Mutter verlor, waren diese zwei besonderen Menschen zu ihrer Familie geworden.
„Nun spann uns nicht länger auf die Folter!“, platze es ungeduldig aus Miri heraus.
„Was kann so wichtig sein, dass wir umgehend herkommen mussten? Ich habe meine Vorlesung extra wegen dir sausen lassen.“ Im Unterton war deutlich die betonte Selbstlosigkeit herauszuhören. Valle stieß ihr umgehend den Ellenbogen in die Seite. Nicht fest, doch kräftig genug, um ihr klar zu machen, dass ihr niemand diese gespielte Opferbereitschaft abkaufte.
„Na gut! Ich hatte eh keinen Bock auf den Prof. Dieser Mann ist eine richtige Schlaftablette. Bei seinen Vorlesungen knacke ich immer weg. Sein monotones Blabla ist besser, als jeder marktübliche Tranquilizer. Ich schwöre es euch. Außerdem kann ich im Skript auch selbst nachlesen, was er erzählt“, gestand sie und rollte mit den Augen. Ertappt. Ihren Freundinnen konnte sie nichts vormachen. Auch wenn sie ab und zu eine Vorlesungen schwänzte, so schadete es nicht ihren Zensuren, denn bisher hatte sie den besten Schnitt unter ihren Kommilitonen.
„Wenn du uns noch länger warten lässt, dann prügle ich es aus dir heraus“, warf Valerie ein und hob drohend die Faust. Ihr schiefes Schmunzeln verriet, dass sie das selbstverständlich nicht ernst meinte.
„Schon gut“, kapitulierte Roja und hob beschwichtigend die Hände. Dann rieb sie sich nervös die Oberschenkel und presste lautstark die Luft aus ihren aufgeplusterten Backen heraus.
„Heute ist mir etwas sehr seltsames passiert“, fing sie an mit belegter Stimme zu erzählen. Als Miri Rojas ernsten Gesichtsausdruck sah, konnte sie nicht anders und fiel ihr ins Wort.
„Sag bloß du hattest wieder einen deiner verhexten Harry-Potter-Momente?“, prustete sie los und hielt sich den Bauch vor lachen.
„Ja, ja, wir wissen schon, irgendwo muss deine persönliche Einladung nach Hogwarts verloren gegangen sein. Vermutlich hat der, dessen Namen man nicht nennen darf, sie gefressen“, gab Valle ihren Senf dazu und konnte ihre Lachtränen kaum zurückhalten. Da Valerie unaufgefordert mit auf den Hogwarts Verspottungsexpress aufgesprungen war, klatschte Miriam Beifall johlend mit ihr ab. Dann besaßen sie die Mädels noch die Frechheit, sich gegenseitig auf die Schulter zu klopfen und sich für ihre Schlagfertigkeit zu gratulieren.
„Schön, dass ihr euren Spaß habt“, meinte Roja und stülpte schmollend ihre Unterlippe vor, während sich die beiden Spaßvögel köstlich über ihren Wortwitz amüsierten. Roo verschränkte die Arme vor ihrer Brust und wartete geduldig ab, dass sich ihre Freundinnen wieder beruhigten. Übel nahm sie ihnen das Triezen und Sprüche klopfen jedoch nicht, denn Neckereien gehörten zu einer guten Freundschaft einfach dazu. Außerdem war sie es von den Mädels gewöhnt, regelmäßig durch den Kakao gezogen zu werden, denn die mysteriösen und unerklärlichen Vorfälle, schienen nur dem Rotschopf zu widerfahren. Manchmal konnte sie selbst ihren eigenen Geschichten kaum glauben schenken, wenn sie diese nicht persönlich erlebt hätte. Ihr war bewusst, dass sie wie eine Verrückte klingen musste, doch Miriam und Valerie waren die einzigen Seelen, denen sie diese Geschehnisse anvertrauen konnte, ohne von ihnen verurteilt zu werden. Selbstverständlich ließen sie es sich trotzdem nicht nehmen, sich einen Spaß daraus zu machen. Doch letztendlich schenkten sie ihr jedes Mal Gehör, um ihren Erzählungen unvoreingenommen zu lauschen.
Valle war die erste, die sich von ihrem Lachanfall erholt hatte. Sie lehnte sich nach vorn und stützte sich mit den Ellenbogen auf ihren Oberschenkeln ab. Roja runzelte skeptisch die Stirn.
„Komm schon, Valle, jetzt ist der beste Moment noch eine blöden Spruch abzulassen“, forderte sie ihre Freundin heraus. In ihrem Tonfall knisterte eine provozierende Angriffslust, die offenkundig einen Konter mit sich zog, der bloß darauf wartete, sich über ihre gespannten Stimmbänder auf das Verspottungsschlachtfeld zu katapultieren. Wider Erwarten blickte Valerie mit ihren haselnussbraunen Augen auf und sah den Rotschopf um Verzeihung bittend an. Ihr rehäugiger Augenaufschlag war entwaffnend, sodass Roos Angriffslust umgehend abebbte. Dadurch wurde dem geplante Gegenangriff umgehend die Schlagkraft genommen und verpuffte in ihrer Kehle zu einem staubtrockenen Räuspern.
„Nein, für heute ist es genug. Du, als unsere kleine Kräuterhexe, wirst uns sonst noch eines schönen Tages irgendetwas in den Tee oder ins Essen mischen, um uns einen Denkzettel zu verpassen. Das möchte ich daher lieber nicht riskieren“, scherzte sie und nahm einen kräftigen Schluck von Rojas kaltgewordenem Tee. Umgehend bereute sie diese Entscheidung und verzog ihr Gesicht, denn das Gebräu schmeckte überaus bitter. Auch Miriam sah ein, dass es genug des Guten war und stimmte zu.
„Spaß beiseite. Was wolltest du uns denn nun sagen?“, wollte sie wissen. Roja vergaß beinahe schon wieder, weshalb sie ihre Freundinnen ursprünglich herzitiert hatte. Dafür liebte sie die beiden Charakterköpfe. Es bedurfte nur einer kleinen wortwitzigen Kabbelei untereinander, um sie alles vergessen zu lassen, was ihr sonst so sonniges Gemüt mit schweren Schatten trübte. Sie besann sich und sammelte ihre Gedanken.
„Ich fasse mich kurz.“ Die anfängliche Ausgelassenheit war wie weggeblasen. Die verdrängten Erinnerungen von Brutus, der zähnefletschenden Bestie, krochen wieder in den Vordergrund. Es war noch zu frisch, um sich die lebhaften Bilder des Angriffs ohne jegliche Gefühlsregung, zurück ins Gedächtnis zu rufen. Erneut erfüllte Furcht ihr Herz, die versuchte mit aufblitzenden Schreckensbildern ihren Geist zu vernebeln und sie zu einem verängstigtem Häufchen Elend werden zu lassen.
„Das will ich aber mal hoffen.“ Noch immer aufgeheizt von dem vorangegangen Schlagabtausch, purzelten Miriam die Worte unüberlegt über die Lippen. Als die Studentin jedoch Rojas bekümmerten Gesichtsausdruck sah, tat es ihr augenblicklich leid. Sie erkannte, dass ihr Kommentar unangebracht war und gestand sich umgehend ihren Fauxpas ein.
„Entschuldige bitte“, murmelte Miri verlegen. Roja nickte.
„Schon gut“, erwiderte sie nachsichtig und gab ihr zu verstehen, dass sie deswegen keinen Groll hegte. Ihre Freundschaft war dazu da, um einander aufzubauen und wenn es notwendig war einander höflich darauf hinzuweisen, wenn sich jemand von ihnen daneben benahm. Nicht, um sich gegenseitig Vorwürfe wegen Nichtigkeiten zu machen. Schließlich machte jeder im Leben Fehler, denn nur auf diese Weise konnte man lernen und sich weiterentwickeln. In jeder Art von Beziehung kam es letztendlich darauf an, dem anderen Raum zur Entfaltung zu lassen. Die Heilkundige fuhr unbeirrt fort.
„Ich war heute im Park, beim Neptunbrunnen. Es war noch ziemlich früh am Morgen“, begann Roja mit brüchiger Stimme zu erzählen, während ihre Freundinnen aufmerksam zuhörten.
„Ich war im Begriff zu gehen, als mich eine Joggerin mit ihrem Hund aufhielt. Ich weiß nicht ob oder was ich falsch gemacht habe, aber dieser Hund - wir sprechen hier jetzt nicht von dem süßen, kleinen, Fellknäuel aus der Cesar-Werbung, sondern von einem Ungetüm aller „Game of Thrones“ - dieser Hund hat mich angegriffen.“ Keines der Mädchen hatte mit solch einer erschreckenden Information gerechnete. Es herrschte absolute Stille. Sie sah sichtlich bestürzt aus. Miriam war die erste, die das Schweigen brach.
„Geht es dir gut? Hat…? Hat er dich…? Gebissen?“ Man merkte deutlich, dass ihr diese Frage Unbehagen bereitete. Alleine der Gedanke daran, dass es Menschen die sie liebte nicht gut ging, oder gar verletzt waren, war ihr zuwider. Valerie räusperte sich und kreuzte die Arme vor der Brust. Ihr Blick verdüsterte sich und wurde ungewohnt ernst.
„Hat dir das Mistvieh weh getan?“, hakte sie nach und ballte wütend ihre Fäuste. Sie presste ihre Lippen fest aufeinander, sodass das Blut aus ihnen wich und nur noch zwei schmale, helle Linien zu erkennen waren. Roja wusste, dass sie es jederzeit mit sämtlichen Bestien dieser Welt aufnehmen würde, um sie zu beschützen und das auch noch mit bloßen Händen. Sie beantwortete die Frage schleunigst mit heftigem Kopfschütteln, um die anderen zu beruhigen. Miriam kaute indessen auf der Spitze ihres kleinen Fingers herum und starrte besorgt auf den Fußboden. Obwohl sie sich manchmal am kindischsten von den dreien verhielt, benahm sie sich oftmals wie eine Löwenmama die keinen Kampf scheute, um ihre Jungen in Sicherheit zu wissen.
„Es ist wirklich nichts. Ich habe nicht einmal eine kleine Schramme davon getragen“, versicherte sie den anderen und schob zum Beweis ihre Ärmel hoch, um ihre unversehrten Arme vorzuzeigen.
„Du willst uns also weismachen, dass du von diesem Untier angefallen wurdest, aber dennoch keinen Schaden davon getragen hast? Wie soll das denn möglich sein?“, hakte Valerie nach und sprach aus, was auch Miriam auf der Zunge lag. Roo erwiderte ein Schulterzucken und seufzte schwermütig.
„Das ist es ja, ich kann es selbst nicht genau erklären“, entgegnete sie und klang verzweifelt.
„Wie gesagt, der Hund griff mich an. Er preschte auf mich zu. Das volle Programm. Knurren… Fletschende Zähne… Er setzte zum Sprung an und war bereits in der Luft. In diesem Moment hob ich instinktiv meine Arme hoch, um seinen Angriff abzuwehren. Ab da wird alles irgendwie seltsam.“ Rojas Augen wurden glasig, als sie sich die letzten Augenblicke mit Brutus in Erinnerung rief.
„Erst war er noch vor mir, doch schon im nächsten Moment flog er urplötzlich im hohen Bogen über mich hinweg, als ob er von einer unsichtbaren Kraft weggeschleudert wurde. Seine Landung bremste ihn zum Glück aus, da er direkt hinter mir in den Brunnen stürzte“, schilderte sie wahrheitsgemäß den Vorfall.
„Bevor mir richtig klar wurde, was überhaupt geschehen war, machte ich mich aus dem Staub und rannte so schnell ich nur konnte. Ich blieb erst wieder stehen, als ich Zuhause angekommen war.“ Mit diesen Worten endete ihre Ausführung. Betretenes schweigen und rätselnde Gesichter erfüllten die Stille. Den Teil, in dem eigentlich sie es war, die den Hund ohne physischen Kontakt in das eisige Nass pfefferte, ließ sie wissentlich aus. Ihr war nicht danach zumute, erneuten Spott über sich ergehen lassen zu müssen. Nicht in dieser Angelegenheit. Im Moment wollte sie mit ihren Freundinnen einfach nur ein grauenvolles Erlebnis teilen und sich in deren Nähe geborgen und sicher fühlen.
„Es kann doch sein, dass sich der Hund verschätzte, schlichtweg zu viel Kraft in seinen Sprung legte und du dich im Angesicht der Gefahr geduckt hast? Ich meine… In so einer lebensbedrohlichen Situation, schüttet der Körper Adrenalin und weiß der Geier was für Hormone alles aus.“ Valeries analytischer Verstand brachte eine plausible und nachvollziehbare Erklärung hervor, die zumindest für sie und die Bachelor-Studentin überzeugend klang.
„Gut möglich, dass es so war, oder?“ Um den beiden Mädchen nicht unnötig mehr Kummer zu bereiten, schloss sich Roja deren Meinung an. Miriam wirkte zur Abwechslung nicht mehr so abgeklärt wie für gewöhnlich. Ihre blauen Augen trieben wie Eisschollen, ziellos in zwei großen Seen voller Traurigkeit umher und starrten sie voller kindlicher Unschuld an. Roos Brust schnürte sich bei ihrem Anblick zusammen. Darin lag das Flehen ihr zu versprechen, dass sie sich niemals wieder in Gefahr bringen durfte. Der Rotschopf konnte nicht anders, als mit ihrer Zustimmung einen unausgesprochenen Schwur abzulegen.
„Ganz bestimmt war es so“, bekräftigte sie somit ihren Eid.
„Mein Schutzengel braucht bestimmt bald Urlaub von mir,“ flachste sie und konnte der Studentin sogar wieder ein ungezwungenes Lächeln entlocken. Rojas Freundinnen beschlossen den restlichen Tag mit ihr zu verbringen. Den Freundinnen wurde unmissverständlich klar, dass die Begegnung mit dem Hund auch weniger glimpflich hätte ausgehen können. Für sie war es keine Selbstverständlichkeit, dass sie an diesem Tag in jener gewohnten Dreierkonstellation zusammensitzen durften. Deutlicher denn je wurde ihnen bewusst, wie kostbar und unbezahlbar die Augenblicke mit ihren Liebsten waren. Daher genossen sie die gemeinsame Zeit in vollen Zügen, kochten zusammen und zogen sich in gewohnter Manier gegenseitig auf. Niemand wusste, was der nächste Morgen brachte und keiner von ihnen wollte daran einen Gedanken verschwenden.
Valeries ausgeprägtes Einfühlungsvermögen, spann sich unterdessen wie ein unsichtbares Netz aus Empathiefäden um jede gesagte, aber auch ungesagte Unstimmigkeit. Ihr Bauchgefühl verriet ihr, dass etwas nicht zusammenpasste. Sie ahnte, dass mehr hinter dieser fürchterlichen Begegnung mit dem Hund steckte, als Roja zugab. Zwar verhielt sie sich fröhlich und ausgelassen, doch ihr war als ob Roos Aura aus Gutmütigkeit, Harmonie und fast schon krankhaftem Optimismus einen Riss bekommen hatte. Nicht einen von der kleinen Sorte, den man mit einem ausgiebigen Gespräch wieder kitten konnte. Der Riss war gewaltig und barg Gefahren, die Valerie trotz ihrer Feinfühligkeit nicht richtig greifen konnte. Valle wollte jedoch einen besseren Zeitpunkt abwarten, um der Sache auf den Grund zu gehen. Gegenwärtig ging es darum unbekümmert zu sein und Spaß zu haben. Eine Auszeit unter Freundinnen, in der die Mädchen unbeschwerte Momente genießen konnten.
*****
Als der Höhepunkt des Abends erreicht wurde, hielt unverhoffte Aufbruchstimmung Einzug wie ein plötzlicher Kälteeinbruch. So gerne sie auch länger geblieben wären, doch für Rojas Gäste war es an der Zeit gekommen, sich zu verabschieden. Der Abschied fiel ungewohnt emotional aus. Bei jeder Umarmung schwangen unausgesprochene Worte der Zuneigung mit, die keiner laut auszusprechen vermochte, ohne dabei in tränenreiche Abschiedstiraden zu verfallen.
„Na los du Weichei, komm endlich in die Puschen!“, drängelte Miriam Valerie mit gewohnt charmantem Feingefühl eines Babyelefanten, zur Eile. Gekonnt setzte sie der emotionsgeladenen Stimmung einen Deckel auf den Topf, bevor dieser überzusprudeln drohte. Dies war ganz Miris Art, sich nicht unnötig in Rührseligkeiten zu verlieren, schließlich stand ihr Ruf als toughe Draufgängerin auf dem Spiel, die nicht mal beim Schneiden einer Zwiebel ein Tränchen vergoss. Schniefend und räuspernd wandte sie sich ab und murmelte etwas von einer Stauballergie.
„Ciao, miau“, rief sie mit brüchiger Stimme und verzog sich so schnell wie möglich aus dem Apartment, um sich nicht die Blöße von geröteten Augen geben zu müssen.
„Pass gut auf dich auf und halte dich besser ab sofort von allen Hunden fern. Auch von Chihuahuas. Den kleinen Fußhupen kann man nicht trauen“, belehrte Valle Roja zum Abschied, wie eine große Schwester, die um ihr Wohlbefinden ehrlich besorgt war.
„Valle, kommst du?“, drängelte Miri, als sie feststellte, dass sie keinerlei Anstalten machte ihr zu folgen.
„Geh schon mal voraus. Ich komme gleich nach. Ich muss noch mal für kleine Prinzessinnen“, flunkerte sie und streckte ihr frech die Zunge heraus. Bevor sie etwas darauf erwidern konnte, gab sie der Tür einen leichten Tritt, damit diese sanft ins Schloss fiel.
„Warst du nicht erst vor fünf Minuten auf der Toilette?“, wunderte sich Roja.
„Ich hoffe du bekommst keine Blasenentzündung! Ich gebe dir zur Profilaxe sicherheitshalber eine spezielle Teemischung mit, die wirkt Wunder.“ Roja war drauf und dran ihre Kräutervorräte zu plündern, doch Valerie hielt sie davon ab.
„Roo, das war ein Vorwand, weil ich mit dir alleine reden wollte.“ Verdutzt zog sie ihre Augenbrauen hoch und wunderte sich, weshalb sie Miriam außen vor ließ.
„Mit mir alleine? Worüber denn?“
„Erst die Sache mit dem Hund und bald ist doch….“ Valerie war offensichtlich aufgebracht. Sie hielt kurz inne und wechselte dann in eine sanftere Stimmlage.
„Demnächst ist doch der 13. Todestag deiner Mutter. Um diesen Zeitpunkt herum bist du immer ein wenig neben der Spur. Keiner von uns kann sich auch nur annähernd ein Bild davon machen, wie es sein muss ohne Eltern aufzuwachsen, noch dazu bei völlig Fremden.“ Roja blickte sie schweigend an. Sie wollte es sich selbst nicht eingestehen, dass ihr der Tod ihrer Mutter nach all den Jahren noch immer zusetzte. Dennoch war sie froh, dass Valle es mit ihrer ungestümen Art geradeheraus ansprach und sie mit ihrer Trauer nicht alleine ließ.
„Du weißt du kannst immer zu mir kommen und mit mir reden, wenn dich etwas belastet.“ Roo sog ihre Unterlippe ein und begann nachdenklich daran zu nuckeln. Sie hatte nicht gerne Geheimnisse vor ihren Freundinnen. Doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund flüsterte ihr eine innere Stimme zu, die hilfsbereiten Mädchen in dieser Angelegenheit nicht zu konsultieren.
„Ja, du hast ja recht. Das ist alles gerade ein Bisschen viel für mich“, gestand sie.
„Ich vermisse meine Mom so sehr und es gibt so vieles, was ich gerne in Erfahrung bringen möchte. Damals war ich zu jung, um sie all das zu fragen, aber jetzt bin ich erwachsen und tappe völlig im Dunkeln was meine Herkunft betrifft. Ich fühle mich in letzter Zeit so hilflos und verloren und ich weiß nicht, wie ich das alles hinkriegen soll.“ Valle schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln und nahm sie tröstend in den Arm.
„Sag das nicht. Du bist stärker als du glaubst. Schau dich doch mal um. Das alles hast du dir selbst aufgebaut“, sagte sie voller Bewunderung und machte eine ausladende Geste, um ihr das zu verdeutlichen. Der geknickte Rotschopf hob den Kopf und sah sich um.
„Es ist keine überdimensionale Luxusvilla, aber das brauchst du auch nicht. Das hier ist dein Zuhause und das hast du ganz ohne deine Mutter geschafft“, machte sie ihr klar. Roja stimmte ihr zögerlich zu, dennoch fühlte sie sich miserabel und konnte sich nicht so recht darüber freuen. Valle sah sofort, dass ihr noch immer etwas zu schaffen machte und bohrte weiter nach.
„Keine Geheimnisse, raus damit, was bedrückt dich noch?“
„Mein Vater. Ich kann nicht sicher sagen, ob er vielleicht doch noch lebt.“ Valerie horchte überrascht auf, verbarg es jedoch hinter einem verständnisvollen Nicken. Ihren Vater hatte Roja in der Vergangenheit bisher noch nie erwähnt und niemand wagte es sie über ihn zu befragen.
„Bin ich eine Vollwaise oder doch nur eine Halbwaise? Woher stammte er? Was war er für ein Mensch? Und was ist, falls er doch noch leben sollte, wieso hat er dann nie nach mir gesucht?“ Valerie nahm die Hände aus den Hosentaschen und legte sie Roja auf die Schultern.
„Jetzt atme erst einmal tief ein und aus und beruhige dich wieder“, befahl sie ihr mit sanfter Bestimmtheit.
„Meine Mutter hat immer so ein Geheimnis um ihn gemacht. Alles was ich von ihm weiß, ist sein Name. Leider gibt es keinerlei Aufzeichnungen von ihm. Es ist fast so, als ob er aus einer anderen Welt stammte“, wisperte sie betrübt zwischen zwei Atemzügen.
„Wie heißt er denn?“ Roja ließ noch nie durchblicken, dass sie den Namen ihres Vaters wusste. Nach all den Jahren ihrer Freundschaft, hörte Valerie dieses Detail nun zum aller ersten Mal.
„Sein Name lautet Wotan Kol.“
Der Herbst hatte es in sich, denn er war trist, kalt und nass. Das Firmament war von einem steten Dämmergrau bedeckt, während der letzte Herbstregen in die ersten Schneeflocken überging. Auf den Straßen verwoben sich gefallenes Laub und kleine Zweige, zu einem Geflecht aus rottendem, braun-orangen Blätterteppichen. Das Ekelwetter zehrte spürbar an den Nerven der meisten Mensch. Da genügte schon ein kleiner Anrempler im dichten Gedränge, um vermeintlich zivilisierte Bürger und Bürgerinnen, innerhalb eines Herzschlages in wilde Tiere zu verwandeln. In den deprimierten Gesichter der Frauen und Männer spiegelte sich die öde Jahreszeit wider und äußerte sich in von Schwermut heruntergebogene Mundwinkel und hängende Köpfe. Behäbig schlurften die Leute dick eingepackt, in monotoner Winterbekleidung über die Straßen und wirkten wie ein blasses Echo ihrer selbst. Überall wo man hinsah, erblickte man müde Augen, die von einem milchigem Schleier aus Gleichgültigkeit überzogen waren. Dabei war das nur der Anfang, denn der Winter hielt gerade erst Einzug. Väterchen Frost übernahm das Zepter und zeigte kein Erbarmen. Zum Auftakt schickte er ein festliches Schneegeriesel vom Himmel herab und läutete mit den weißen Boten die kälteste Jahreszeit ein. Zum Unmut der ohnehin schon mies gelaunten Menschen, hielt der Schneeschauer den ganzen Tag an.
Roja war das Wetter schnurz. Es kümmerte sie nicht, ob es regnete, schneite oder die Sonne schien, denn ihre gute Laune konnte von fast nichts vermiest werden. So kam es, dass sie an diesem kalten Tag in der Stadt unterwegs war, um Besorgungen zu erledigen. Zur Abwechslung kroch sie dafür nicht wie ein Eichhörnchen durchs Unterholz oder kraxelte auf Bäumen herum, sondern kaufte wie ein normaler Mensch herkömmliche Lebensmittel in Geschäften ein. Das erkannte man auch daran, dass sie ihren Lieblingsmantel trug. Ein afghanischer, bestickter Vintage-Mantel, den sie in einem Second-Hand-Laden für wenig Geld erstanden hatte. Es war ein besonders schönes und farbenprächtiges Einzelstück, das ebenso auffällig war wie ihre roten Haare. Der warme Wintermantel war ihre erste Wahl, wenn es darum ging, sich in endlosen Gängen, zwischen gut gefüllten Regalen zu bewegen und auf völlig unspektakuläre Weise, die Preise der angebotenen Waren miteinander verglich.
Als sich auf Rojas Rückweg eine Schneeflocke unvermittelt auf ihre Nasenspitze setzte, blieb sie mitten auf dem Trottoir stehen und legte ihren Kopf in den Nacken. Ihre Augen begannen zu leuchten als sie feststellte, dass es endlich richtig schneite. Unzählige bauschige Flocken sanken gemächlich vom Himmel herab und riefen in ihr eine besinnliche Stimmung hervor. Ihr war als ob sie den Duft von Anis, Nelken und Zimt wahrnahm und bekam umgehend Lust auf die Plätzchen und die warme Schokolade, die ihre Tante Pauline Klott, immer in den kalten Monaten für sie zubereitete. Es war an der Zeit gekommen, dass sie ihrem Tantchen wieder einen Besuch abstattete. In freudiger Erwartung bewunderte sie sekundenlang die wirbelnden Schneeflocken über ihrem Kopf und bemerkte nicht, dass sie den Weg versperrte. Zum Leidwesen der mürrischen Passanten, die mit hochgezogenen Schultern und gesenkten Köpfen, Deckung vor dem Schneegestöber suchten und rasch in die nächstgelegenen Warenhäuser flüchteten. Genervt von dem Mädchen, drängten sie sich an ihrer rechten und linken Seite vorbei und vergaßen nicht sie mit verächtlichen Blicken zu strafen. Doch Roja bekam von dem umliegenden Trubel und den grimmigen Gesichtern nichts mit, derartig gebannt war sie von dem magischen Tanz der Schneeflocken.
Die Faszination der Silberflocken brach jäh ab, als Roja von einem unaufmerksamen Passanten ohne jede Vorwarnung, unsanft aus ihrer Welt der Wunder gerissen wurde. Der Fußgänger näherte sich ihr in einem rasanten Tempo, während er hochkonzentriert auf das Display seines Smartphones starrte und peinlich genau darauf achtete, die empfindliche Elektronik vor der heimtückischen Nässe des Schneeschauers abzuschirmen. Abgelenkt von einer hitzigen Chat-Unterhaltung, übersah er dabei völlig die nichts ahnende Tagträumerin, die sich in seiner Marschrichtung befand. Als er auf >>senden<< drückte, donnerte der junge Mann ungebremst, mit einem ordentlichen Wumms in das zierliche Mädchen hinein. Die Wucht des Zusammenstoßes war dermaßen heftig, dass es ihr die Luft aus der Lunge presste. Roja blieb jedoch kaum Zeit, um wieder zu Atem zu kommen, da sie damit beschäftigt war nicht auf die Nase zu fallen. Noch leicht benommen taumelte sie umher und versuchte das Gleichgewicht zu halten. Dabei ruderte sie hektisch mit den Armen und suchte verzweifelt nach etwas, woran sie sich festhalten konnte. Erfolglos grabschten sie mit den Händen ins Leere und erhoffte sich den rauen Putz einer Mauer oder die griffige Kleidung einer umstehenden Person zu ertasten. Gerade als sie sich mit der Tatsache abfand Bekanntschaft mit dem matschigen Asphalt zu machen, spürte sie endlich einen ersehnten Widerstand und griff beherzt zu. Als ob ihr Leben davon abhing, schlang sie ihre Arme um das Objekt herum und dachte nicht daran wieder loszulassen.
Fürs Erste war sie gerettet. Zwar befand sich Rojas Körper noch in einer unbequemen Schräglage, doch der befürchtete Sturz blieb aus. Sie fühlte wie ihr volles Gewicht auf jemanden drückte und blinzelte zaghaft zwischen ihren buschigen Wimpern hindurch. Auf ihrer Zunge lag bereits ein Wortschwall des Dankes parat und sie war schon im Begriff, sich für ihre ungewollte Grapsch-Attacke zu entschuldigen. Doch als sie zu ihrer Verblüffung feststellte, dass sie sich an absolut nichts festhielt, aber dennoch von etwas Unsichtbarem gehalten wurde, blieben ihr die Worte im Hals stecken. Ihr war völlig unbegreiflich wie das möglich war. Perplex befummelte sie mit den Fingern das unsichtbare Objekt, das sie festumschlungen hielt und ertastete eine feste, aber dennoch weiche Masse. Doch soweit sie das richtig erkennen konnte, befand sich zwischen ihr und dem Boden kein physisch sichtbarer Gegenstand.
„Was…? Passiert…? Hier…?“, stammelte sie entgeistert. Es war unfassbar und schlichtweg unmöglich. Roja wagte es nicht einmal mehr zu atmen, geschweige denn die Augen zu schließen. Die Situation war derartig surreal, dass sie für einen winzigen Augenblick sogar glaubte zu träumen.
„Das ist alles nicht echt. Ich träume und jede Sekunde wache ich auf“, sagte sie zu sich selbst, um sich zu beruhigen. Dann drückte sie vorsichtig die Ellenbogen durch und stemmte sich hoch, um sich wieder in eine aufrecht stehende Position zu bringen. Doch noch bevor sie das bewerkstelligen konnte, verpuffte das unsichtbare Dingsbums schlagartig und besiegelte ihr Schicksal. Ehe sie sich versah, landete Roja mit ihrem Lieblingsmantel im Matsch. Beim Sturz verlor sie auch noch ihre Mütze, die ihre fuchsrote Mähne frei gab. Wie ein Wasserfall aus Lava flossen die roten Locken über ihre Schultern, wovon einige Strähnen unglücklicherweise Bekanntschaft mit dem Matsch machten. Roja lag resignierend in der schlammigen Pfütze und versuchte zu begreifen, was soeben Vorgefallen war.
„Igitt! Das ist definitiv kein Traum“, stellte sie verärgert fest, denn die Kälte und die Nässe fühlten sich zweifelsohne echt an. Die gute Laune war endgültig dahin. Alles drehte sich und ihr war elend zumute. Niedergeschlagen, dass ihr Mantel ruiniert war, erhob sie sich langsam und kam wankend auf die Beine. Dann blickte sie an sich herab und sah sich den Schaden genauer an. Roja war von oben bis unten mit der dreckigen Brühe besudelt. Der Anblick brachte sie regelrecht zum Kochen. Wutentbrannt hielt sie nach dem Unfallverursacher Ausschau.
“Wie wäre es mit einer Entschuldigung!“, rief sie dem Handy-Zombie mit geballten Fäusten empört nach, als sie in der Ferne sah, wie dieser unbesonnen seinen Weg fortsetzte, als ob nichts geschehen war. Weder besaß er den Anstand, sich bei ihr zu entschuldigen, noch fühlte sich der Rowdy angesprochen. Sekunden später wurde der Flegel von einer homogenen Masse aus Winterjacken und aufgespannten Regenschirmen verschluckt und verschwand gänzlich aus ihrem Sichtfeld. In all der Zeit vollbrachte er das Kunststück, nicht ein einziges Mal die Augen vom Display seines Smartphones lösen zu müssen. Was war aus der Menschheit bloß geworden? Nachdem sich der Rotschopf von dem Schrecken erholt hatte, raffte sie ihre Schultern und klopfte so gut es ging den Schmutz von ihrer Kleidung.
„Na großartig, sieh sich das einer an. Jetzt ist mein Lieblingsmantel nicht nur schmutzig, sondern hat auch noch ein Loch!“, stellte sie betrübt fest und steckte ihren Daumen durch die Münzstück große Öffnung. Die Wollmütze sah nicht besser aus. Diese schwamm in der Pfütze und hatte sich bereits bis zur letzten Masche, vollends mit dem Schmutzwasser vollgesogen. Entmutigt bückte sie sich danach, doch ein aufmerksamer Passant kam ihr zuvor. Er fischte die Kopfbedeckung heldenhaft aus der kalten Brühe heraus und wrang das triefende Knäuel mit seinen kräftigen Händen sogar noch aus. Verdutzt starrte Roja den jungen Mann an und errötete augenblicklich. Ihre ansonsten blassen Wangen verfärbten sich und nahmen denselben Farbton an wie ihre roten Locken, sodass ihre prallen Bäckchen wie Nebelleuchten glühten.
„Alles in Ordnung?“, fragte er sie. In seiner Stimme konnte sie heraushören, dass er ehrlich um ihr Wohlergehen besorgt war.
„Das war ein heftiger Zusammenstoß und dein Sturz war auch nicht ohne“, fuhr er fort, während er ein paarmal mit der flachen Hand über die Mütze fuhr und sie ihr anschließend zurückgab. Noch immer völlig perplex nahm sie die selbstgebastelte Strickarbeit entgegen und presste sie mit beiden Händen an ihre Brust. Dabei war ihr entgangen, dass das gute Stück urplötzlich staubtrocken war und wie neu aussah. Neugierig betrachtete sie indessen den Fremden und kam nicht umhin festzustellen, dass er ausgesprochen höflich war und offensichtlich sehr gute Manieren besaß. Er war ein absolut Unbekannter, dennoch nahm er sich ausreichend Zeit, um sich um das verunsicherte Fräulein Bellamares zu kümmern. Mit wachsamen Augen prägte sie sich jedes Detail von ihm ein. Der Fremde war bis hin zu den Stiefeln vollkommen in schwarz gekleidet. Der etwas über knielange Mantel mit Stehkragen, verlieh ihm eine geheimnisvolle Aura. Der schmale Schnitt stand ihm vorzüglich. Wie eine zweite Haut schmiegte sich die Kleidung an seinen schlanken Körper an. Er hatte einen makellosen Porzellanteint der beinahe gläsern wirkte. Für diese Jahreszeit war Blässe zwar normal, nichtsdestotrotz wirkte er nicht wie der Typ Mensch, der in den sonnenreichen Monaten, ausgedehnte Sonnenbäder nahm. Auf seinen Wangen schimmerte ein zarter Hauch Rosé und seine Augen waren von einem dichten schwarzen Wimpernkranz umrandet, als seien diese mit einem Kohlstift betont worden. Solch Ausdrucksstarke Augen hatte Roja bisher nur bei Wildtieren gesehen. Selbst die Farbe seiner Iris war alles außer gewöhnlich. Amberfarben wie Bernstein mit honigfarbenen Sprenkeln darin. Nach dem Standard der heutigen Zeit, in der alle einem identischen Schönheitsideal hinterher jagten, konnte man ihn nicht als typischen Schönling bezeichnen. Er besaß Charakter und schenkte einer fremden jungen Frau Güte und Zuneigung. Es war das Zusammenspiel seines auffälligen Aussehens und seines uneigennützigen Verhaltens, was ihm eine besondere Attraktivität verlieh, die heutzutage die wenigsten erreichten. Weder durch Schönheitsoperationen am Fließband, noch mithilfe der neueste Make-up Trends, war es einem Menschen möglich diese Art von Schönheit zu erlangen, die der Fremde ohne jeden Zweifel besaß.
„Ähm, ja… Danke. Alles bestens!“, versicherte sie ihm und senkte schnell den Blick, da sie spürte wie ein erneuter Hitzeschub ihr die Schamesröte ins Gesicht trieb. Dabei fielen ihr seine gepflegten Hände auf. An einem seiner schlanken Finger trug er ein auffälliges, kaum übersehbares Schmuckstück. Ein Ring mit einem schwarzen Stein, auf dem ein Wappen eingraviert war. Das Juwel sah sehr ungewöhnlich aus und verlieh dem jungen Mann etwas Elitäres.
„Oh nein, deine Hände… Die müssen ganz schmutzig sein! Oh je, das tut mir wirklich leid. Das hättest du nicht tun müssen“, stammelte sie beschämt und durchforstete umgehend sämtliche Taschen an ihrem Mantel und an ihrer Hose, in der Hoffnung ein sauberes Taschentuch hervorkramen zu können. Der hilfsbereite Passant winkte ab und schenkte ihr ein breites und herzerwärmendes Lächeln.
“Ach was, da ist nichts“, meinte er und hielt ihr als Beweis seine Hände unter die Nase. In der Tat waren sie blitzsauber. Plötzlich kam er etwas näher.
„Übrigens. Das war vorhin urkomisch dir dabei zuzusehen, wie du dich abgemüht hast. Man hätte meinen können, dass sich deine Magie erst jetzt manifestiert hat. Du hast dich angestellt wie ein Frischling“, sagte er hinter vorgehaltener Hand und schüttelte belustigt den Kopf.
„Deinem Alter entsprechend müsstest du aber bereits eine „Sophomore“ sein. Du bist doch bestimmt schon im vierten Semester. Welchem Clan gehörst du an?“, hakte er nach und wartete auf eine Antwort. Roja sah ihn verdutzt an, denn sie verstand kein Wort von dem was er zu ihr sagte und war sich sicher, dass er sie auf den Arm nehmen wollte. Es konnte sich nur um einen Streich einer ihrer Freundinnen handeln, die ihr kleines Malöhr zufällig beobachtet hatte. Suchend blickte sie sich um und hielt nach einem verräterischen Zeichen Ausschau.
„Wer von den Clowns, die sich meine Freundinnen nennen, hat dich geschickt? Miriam oder doch eher Valerie? Spuck es schon aus!“, forderte sie ihn auf und war sich ihrer Sache sicher. Nun war es der Fremdling, dem die Verwirrung auf der Stirn geschrieben stand. Er beugte sich vor und sprach mit leiser Stimme, damit niemand sonst ihr Gespräch belauschen konnte.
„Ich verstehe nicht ganz. Sind das deine Lehrer für übersinnliche Angelegenheiten?“, hakte er nach und sah sich verstohlen um, um sicher zu gehen, dass sie nicht beobachtet wurden. Nun wurde es dem aufbrausenden Rotschopf zu bunt. Ihr gesamtes Gesicht nahm allmählich die Färbung einer Tomate an.
„Nun hör aber auf. Ich mag vielleicht tollpatschig sein, aber ich bin nicht dumm. Danke für deine Hilfe, aber diesen Unsinn höre ich mir nicht länger an“, herrschte sie ihn aufgebracht an.
„Aber du hast doch gerade einen Anker-Zauber des untersten Ranges heraufbeschworen. Den beherrscht jeder Frischling mit verbundenen Augen. Du hast den Cast war zwar mehr als stümperhaft ausgeführt, aber ich weiß was ich gesehen habe“, beharrte er. Roja schloss die Augen und rieb sich die Nasenwurzel. Allen Anschein nach besaß der Kerl doch ernsthaft die Frechheit, sie weiter für dumm verkaufen zu wollen.
„Ah, ich verstehe. Dir ist das peinlich von einem anderen Magi derartig bloßgestellt zu werden. Das tut mir aufrichtig leid. Ich wollte dich nicht beschämen, aber wer auch immer dich in den Künsten der Magie unterrichtet, verrichtet einen lausigen Job. Solche einfachen Casts solltest du eigentlich aus dem Effeff beherrschen“, merkte er kritisch an und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Roja sah ihn verdattert an. Bei all dem Unsinn, den der Fremde von sich gab, verzog er nicht einmal eine Miene und blieb seiner Rolle treu.
„Wie dem auch sei, noch keine Hexe beherrscht über Nacht ihren Besen. Du musst dich einfach noch mehr anstrengen. Außerdem bin ich der letzte Magus, der eine junge Maga auf ihrem Weg belehren sollte“, sinnierte er und hakte das Thema somit ab.
„Magi? Hexen? Was?!“, entfuhr es Roja eine Nuance zu laut. Der Fremde riss erschrocken seine Augen weit auf und sah sich prüfend um. Die Luft war rein, denn das Schneegestöber verschluckte ihre Unterhaltung. Man musste schon direkt neben ihnen stehen, um etwas davon mitzubekommen.
„Pscht, nicht so laut! Die Staubgeborenen müssen nicht hören worüber wir uns unterhalten“, ermahnte er sie und sah allen ernstes besorgt aus. Roja hatte die Nase endgültig gestrichen voll.
„Was auch immer. Diesen Nonsens von Magie und Zauberei muss ich mir echt nicht geben“, verabschiedete sie sich und vollzog eine Kehrtwendung, um in die entgegengesetzte Richtung zu verschwinden. Hauptsache schnell weg von dem Verrückten. Doch er kam ihr zuvor und hielt sie an ihrem Handgelenk fest. Unversehens zog er sie dann an sich heran und umfasste wie selbstverständlich ihr Gesicht. Seine Hände waren samtweich und er ging sehr behutsam vor. Entgegen ihrer Erwartungen, waren diese trotz der bitterlichen Kälte angenehm warm. Das jung Mädchen war völlig baff und war drauf und dran ihn mit einer Schimpftirade für sein flegelhaftes Benehmen gebührend zu entlohnen. Doch sobald er damit begann ihre verdreckten Haarsträhnen zärtlich aus dem Gesicht zu streichen, blieb
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: T. J. Hudspeth
Bildmaterialien: T. J. Hudspeth
Cover: T. J. Hudspeth
Tag der Veröffentlichung: 13.01.2021
ISBN: 978-3-7487-7144-9
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ein großer Dank geht an alle, die mich während der vergangenen Jahre immer wieder motiviert haben an diesem Buch zu schreiben. Ihr habt mich ermutigt meinen Traum weiter zu träumen, bis er real wurde.