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Lost Diary - Erinnerungen einer verlorenen Seele

Josephine Willow Stone wollte seit dem Tod ihrer Eltern lieber nur noch Willow genannt werden. Sie ertrug den Klang ihres Namens seit jeher nicht mehr, denn es erinnerte sie stets daran, wie ihre Mutter sie mit sanfter Stimme liebevoll rief. Nicht einmal ihr Bruder durfte sie seit dem mit ihrem vollen Namen ansprechen.
Anders wäre es für sie nicht erträglich gewesen mit dem Verlust ihrer Eltern klar zu kommen. Doch nun hatte sie zusätzlich auch noch mit dem Tod ihres einzigen Bruders zu kämpfen, denn auch er war von ihr gegangen.


Oft streifte die unscheinbare Schönheit im Wald umher und hing ihren Gedanken nach. Nur in der Stille der Natur kam sie zur Ruhe, und konnte den schrecklichen Verlust ihrer Familie verarbeiten.

 

*****

 

Es war bereits Herbst geworden. Die Bäume schüttelten ihre letzten Blätter ab und hinterließen auf dem Waldboden einen bräunlichen Teppich aus verdorrtem Herbstlaub. Jeder Schritt gab knirschende Geräusche von sich. Die kühle Waldluft tat ihr gut, denn in den letzten Tagen ging es ihr immer schlechter. Ihre Psyche spielte einfach nicht mehr mit.

 

Eine Zeit lang hatte sie noch genügend Kraft gehabt, den Schein zu wahren und so zu tun, als ob in ihrem Leben alles in Ordnung war. Sobald sie unter Menschen kam, legte sie ihren Happy-Schalter um und setzte ihre Maske der Täuschung auf. Die Leute um sie herum schienen das eingefrorene Lächeln überhaupt nicht zu bemerken. Das lag wohl daran, dass jeder etwas zu verbergen hatten und der Öffentlichkeit ein falsches Ich zur Tarnung präsentierte.


Nach dem Selbstmord ihres Bruders hatte Willow einen Zusammenbruch erlitten. Sie musste stationär behandelt werden und wurde auf Medikamente gesetzt. Starke Antidepressiva. Danach ging es ihr besser. Dies war zumindest die fachkundige Diagnose von Ärzten und Psychiatern. Doch sie lagen falsch. Es ging ihr nicht wirklich besser, sie fühlte schlichtweg einfach nichts mehr.
Keinerlei Emotionen kamen in ihr auf. Nicht einmal wenn sie sich das grausame Bild ihres toten Bruders ins Gedächtnis rief, das sich für immer in ihre Netzhaut eingebrannt hatte.

 

*****

 

Es war nach der Schule gewesen, ein Tag wie immer. Willow kam nach Hause und kochte sich etwas zu essen. Olivers Auto stand vor dem Haus. Demnach ging sie davon aus, dass ihr Bruder Zuhause war. Als er jedoch stundenlang nicht aus seinem Zimmer kam, wollte sie nach ihm sehen und sicher gehen, ob alles mit ihm in Ordnung war, schließlich hatten sie nur einander.

 

Als ihre Eltern bei einem Überfall brutal ermordet wurden, übernahm Oliver das Sorgerecht für seine kleine Schwester, da er bereits volljährig war und sie selbst brauchte nur noch zwei Jahre zu ihrer Mündigkeit. Mit ihrer Waisenrente und dem Geld, das beide bei kleinen Gelegenheitsjobs verdienten, konnten sie gut leben und die anfallenden Rechnungen bezahlen. Über eine Wohnmöglichkeit mussten sie sich keine Sorgen machen, denn sie hatten das Haus ihrer Eltern geerbt. Es gehörte ganz alleine nur ihnen. Langsam ging Willow die Holztreppe hoch. Einige Stufen knarrten unter der Last ihres Gewichts.

 

„Oliver? Oliver bist du da?“, rief sie in die Richtung seines Zimmers, während sie weiterhin die Treppen hinauf ging. Er antwortete nicht. Zaghaft klopfte sie an seine Tür. Nachdem er sich noch immer nicht zu Wort meldete wurde sie energischer und stieß ein paar Mal mit dem Fuß dagegen. Vermutlich war er eingeschlafen und hörte sie nicht. Leise öffnete sie die Tür einen Spalt breit und steckte ihren Kopf durch die schmale Öffnung hinein. Gleich am Eingang befand sich ein Bett, doch es war unbenutzt. Willow ging in sein Zimmer hinein um einen Blick auf den Bereich werfen zu können, der sich hinter der Tür befand. Dort stand ein Schreibtisch auf dem er manchmal einschlief, wenn er sich die Nacht mit Papierkram um die Ohren schlug.
Doch was sie dort vorfand trieb ihr das blanke Entsetzen ins Gesicht. Ihr Bruder Oliver saß zusammengesackt auf einem Stuhl, mit nur noch einer Schädelhälfte. Überreste seines Hirns lagen zum Teil auf dem Schreibtisch verteilt und klebten an der dahinterliegenden Wand. Vereinzelt fand man blutige Fleischfetzen vor. Oliver hielt sogar noch die Pistole in der Hand, mit der er diese abscheuliche Tat vollbracht hatte.

Willow konnte nicht fassen, dass ihr einziger Bruder sich mit nur 22 Jahren das Leben auf solch bestialische Art und Weise genommen hatte. Hysterisch fing sie zu schreien an und versuchte die Überreste seines Gehirns aufzusammeln und in seine offene Schädeldecke zurück zu stopfen.

Nachbarn fanden sie am Abend, als sie bei einem Spaziergang, der am Haus vorbei führte, auf ihr schmerzerfülltes Wimmern aufmerksam wurden. Das junge Mädchen lag zusammengekauert in Olivers Blutlache, mit seinem steifgewordenen Leichnam in ihrem Schoß. Sie hielt ihn fest umschlungen und drückte ihre Wange an sein Blutüberströmtes Gesicht. Die Nachbarn versuchten sie von ihm wegzubringen, doch sie krallte sich an den Resten ihres Bruders verbissen fest und stieß herzzerreißende Schreie aus, als man sie packte und versuchte von ihm wegzuzerren. Erst als die Polizei und der Notarzt eintrafen und ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht wurde, ließ sie von Oliver ab.

 

Nach diesem Vorfall befand sie sich in regelmäßigen Abständen in psychiatrischer Behandlung und lebte alleine in dem Haus. Da sie lediglich nur noch wenige Wochen von ihrer Volljährigkeit entfernt war, bekam sie hin und wieder Besuch von einer Dame des Jugendamtes, die sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigte. Mit dieser Regelung waren beide Parteien einverstanden. Willow brauchte keinen Vormund und das Jugendamt kniff sozusagen beide Augen zu, unter der Bedingung, dass sie ihre Therapiesitzungen besuchte.

 

Seit jeher hatte Willow das Zimmer ihres Bruders Oliver abgesperrt und nie mehr betreten. Auf Anraten der Ärzte ging sie wieder zur Schule, denn sie sollte so schnell wie möglich wieder in die Gesellschaft integriert werden, um ein normales Leben führen zu können. Doch der tägliche Schulbesuch glich einem Spießrutenlauf. Jeder der sie sah, setzte eine bekümmerte Miene des Mitleids auf und behandelte sie wie ein rohes Ei.

Vorne herum taten alle freundlich und hilfsbereit, doch hinter ihrem Rücken konnte sie das gehässige Getuschel und Getratsche deutlich vernehmen. Denn der tägliche Tratsch von gelangweilten Hausfrauen, thematisierte auch ihr Leben. Jeder bekam von ihnen brühwarm erzählt, dass sie Antidepressiva nahm. Aus diesem Grund nannten sie ihre Mitschüler einen Psychofreak, doch das sagten sie ihr natürlich nie ins Gesicht. Dazu fehlte ihnen der Mut, die Courage. Keiner von ihnen musste jemals in ihrem Leben einen solchen Schicksalsschlag verkraften und Willow hatte bereits den Zweiten zu verarbeiten.

Erst der Verlust ihrer Eltern und dann den Selbstmord ihres geliebten Bruders Oliver. Ihre Mitschüler verstanden einfach nicht, dass man manchmal nur noch mit Hilfe solcher Medizin lebensfähig war. Wie auch. Ihnen ging es allen gut.
Dank der starken Medikation nahm sie sich nichts davon zu Herzen, was die Leute über sie tratschten. Es prallte einfach an ihr ab.
Die Vollweise wollte in Ruhe ihr letztes Jahr an der Schule überstehen und ihren Abschluss machen. Weitere Zukunftspläne hatte sie noch keine gemacht.


Als ihr 18ter Geburtstag gekommen war, überhäuften ihre Mitschüler und Lehrer sie mit Beglückwünschungen und kleinen Geschenken. Willow tat so, als ob sie sich darüber freute, doch Zuhause angekommen, war sie wieder alleine. Die Präsente stopfte sie ungeöffnet in die Mülltonne. Auf diese geheuchelten Geburtstagsgeschenke, womit sich ihre Mitschüler versuchten reinzuwaschen, da sie oft über sie schlecht geredet hatten, konnte sie getrost verzichten.
Während sie so einsam in der unbeleuchteten Küche am Tisch saß und auf die kleine Flamme der herunterbrennenden Geburtstagskerze starrte, die in einem Muffin steckte und die sie sich selbst angezündet hatte, fasste sie einen Entschluss.
Ab sofort hörte sie auf, die Antidepressiva einzunehmen und sobald sie ihren Abschluss gemacht hatte, wollte sie sich selbst das Leben nehmen. Für sie gab es keinen Grund mehr weiter zu machen. Sie hatte niemanden mehr und war alleine.

Bis zu ihrem Schulabschluss hatte sie genügend Zeit ihren

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 04.02.2014
ISBN: 978-3-7309-8082-8

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