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Seelenheil – Glaube an die eigene Macht

Seit dem Angriff des Schwarzblüters, waren zwei volle Tage und Nächte vergangen. Dalila befand sich nach wie vor in einem Dämmerschlaf. Niemand wusste wie lange dieser noch anhalten, und ob das Halbblut jemals wieder erwachen würde.

 

 

Daphne saß wie ein beschützender Wachhund neben dem Bett auf einem Stuhl, um ein Auge auf ihre Enkeltochter haben zu können. Dabei ließ sie gedankenverloren, den blutroten Anhänger ihrer Kette, zwischen den Fingern umherkreisen, als ob sie einen Rosenkranz beten würde. Dieser bestand jedoch nur aus einer einzigen, statt aus 59 Perlen und es war auch kein Kreuz daran zu sehen. Denn ihr Kreuz war ihre Geißel, die daher rührte, machtlos mit ansehen zu müssen, wie das junge Mädchen vor sich hinvegetierte. Einen weiteren Verlust, würde die vom Leben gebeutelte Davallia-Frau jedoch nicht mehr ertragen können. Erneut eine geliebte Person zu verlieren, würde ihr endgültig jeglichen Willen rauben weiterzuleben.

Das Schicksal hatte ihr ein Unheil nach dem anderen präsentiert. Erst wurde ihr der Ehemann viel zu früh genommen, dann verlor sie ihren Faypaten, Ziar, der nur deshalb sterben musste, weil er ihr Leben als kostbarer und lebenswerter erachtet hatte, als das seine. Und zu guter Letzt, hatte man ihr die Frucht ihrer Lenden geraubt. Ihr eigen Fleisch und Blut. Das einzige Kind, das sie je geboren und von ganzem Herzen geliebt hatte – ihre Tochter. Würde sie nun das Letzte verlieren, das ihr noch einen Sinn gab weiterzuleben, um diesen wahnsinnigen Krieg einstiger Faybrüder und Schwestern weiter durchstehen zu können, würde sie ihrem Halbblutdasein umgehend ein frühzeitiges Ende setzen. Wie dies vonstattengehen sollte, war Daphne noch nicht klar. Doch sobald Dalila den Kampf aufgeben sollte und ihr Herz keinen Schlag mehr täte, würde sie es dem jungen Mädchen gleichtun und ihr auf die andere Seite folgen, in der Hoffnung ihre Lieben dort alle wieder vereint anzutreffen.

 

So abwesend die leeren Augen von Dalilas Großmutter auch wirken mochten, ihrem achtsamen Verstand entging nichts. Nicht einmal der vorbeihuschende Schatten, den man unter dem schmalen Spalt der geschlossenen Zimmertür, auf den Holzdielen tänzeln sehen konnte, entzog sich ihrer Wachsamkeit.

 

„Komm endlich rein, Jo, oder willst du etwa noch länger wie ein gesichtsloses Gespenst vor der Tür herumlungern?“, fragte sie gereizt. Einen Atemzug später öffnete sich leise die Tür. Verlegen betrat der Fay den Raum, der angefüllt war mit Daphnes traurigen Empfindungen. Jo fröstelte, als eine Woge aus Verzweiflung über ihn hereinbrach und versuchte seine Seele mit Trostlosigkeit zu infizieren. Er tat einen tiefen Atemzug und im nächsten Moment fielen sämtliche Gefühle, die nicht seine eigenen waren, von ihm ab als prallten diese gegen eine unsichtbare Barriere. Es fiel ihm überaus schwer seinen reglosen Halbblutschützling zu betrachten, ohne selbst in Kummer zu zergehen wie es bei seiner menschlichen Gefährtin zu sehen war.

 

„Ihr Zustand hat sich leider noch nicht gebessert.

Ab und zu ruft sie im Fieberwahn nach ihren Eltern oder redet wirr. Ansonsten ist alles unverändert“, informierte Daphne Jo mit heißerer Stimme.

 

„Können wir den wirklich gar nichts unternehmen?

Sollten wir sie vielleicht nicht besser doch in eines eurer Krankenhäuser bringen?“, fragte er besorgt. Er ertrug den Gedanken nicht, selbst ein mächtiger Fay zu sein, jedoch in diesem Fall, trotz all seiner Macht, nicht helfen zu können. Daphne warf Jo einen harten Blick zu.

 

„Du weißt besser als jeder andere, dass die menschliche Medizin bei den speziellen Bedürfnissen von Halbbluten versagt, es sogar noch verschlimmern könnte.

Die Menschen wissen doch gar nicht, dass wir existieren. Woher sollten sie also die Erfahrung haben, ein komatöses Halbblutmädchen wieder zurück zu den Lebenden zu bringen? Vielmehr würden sie sie endgültig ins Jenseits befördern!“, zischte sie den Fay aufgebracht an.

 

„Ich weiß, Daphne. Verzeih mir bitte. Es ist nur… Ich kann mich nur so schwer damit abfinden, tatenlos herumzustehen und darauf zu warten ob sie leben oder sterben wird.“ In diesem Moment hatte Jo einen Geistesblitz. Er eilte zu seiner Patin und ergriff ihre Hand. Diese lag schlaff und kalt in der seinen, wie ein toter Fisch dem man zum Sterben auf dem trockenen Land hat liegen lassen.

 

„Was hältst du davon, wenn ich durch Dalilas Körper eine geballte Ladung Green-Ignis jage, ähnlich wie bei einer Schocktherapie?“, wollte er wissen. Seine Augen funkelten voller Zuversicht, es zumindest auf einen Versuch ankommen zu lassen. Daphne ballte ihre Hände, die in ihrem Schoß ruhten, zu Fäusten und sah Jo verständnislos an.

 

„Sag mal, bist du denn von allen guten Geistern verlassen?“, blaffte sie ihn erzürnt an.

 

„Mir ist zwar nicht entgangen, dass du dich in den vergangenen Tagen stark verändert hast. Doch ich dachte, dass du das wieder in den Griff bekommen würdest.

Wann hast du zuletzt dein Spiegelbild betrachtet?

Ist dir nicht aufgefallen wie dunkel die Schatten unter deinen Augen, und wie verhärtet deine sonst so sanften Gesichtszüge sind?

Und die dunkle Strähne, die du unter deinen Haaren zu verbergen versuchst….!“ Daphne schüttelte langsam den Kopf und sah ihren langjährigen Freund eindringlich an.

 

„Du magst vielleicht die Anderen täuschen können. Doch nicht mich, Jo. Dafür sind wir viel zu gute Freunde, als dass du mich hinters Licht führen könntest.

Merkst du denn nicht selbst was los ist?

Das Böse hat dich infiziert! Und wenn du nicht schleunigst etwas dagegen tust, wirst auch du zu einem Schwarzblüter werden!“ Ihr versagte die Stimme. Daphne sammelte sich für einen Augenblick. Anschließend richtete sie voller Schwermut einen Appell an den Fay, in der Hoffnung ihn wieder zur Vernunft bringen zu können. Sein Verstand mag zwar schon von der Dunkelheit getrübt worden sein, doch seine reine Seele war noch unbefleckt.

 

„Jo, wach endlich auf bevor es zu spät ist und es kein Zurück mehr für dich geben wird!

Mag sein, dass deine Absichten gut sind doch der Weg den du einschlägst ist der Falsche. Man kann eine Seele nicht zwingen etwas zu tun, was sie selbst nicht möchte. Sollte sich also Dalila für den Tod entscheiden, werden wir ihren Entschluss so hinnehmen müssen. Das sind wir ihr schuldig.

Sie aber gegen ihren Willen zu einem Versuchskaninchen zu degradieren, damit du ihr den deinigen aufzwingen kannst, ist schlichtweg nicht richtig. Was ihr widerfahren ist, ist nicht deine Schuld. Wenn du diese Bürde dennoch grundlos auf dich nehmen möchtest, ist das deine Wahl mit der du selbst leben musst. Aber solltest du dennoch so weiter machen wie zuvor, wirst du in absehbarer Zeit wie dein Bruder Edrell enden. Verbittert, zerfressen vom Hass und ohne Hoffnung!“ Daphnes Standpauke schien Wirkung bei dem fehlgeleiteten Reinblüter gezeigt zu haben. Sachte legte er Dalilas Hand wieder ab und schluckte schwer. Erst durch ihren Weckruf wurde ihm bewusst wie gefährlich nahe er dem Abgrund bereits gekommen war. Einem bodenlosen Loch in dessen finsterer Unendlichkeit all das lauerte, dass er eigentlich so sehr verabscheute.

 

„Du hast recht, Daphne. Es tut mir leid. Ich habe mich von der Macht des Dunklen verleiten lassen. Von nun ab reiße ich mich wieder zusammen, um für Dalila der Pate zu sein, den ihre schöne Seele verdient hat“, meinte er geläutert.

 

„Es ist nur…

Wenn ich… Mit ihr tauschen könnte… Ich würde es sofort tun!“ Voller Trübsal ließ er Kopf und Schultern hängen. Seine Verzweiflung versteckte er hinter einer starren Maske aus ausdrucksloser Mimik, doch seiner Körpersprache war anzusehen wie schwer es ihm fiel, sich seine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen.

 

„Ich kann verstehen welche Last es für dich sein muss, deinem Halbblut nicht beistehen zu können. Wenn ich könnte, würde ich es ebenso tun. Jedoch sind mir die Hände gebunden. Weder du noch ich haben das Recht in die Geschehnisse einzugreifen. Sich als Gott aufzuspielen wäre mehr als vermessen. Unsere Leben sind zwar miteinander verwoben, doch leben muss jeder sein eigenes. Denn jeder hat seine eigene Geschichte, seinen eigenen Lebensweg den er beschreiten muss. Sollte also Dalilas Weg hier schon zu Ende sein, müssen wir das akzeptieren.

Alles hat einen Grund. Selbst wenn wir diesen nicht sofort erkennen, müssen wir dennoch darauf vertrauen, dass alles gut wird.“ Daphne schenkte ihm ein müdes, kraftloses Lächeln. Ihre Worte gaben ihm zu denken.

 

Hatte seine alte Freundin, die er über all die Jahre so sehr liebgewonnen hatte, recht mit dem was sie sagte? Sollte wirklich niemand in die Geschehnisse eingreifen, selbst wenn er die Macht dazu hatte. Wäre es wirklich so falsch einen geliebten Menschen nicht sterben zu lassen? Vielleicht war es egoistisch von ihm Dalila nicht gehen lassen zu wollen. Doch er konnte sich auch nicht vorstellen, dass ein so blutjunges Mädchen nicht mehr leben wollte. Gab es doch noch so vieles in dieser Welt, was sie noch nicht entdeckt, gesehen und erlebt hatte.

Ihren ersten Kuss, der auf solch aufregenden und zwischenmenschlichen Weise zum Ausdruck bringt, wie sehr sich zwei Seelen begehren. Oder das unermessliche Glück einer werdenden Mutter, die ihr Neugeborenes zum ersten Mal in die Arme schließen darf. Und das Wissen darüber, dass man von Anderen geliebt und gebraucht wird.

Der Fay konnte und wollte nicht glauben, dass seine Patin auf all diese kostbaren Glücksmomente verzichten wollte. Daher verzog er seinen Mund zu einer schiefen Schnute, um Daphne zu signalisieren, dass er ihre Worte vernommen hatte. An seinem kritischen Blick war jedoch zu erkennen, dass er nicht gänzlich ihrer Meinung war. Doch die skeptisch zusammengezogenen Augenbrauen des Rebellen, waren der sonst so bedachtsamen Dame entgangen.

 

„Unsere Kleine hat die Lage unterschätzt.

Keiner von uns kann nachvollziehen, was sie sich dabei wohl gedacht haben muss, als sie in den Wald gegangen war. Wahrscheinlich war ihr die Gefahr, die da draußen auf sie lauerte und noch allgegenwärtig ist, nicht bewusst, denn schließlich ist das alles noch Neuland für sie. Vielleicht wollte Dalila einfach selbst ausloten wie weit sie gehen kann“, sinnierte Daphne und versuchte eine Erklärung für den Leichtsinn ihrer Enkelin zu finden. Gleichzeitig bemühte sie sich dem Fay die Schuldgefühle auszureden.

 

„Wenn sie genug davon haben wird, sich in ihrem Inneren zu verkriechen, dann wird sie hoffentlich wieder zu uns zurückkehren. Doch solange müssen wir uns eben gedulden.“ Wie zur Bekräftigung tätschelte Daphne vorsichtig Dalilas kalte Hand. Ihr Handrücken wirkte erschreckend bleich und wächsern, wie die eines sterbenden Menschen. Diese Veränderung beunruhigte die äußerlich junggebliebene Großmutter ungemein. Deuteten doch die untrüglichen Vorzeichen jenes Zustandes nur auf eines hin – nämlich, dass der Tod bald bevor stand.

 

„Aber wie lange sollen wir denn noch darauf warten, dass sie wieder erwacht? Dalila befindet sich schon viel zu lange in diesem Zustand. Das kann doch nicht ewig so weiter gehen!“, wandte Jo voller Wehmut ein, denn auch ihm war nicht entgangen, dass es eher schlecht um das Halbblut Mädchen stand. Daphne beugte sich ein wenig nach vorn, um ihrer Enkelin zärtlich eine Strähne hinters Ohr streichen zu können. Wie sie so reglos da lag, wirkte der Teenager wie eine übergroße Porzellanpuppe.

 

„Die Menschen verarbeiten schlimme Erfahrungen anders als ihr Lichtwesen. Manche kommen mit beklagenswerten Geschehnissen leichter klar und wiederum andere kapseln sich ein, wie eine Raupe in ihren Kokon.

Irgendwann lässt dann urplötzlich ein kleiner Impuls, innerlich oder auch äußerlich, den Dauerschläfer wieder erwachen, als sei nie etwas gewesen oder es geht endgültig zu Ende“, erklärte sie ihm. Dabei schweifte ihr verklärter Blick in weite Ferne. So langsam verstand Jo wie es seinem Schützling wohl ergehen musste. Dalila hatte großes Leid durchzustehen. Erst der Schicksalsschlag, bei dem sie den Tod beider Elternteile zu beklagen hatte, und dann musste sie selbst ein Martyrium über sich ergehen lassen, dessen unermessliche Pein man sich gar nicht erst vorzustellen wagte.

In Daphnes Stimme lag eine fein-herbe Nuance von Melancholie, die dem Reinblüter bitter aufstieß. Mithilfe seiner angeborenen Feinfühligkeit kam er nicht umhin ihre Niedergeschlagenheit zu bemerken. Doch nicht nur das veranlasste ihn dazu, die derzeitige Hüterin des Portals genauer zu betrachten. Dank seiner ausgeprägten Faysensoren konnte er zusätzlich spüren, dass ihr gesundheitliches Wohlergehen massive Einbußen erlitten hatte. Ihr stand die Erschöpfung wie ein schattenhafter Schleier ins Gesicht geschrieben, als habe jemand mit einem Klecks grauer Farbe jegliches Leuchten überpinselt. Denn seit jener Nacht war sie nicht mehr von Dalilas Seite gewichen. Sie wollte um jeden Preis bei ihrer Enkeltochter sein. Falls diese aufwachen sollte, so sollte sie einen vertrauten Menschen erblicken. Und falls das Mädchen entgegen allen Erwartungen doch noch sterben würde, so sollte sie zumindest nicht alleine Väterchen Tod gegenübertreten müssen. Daphnes Gesichtsfarbe wirkte fahl und ihre sonst so rosigen Wangen waren eingefallen. Selbst ihr strahlendes Haar sah nun stumpf und strohig aus. Ihr körperliches Befinden war bereits auf den Nullpunkt gesunken. Nicht nur der massive Schlafmangel setzte ihr zu, sondern auch die Angst um Dalila, zehrte an ihrem angespannten Nervenkostüm.

 

„Daphne, du bist mit deinen Kräften völlig am Ende. Wenn du so weiter machst, wird dein Körper streiken. Du stehst ohnehin schon kurz vor einem Zusammenbruch! Dann haben wir hier zwei Pflegefälle, um die man sich kümmern muss. Bitte ruhe dich doch ein wenig aus.“

 

„Nein, nein, mir geht es gut Jo, wirklich“, versicherte sie ihm, wobei sie versuchte ihre zitternden Hände vor ihm zu verbergen. Doch Jo ließ sich von Daphnes Worten nicht beirren. Mit schweren, mahnenden Schritten ging er zu ihr hinüber und drehte den Stuhl, auf dem sie saß, in seine Richtung, sodass sie ihn ansehen musste. Dann legte er behutsam beide Hände auf Daphnes Schultern, damit sie seinem energischen, aber dennoch sanftmütigen Blick, nicht mehr ausweichen konnte.

 

„Meine liebe Freundin, du weißt doch selbst, dass du mir nichts vormachen kannst. Oder willst du etwa einen Fay für dumm verkaufen?“, fragte er und zwinkerte ihr mit dem Wissen zu, dass auch ihr klar war, dass man ein Lichtwesen nicht täuschen konnte. Da würden sich selbst die besten Kartenspieler der Welt, bei einer Partie Poker die Zähne ausbeißen, denn Jo würde jeden noch so guten Bluff aufdecken.

 

„Keine Sorge, ich bleibe die ganze Zeit über bei Dalila, bis du dich wieder erholt hast“, sicherte er ihr zu und half Daphne vom Stuhl auf. Da sie einsah, dass Jo recht hatte mit dem was er sagte, und sie weder die Kraft noch den Willen dazu besaß zu protestieren, ließ sie sich folgsam zur Tür hinaus geleiten.

 

„Du hast ja vollkommen recht. Ein bisschen Schlaf wird mir ganz gut tun“, gestand sich Daphne ein.

 

„Da drüben steht eine Schüssel mit frischem Wasser und einem Schwamm. Hin und wieder musst du ihre Lippen befeuchten, damit sie nicht austrocknet“, meinte sie und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Kommode. Anschließend gähnte sie ausgedehnt und verschwand im Flur. Auf dem Weg zu ihrem Schlafzimmer, bemerkte Daphne wie ausgelaugt sie tatsächlich war. Ihre Knie waren weich wie Pudding, und ihre Beine fühlten sich bleiern an. Ihr war als ob sie durch einen unwegsamen Sumpf watete. Jeder weitere Schritt war anstrengender als der davor. Kaum hatte Daphne ihr Ziel erreicht, hievte sie sich mit letzter Kraft auf ihr Bett, als ob sie wie eine Schiffbrüchige, das rettende Ufer erreicht hatte und sich eine steile Böschung hinaufschleppen musste. Und noch bevor sie ihre Wangen in ihre weichen Kissen schmiegen konnte, nahm der Schlaf ihren müden Körper in Besitz. Lange genug hatte dieser wie eine zähe, unsichtbare Substanz in ihrem Bewusstsein gelungert, ohne jedoch zum Zuge gekommen zu sein. Nun jedoch brach Sandmännchens Begleiter, mit solch einer Wucht über das ermattete Halbblut herein, dass es bereits im Land der Träume angekommen war, bevor es richtig im Bett lag. Die Samtweichen Kissen federten Daphnes Fall jedoch sanft ab, ohne dass sie noch etwas davon mitbekam.

 

*****

 

Jo saß nun an Daphnes Stelle auf dem Stuhl und wachte über Dalila. Äußerlich wirkte sie ruhig. Doch als er tief in ihre Gefühlswelt eintauchte, spürte er, dass etwas seinen Schützling umtrieb. In ihrem Innersten toste ein Sturm, der Bäume auszureißen vermochte. Ihre Seele war dermaßen aufgewühlt und von Trauer zerfressen, dass sie sogar kurz vor ihrer Selbstaufgabe stand. Bestürzt ergriff der Faypate ihre Hand und streichelte sie. Und da er sich sonst nicht anders zu helfen wusste, sprach er mit ihr, in der Hoffnung sie würde ihn hören.

 

„Dalila, hör mir zu. Du darfst nicht aufgeben! Das alles war… Das war nur… Ein unglückliches Zusammenspiel von Zufällen. Dich trifft keinerlei Schuld!“, beschwichtigte er sie mit aufgeregt zitternder Stimme, da er spüren konnte, wie schlecht es um das junge Mädchen stand.

 

„Hab keine Angst mehr.

Du bist Zuhause und in Sicherheit. Hier kann keiner rein. Deinen Peiniger habe ich dem Erdboden gleichgemacht. Dir wird nie wieder jemand jemals so wehtun können, denn ab sofort bleibe ich immer an deiner Seite“, versprach er ihr mit flüsternder Stimme. Jo nahm die Schüssel von der Kommode und platzierte sie auf seinem Schoß. Dann tauchte er den großporigen Schwamm in das kühle Nass und wrang das überschüssige Wasser aus. Anschließend wischte er den Schweiß ab, der wie kleinste Salzkristalle auf ihrer Stirn glitzerte. Als er fertig war, stellte er die Schüssel samt Schwamm wieder ab und suchte in der Kommode nach einer Haarbürste. Er wagte nämlich zu bezweifeln, dass Dalila darüber erfreut wäre, wenn sie mit einem verfilzten Haarteppich auf ihrem Kopf erwachte, der dem Zottelfell eines peruanischen Lamas glich.

Andächtig bürstete er Strähne für Strähne, bis ihr Haar wieder glänzte und samtweich geworden war. Dabei ließ er sich bewusst Zeit, denn umso mehr er sich um seine Patientin kümmerte und Körperkontakt mit ihr pflegte, desto wohler schien sie sich zu fühlen. In ihrem friedlichen Dauerschlummerzustand wirkte Dalila wie eine Protagonistin aus einem Märchen. Wie das schlafende Dornröschen, dessen Fluch nur durch den Kuss wahrer Liebe aufgehoben werden konnte.

Für einen kurzen Moment ließ sich Jo sogar dazu hinreißen, einen Versuch zu wagen. Vielleicht war er zum Prinzen auserkoren, dessen zarte Lippen den Bann brechen konnten. Also beugte er sich über die schlafende Prinzessin und betrachtete ihr Gesicht. Bei jedem Atemzug den sie tat, blähten sich die Nasenflügel ihrer Stupsnase leicht auf. Die Luft die sie ausatmete, war warm und roch nach Zuversicht. Voller Optimismus wollte er sein Vorhaben in die Tat umsetzen, doch dann hielt er inne. Blass leuchtete ihm der Mund seiner holden Maid entgegen, wie die zarte Blüte einer

Anemonen-Waldrebe. Plötzlich zuckten Dalilas Mundwinkel. Völlig überrascht rang Jo nach Luft und wartete, ob sich noch etwas bei ihr tat. Jedoch blieb alles ansonsten weiterhin unverändert. Nichts deutete darauf hin, dass das Halbblut jede Sekunde die Augen öffnen würde. Scheinbar waren es nur unwillkürliche Muskelkontraktionen, die den Schein erweckten, dass der Teenager endlich erwachen würde. Ein grausamer Hoffnungsschimmer, der sogleich in Trostlosigkeit umschlug Dieser Vorfall genügte, um dem Fay den Wind aus den Flügeln zu nehmen. Mit einem Mal war jeglicher Optimismus wie weggeblasen.

Was wäre, wenn sein Kuss sie nicht aufwecken könnte? Nachdenklich neigte er seinen Kopf zur Seite, und fuhr mit seinem Finger vorsichtig die Konturen ihrer Lippen nach. Der Amorbogen war besonders stark betont und hatte eine schwungvolle Linienführung. Sinnlichkeit pur. Er konnte es nicht tun. Jo seufzte resignierend und ließ den Gedanken, seine Patin mit einem Kuss erretten zu können, fallen. Gerade, als sich der Fay wieder zurücklehnen wollte, geschah etwas, das ihn in hellste Aufregung versetzte.

 

„Jo! Jo… Jo, hilf mir!“, winselte Dalila voller Verzweiflung mit brüchiger Stimme. Für den Bruchteil einer Sekunde war der Fay wie gelähmt. Ihm stockte der Atem. Der Hilferuf hallte in Jos Kopf nach, als ob eine Schallplatte unablässig abgespielt wurde. Doch dann besann er sich, ergriff Dalilas schlaffe Hand und presste sie an seine Brust, damit sie seinen Herzschlag spüren konnte.

 

„Oh meine geliebte Dalila! Ich bin hier… Ich bin doch hier. Folge meiner Stimme!“ Unentwegt redete er auf das Mädchen ein und hoffte, dass sie mit seiner Hilfe einen Ausweg aus ihrem inneren Irrgarten finden würde.

 

*****

 

„Wo bin ich?“, fragte Dalila in das schwarze Nichts, das sie umgab.

 

„Du bist in dir“, erwiderte eine markante Stimme, die sie sofort erkannte. Es war die von Makusch, ihrem Seelenwächter.

 

„Wie meinst du das?“, fragte sie verwirrt. Es war derartig finster, dass sie ein Gefühl der Substanzlosigkeit überkam. Als ob sie aus keinem physischen Körper mehr bestünde, sondern nur noch eine haltlose Stimme war, die bald von der Dunkelheit verschluckt werden würde, bis alles, was sie je ausgemacht hatte, verschwand und Teil der Unendlichkeit geworden war.

 

„Kannst du dich daran erinnern, was bei deinem Spaziergang im Wald alles geschehen ist?“, wollte er wissen.

 

„Ja. Es war schön dort. Die Luft roch gut und ich konnte für eine Weile all meine Sorgen vergessen“, entsann sie sich.

 

„Sehr gut. Und was ist noch passiert?“

 

„Ich… Ich weiß es nicht mehr.“

 

„Streng dich an! Du weißt es. Doch du willst dich nicht mehr daran erinnern, aber du musst!“, drängte ihr Seelentier mit gebieterischem Tonfall.

 

„Ich… Ich traf diesen alten Mann… Er war kein… Kein Mensch!“ erwiderte sie betrübt, als die Erinnerung an den Vorfall zurück in ihr Bewusstsein drang.

 

„Es war ein dunkles Schattenwesen, das mich mitnehmen wollte“, fuhr sie fort.

 

„Und was hast du dann getan?“, fragte Makusch weiter.

 

„Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht kampflos aufgeben und den Schwarzblütern niemals dienen würde“, erzählte sie weiter. Vor ihrem geistigen Auge spielte sich ein brutaler Film ab, in dem sie die Hauptrolle hatte.

 

„Es war so schrecklich! Weshalb erinnerst du mich daran?“, jammerte sie weinerlich.

 

„Damit dir klar wird, welch Größe zu besitzt und wie stark du bist“, erwiderte er knapp.

 

„Ich und stark? Hast du etwa vergessen was passiert ist? Ich konnte dem Schwarzblüter nicht einmal einen Kratzer beibringen!“, entrüstete sie sich.

 

„Das Monstrum hat mich wie eine Marionette, nach seinem Willen tanzen lassen, und mir fürchterliche Dinge angetan. Ich war alles andere als stark.“ Dalilas Stimme wurde zum Ende hin immer schwächer. Enttäuscht über ihre eigene Hilflosigkeit, trieb sie ziellos in der Finsternis umher.

 

„Oh doch, du warst stark. Sehr sogar!

Obwohl das Untier dich nach allen Regeln der Folterkunst malträtiert hat, konnte es trotzdem deinen Willen nicht brechen. Und das, meine liebe Dalila, zeugt von einer ungeheuren Stärke.

Wenn der Wille nicht gebrochen werden kann, besitzt man eine unerschöpfliche Quelle an Macht. Die hast du, mein Kind. Du hast die Macht in dir!“ Dalila horchte auf. Etwas in ihr begann sich zu regen. Etwas wollte aus ihr herausbrechen. Wie ein Küken, das mit aller Macht mit seinem Eizahn gegen die Schale drückt, bis diese aufgrund der Spannung nachgab und aufsprang. Doch die verschlingende Finsternis ließ sie nicht los. Die Dunkelheit wollte ihr nicht erlauben, sich von ihr zu entsagen.

 

„Ja… Vielleicht hast du recht, Makusch. Doch jetzt ist es zu spät“, antwortete das Mädchen kapitulierend.

 

„Zu spät? Weshalb glaubst du, dass es zu spät ist?“, fragte die dunkle Stimme verwundert.

 

„Na weil ich tot bin! Was bringt mir denn all die Macht, jetzt wo ich mein Dasein im Jenseits friste?“, meinte sie geknickt und tauchte tiefer in die Finsternis ein.

 

„Du hast mir wohl nicht richtig zugehört, mein Kind. Du bist nicht tot, sondern du bist in dir. Sobald du verstanden hast, was mit dir passiert ist und du endlich einsiehst, dass du ein machtvolles Halbblut bist, kannst du wieder gehen. Dann bist du wieder frei!“, erklärte ihr Kater voller Zuversicht.

 

„Aber was genau ist das für ein Ort, an dem ich bin?“

 

„Das, meine liebes Kind, ist deine Seele!“ Schwarz. Alles was Dalila erkennen konnte, war pechschwarz.

 

„Na toll. Meine Seele ist also rabenschwarz!“, zeterte sie.

 

„Die Dunkelheit hast du selbst herbeigeführt und nur du kannst wieder Licht ins Dunkle bringen. Durch deine Entscheidung, dem Schattenwesen nichts von dir zu geben, hast du mehr Macht demonstriert, als ein Schwarzblüter es je könnte!“ Der respektvolle Klang in Makuschs Stimme vermochte es, dem Teenager ein wenig Stolz einzubläuen.

 

„Stimmt, du hast recht!

Der schwarze Fay hat wirklich nichts von mir bekommen. Im Gegenteil. Er hat sogar sein Black-Ignis an mir verschwendet. Egal wie sehr er mich verletzt und gedemütigt hat, ich bin dennoch stark geblieben.

Ich bin stark, Makusch. Ich bin, stark! Ich bin stark!“, gestand sie sich endlich jauchzend ein. Dalilas zartes Stimmchen schwoll zu einem lauten Befreiungsschrei an. Das Wichtigste war jedoch, dass sie jedes Wort selbst glaubte und mit solch einer Überzeugung und Inbrunst wiedergab, dass diese wie Geschosse wirkten und auf die Dunkelheit abzielten. Plötzlich zersprang die Finsternis in tausende und abertausende schwarze Spiegelscherben. Warmes Licht durchflutete Dalilas Seele und ließ sie wieder sehen. Wie um das, was ihre Augen sahen zu bekräftigen, taste sie ihren Körper ab, um sicherzugehen, dass sie wirklich sie war.

 

„Keine Verletzungen, keine Schmerzen. Nichts. Wie kann das sein?“, wollte sie wissen und sah sich nach dem feuerroten Fellhaufen um. Doch wieder einmal bevorzugte es der Kater, sich nicht blicken zu lassen.

 

„Das ist das Werk von Daphne und Jo. Sie haben dich gemeinsam geheilt. Zusätzlich hat Jo all

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 25.12.2013
ISBN: 978-3-7309-7156-7

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
- Den Mutigen gehört die Welt -

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