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P R O L O G

Chaya ließ ihren Blick traurig über die Ruinen Astarias schweifen. Wegen des Krieges hatten bereits unzählige Fay, die der Krone treu ergeben waren, ihr Leben lassen müssen. Wenn sie nicht bald zu einem Gegenschlag ausholen würde, würde Edrell endgültig die Macht an sich reißen – und dies durfte unter gar keinen Umständen geschehen, denn die Dunkelheit durfte nicht siegen.

 

Die Faykönigin sah nur noch einen Ausweg. Es war der einzig mögliche Schachzug, um für alle Beteiligten des Krieges, Gut und Böse, ein abruptes Ende der Schlacht herbeizuführen, zugunsten derer, die sich nicht der Dunkelheit zugewandt hatten.

So sah sie sich gezwungen, ein noch nie dagewesenes Exempel zu statuieren. Chaya opferte ihr eigenes Leben und verbannte somit die dunklen Schattenwesen aus ihrem Königreich, um das übrig gebliebene Volk der Fay zu retten.

 

Als ihr bewusst wurde, was dies für sie zu bedeuten hatte, weinte sie aus tiefstem Kummer eine einzige Träne, die, sobald sie den Boden berührte, versteinerte.

 

„Ich, Chaya, eure Königin, werde in tausend Jahren wieder erwachen, und zwar als Seele eines Halbblutes. Die Träne wird euch den Weg weisen.
Gebt acht, meine treuen Faykinder. Findet mich, bevor es der dunkle Lord tut. Nur so wird das Königreich wieder in vollem Glanz erstrahlen können!“

 

Mit diesen Worten verabschiedete sich Chaya von ihrem geliebten Volk. Sie konzentrierte all ihre Macht und verbannte sämtliche Schattenwesen aus dem Königreich. Mit einem riesigen Feuerball aus geballter Green-Ignis, der sich in einer gewaltigen Lichtexplosion entlud, fegte sie das Böse hinfort, als wären die Schwarzblüter nichts weiter als Sandkörner gewesen.

 

 

Seit jeher sind die Fay auf der Suche, das eine Halbblut zu finden, das ihr Volk zu neuem Glanz führen wird. Die weißen Fay und ebenso ihre abtrünnigen Brüder und Schwestern, die schwarzen Fay.

 

*****

V O R W O R T

Als kleines Kind gibt es nichts Schöneres oder gar Mächtigeres als die Fantasie. Unbekümmert glaubt man an die Wesen, die man aus den Märchenbüchern kennt. Man träumt von ihnen und meint, sie unter einem Stein, oder versteckt hinter einer Blume sehen zu können. Niemand nimmt einem diesen unerschütterlichen Glauben, solange man ein Kind ist.

Doch dann, eines Tages, wird man erwachsen und muss der harten Realität ins Auge blicken. Man muss seinen Glauben aufgeben. Die Wesen, die einst in deiner Fantasie gelebt haben, sterben mit dem letzten Atemzug, mit dem allerletzten Gedanken deiner Kindheit.


Aber was ist, wenn die Wesen trotz allem in einer anderen Welt weiterleben, ohne dass du an sie glaubst?


Was ist, wenn sie um ihre Existenz kämpfen müssen, ohne dass du davon weißt?

Was ist, wenn dein Glaube sie retten könnte?


Manchmal muss man tief in sich hinein horchen und den kleinen Stimmen eine Chance geben, gehört zu werden.
Manchmal muss man an Dinge glauben, die man nicht wahrhaben will.
Manchmal muss man mutig sein, denn nur so kann man großartige Dinge erreichen.

 

Den Mutigen gehört die Welt!

 

*****

1) Im Krankenhaus

„Sie steht noch unter Schock…“

 

„Es ist ein Wunder, dass sie kaum Verletzungen davongetragen und diesen Unfall auch noch überlebt hat!
Wenn man bedenkt, dass das Auto ein einziger Blechhaufen war, stand ihr wohl mehr als ein Schutzengel zur Seite!“

 

„Die Rettungskräfte rätseln noch immer darüber, wie sie es aus dem Wrack geschafft haben könnte.“

 

„Armes Ding. Sie sieht so blass und zerbrechlich aus.
Wie sie es wohl verkraften wird, jetzt wo sie alleine ist?“

 

„Ihr Puls ist normal. Sie wird aufwachen, wenn sie so weit ist.“

 

Die scheinbar schlafende Patientin vernahm die besorgten Stimmen, ahnte jedoch nicht, was deren Worte zu bedeuten hatten.

Einzig der seltsame Schmerz, der ihren Körper durchzuckte, von dem sie nicht wusste, woher er stammte, lenkte sie von dem seichten Gerede der beiden Frauen ab. Sämtliche Knochen taten ihr weh, als ob man sie durch den Fleischwolf gedreht hätte. Sie versuchte, ihre Augen zu öffnen, doch es gelang ihr nicht. Selbst Arme und Beine vermochte sie nicht zu bewegen. An Sprechen war gar nicht erst zu denken, denn ihre Stimme schien ebenfalls versagt zu haben. Ihre Kehle war so rau und trocken, dass beim ersten Zungenschlag dieselbige unschön am Gaumen haften blieb und ein unangenehmes Kratzen verursachte.

 

Der Teenager konnte spüren, dass etwas nicht stimmte. Aus der Härte der Matratze konnte sie schlussfolgern, dass sie nicht in ihrem eigenen weichen Bett lag. Selbst der Geruch war ihr fremd. Dank der viel zu leichten Zudecke war ihr die Kälte so sehr in die Knochen gefahren, dass sie fröstelte. Jedoch fehlte es ihr an jeglicher Kraft, sich irgendwie bemerkbar zu machen. Doch wie sehr sie sich auch anstrengte, ihr Körper wollte einfach nicht auf die Befehle ihres Geistes hören.

Unter ihren Fingerspitzen ertastete sie den rauen Stoff eines Lakens.

Aufgrund der äußeren Gegebenheiten und ihres körperlichen Missbefindens konnte sie folgendes Urteil bilden: Sie musste sich in Schwierigkeiten gebracht haben, denn anders waren die wenigen Fakten, die sie in ihrem handlungsunfähigen Zustand zusammentragen konnte, nicht zu erklären gewesen. Weder wusste sie, was ihr zugestoßen war, noch konnte sie erraten, wo sie sich befand. Und von ihren Eltern fehlte ebenfalls jede Spur.

 

Das Mädchen war kurz davor gewesen, des Rätsels Lösung vorerst auf sich beruhen zu lassen. Zumindest solange, bis sie wieder bei Kräften war, doch dann wehte ihr ein leichter Luftzug den Duft von Desinfektionsmittel und Latexhandschuhen in die Nase. Eine Duftmischung, die sie schon einmal gerochen hatte. Es war der typische Krankenhausgeruch, der sich ihr eingeprägt hatte. Sie erkannte die eigentümliche Duftmischung von einem Vorfall, der weit in ihrer Kindheit zurücklag.

Denn als sie als kleines Kind Fahrradfahren gelernt hatte, war sie dabei einmal so ungünstig gestürzt, dass sie sich beim Aufprall den Unterarm gebrochen hatte. Jener Unfall verschaffte ihr damals einen Kurzaufenthalt im Krankenhaus. Ein einschneidendes Erlebnis, das sich bis heute in ihren Gehirnwindungen eingeprägt hatte. Daher war ihr auch der medizinische Geruch bekannt, der in Krankenhäusern nun mal in der Luft lag.

 

Von diesem Moment an begann sie, sich Sorgen zu machen. Angestrengt durchforstete sie die letzten Erinnerungen, die sie hatte, bevor sie sich in diesem unbeweglichen und schmerzvollen Zustand wiederfand.

Verschwommene Bruchstücke blitzten auf. Das Gesicht ihres Vaters und das ihrer Mutter. Kindheitserinnerungen von Spieleabenden. Jedoch lagen diese schon so lange zurück, dass sie alles andere als aktuell waren. Darunter befand sich allerdings nichts, was ihr dabei hätte weiterhelfen können, sich ihre momentane Situation zu erklären. Krampfhaft versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen, kam jedoch auf keinen grünen Zweig. Die Schmerzen, die sie hatte, mussten zumindest der Grund für ihren Krankenhausaufenthalt sein. Was der Auslöser dafür sein konnte, war ihr hingegen schleierhaft. Unfreiwillig gefangen in vier weißen und anonymen Wänden, die jedes Ereignis wie stumme Zeugen hinnahmen. 

*****

 

Zwei Krankenschwestern betraten zwischenzeitlich erneut das Zimmer, um nach ihrer Patientin zu sehen. Eine legte die Hand auf die Stirn des Mädchens.

„Fieber hat sie keines mehr, doch sie scheint etwas unterkühlt zu sein. Ich drehe das Thermostat hoch, damit es im Zimmer etwas wärmer wird.“

 

„Was für eine tragische Geschichte. Jetzt ist sie gerade erst volljährig geworden und muss ihr Leben von nun an alleine bestreiten. Noch so jung und schon eine Vollwaise. Da muss sie schnell erwachsen werden, um sich in der rauen Welt zurechtzufinden“, meinte eine der Schwestern mitleidig.

 

Dem Mädchen war noch immer schleierhaft, weswegen die Krankenschwestern davon sprachen, dass sie alleine sein sollte.

 

Konnte es sein, dass schlichtweg eine Verwechslung vorlag?

 

Darüber wollte sie sich später den Kopf zerbrechen. Momentan war sie müde und wollte nur noch schlafen, um ihre Kräfte zu sammeln, damit sie schleunigst wieder nach Hause konnte.

                                                                    

*****

                                                                     

Nicht nur in der Wirklichkeit, sondern auch in den Träumen des Mädchens herrschte das totale Chaos. Sonst hatte sie meist schöne Träume, die von ihrem Lieblingshobby, dem Schwimmen, handelten. In diesen nächtlichen Stunden träumte sie jedoch nicht vom geliebten kühlen Nass, sondern von ihren Eltern. Es war ein unruhiger Schlaf, der sie sich trotz ihrer Schmerzen aufgewühlt im Bett umherwälzen ließ.

In ihrem Traumbewusstsein spielte sich ein beklemmendes Szenario ab, in dem sie trotz intensivster Anstrengungen nur auf der Stelle trat und hilflos mit ansehen musste, wie sich das was sie erreichen wollte, immer weiter von ihr entfernte. So kam es, dass sich der Teenager in die Geborgenheit einer elterlichen Umarmung flüchten wollte, doch so schnell sie auch rannte, ihre Mutter und ihr Vater entfernten sich immer mehr von ihrem Standort. Jede Bewegung war mühsamer als die vorige, denn ihre Beine wurden schwer wie Blei, wodurch sie keinen einzigen Schritt vorwärtskommen konnte. Sogar ihre bettelnden Rufe, Mama und Papa mochten doch auf sie warten, blieben wirkungslos. Beide standen nach wie vor mit dem Rücken zu ihrer Tochter und schenkten ihr keinerlei Beachtung.
Dann kam urplötzlich ein kräftiger Windstoß auf, der Unmengen an schwarzen Rabenfedern mit sich brachte. Die umherwirbelnden Federn verdichteten sich immer mehr zu einem undurchsichtigen Schleier, bis ihre Eltern endgültig hinter einem schwarz schimmernden Vorhang verschwunden waren. Übrig blieb die bedrückende Stille, die dem Mädchen zugleich ihre trostlose Einsamkeit bewusst machte.

 

Ein erneuter Szenenwechsel manövrierte den verängstigten Teenager in einen schier endlosen Gang, welchen sie langsam abschritt. Dabei überkam sie immerzu das Gefühl, einen Verfolger im Nacken sitzen zu haben. Jedes Mal, wenn sie stehen blieb, um sich umzusehen, war dort jedoch niemand vorzufinden. Als sie nun zaghaft fragend in die unendliche Leere rief, ob noch jemand da sei, erhielt sie bloß ihr Echo zur Antwort.

Kaum war der Widerhall ihrer Stimme abgeebbt, veränderten sich mit einem dröhnenden Donner, der einem epischen Paukenschlag eines monumentalen Orchesters glich, die ohnehin schon seichten Lichtverhältnisse. Zwischen zwei Herzschlägen wurde es zappenduster und dicke, schwarze Gewitterwolken zogen ohne jede Vorwarnung auf. Gleichzeitig mit den grellen Blitzen, die aus den aufgebauschten Unwetterboten herniederzuckten, erschienen schattenhafte Wesen mit dämonisch rot leuchtenden Augen. Sie umzingelten die Träumende und grapschten gierig nach ihr. Kurz bevor es einem der Schatten beinahe gelungen wäre, das Mädchen zu ergreifen, bahnte sich ein Lichtquell den Weg durch die tief dunkelblaue Gewitterfront. Das Licht bündelte sich zu einem breiten Kegel, der jeden Schatten vom Himmel herab erfasste und diesen letztendlich in der glühenden Hitze dematerialisierte. Stille.

   Als sich das Mädchen verstört umsah, fand sie sich vor dem roten Familien-Van wieder. Die Karosserie sah ziemlich mitgenommen aus. Der Lack war zerkratzt und mit tiefen Furchen und Beulen versehen. Selbst die Fensterscheiben waren zersprungen. Kleinste Glassplitter übersäten den Boden und funkelten im Licht wie ein Teppich aus Diamanten.  Dem ersten Eindruck nach zu urteilen, konnte man von einem Totalschaden ausgehen.

Gerade noch den Van betrachtet, stand sie da auch schon als alleiniger Badegast barfuß am Beckenrand des Schwimmbades, in dem sie sonst gemächlich ihre Bahnen zog.
Das Wasser war in solch ein dunkles Blau gefärbt, dass man den Boden nicht mehr erkennen konnte. Die Wasseroberfläche war unruhig wie auf offener See. Es schlug Wellen und schäumte dort, wo sie sich am Beckenrand brachen. Auf der gegenüberliegenden Seite sah der Teenager ein Mädchen. Bei genauer Betrachtung sah dieses aus wie spiegelgleiches Abbild von ihr – ein Zwilling.

Die Doppelgängerin positionierte sich am Rande des Beckens und warf ihr einen merkwürdig leeren Blick zu, bevor sie sich mit den Füßen energisch abstieß, schwungvoll ins Wasser hechtete und in den aufgepeitschten Wellen untertauchte. Fassungslos eilte sie zur Absprungstelle und versuchte, ihren Zwilling in dem tosenden Gewässer ausfindig zu machen. Während sie sorgsam den Beckenrand ablief, musste sie immer wieder den Wellen ausweichen, die versuchten, sie mit sich in die Tiefe zu reißen. Die Doppelgängerin tauchte jedoch nicht mehr auf.

Wie auf ein Zeichen hin ebbten die Wogen ab und das Wasser wurde wieder klar. Vorsichtig näherte sich das Mädchen dem Beckenrand, gefasst darauf, womöglich sogleich ihren leblosen Klon im Wasser treiben zu sehen. Doch das Schwimmbecken war wider Erwarten leer.
Da ertönte völlig unvermittelt eine verzerrte Stimme, die in ihren Ohren dröhnte.


  
„Du kannst uns nicht entkommen, denn der dunkle Lord wird kommen, um dich zu holen!“ Die Worte wurden ohne Ablass wiederholt und hallten von den Fliesen zurück. Es klang so, als ob es mehrere Stimmen waren, die die bedrohlichen Worte wie eine Parole von sich gaben. Da bekam das Mädchen es mit der Angst zu tun und rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn zu den Duschräumen. Nur unter großer Kraftanwendung ließ sich die Tür öffnen. Mit einem Ruck gab sie nach.

*****


   Schweißgebadet erwachte die Patientin aus dem Tiefschlaf. Schwer atmend fuhr sie hoch und krallte sich völlig verstört an ihrer Bettdecke fest. Auf ihrer Zunge lag noch der bittere Nachgeschmack der alpbtraumhaften Bildfolgen. Es dauerte eine kurze Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie sich bewusst wurde, dass sie nicht zu Hause in ihrem eigenen Bett lag.

Es strengte sie unheimlich an, in der Finsternis etwas zu erkennen, denn starke Kopfschmerzen vernebelten ihre ohnehin schon erschwerten Sichtmöglichkeiten.

Vom Fenster aus warf der Mond sein blasses Licht herein und tauchte die karge Einrichtung in einen fahlen Schein, wodurch das funktional einfach gehaltene Mobiliar seltsam bizarr wirkte. Vorsichtig führte das Mädchen die Hände an ihre pochenden Schläfen und versuchte, mit leichtem Druck den Kopfschmerzen entgegenzuwirken. Dabei bemerkte sie ein unangenehmes Ziehen an einem ihrer Handrücken. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie eine lange silberne Nadel, die unter ihrer dünnen Haut steckte. An ihr war eine Kanüle angebracht, die in einen dünnen durchsichtigen Schlauch überging. Dieser wiederum führte zu einem Beutel mit Kochsalzlösung. Ihr Zustand musste wohl schlimmer sein, als sie selbst vermutet hatte, wenn man sie an den Tropf hängen musste.

 

Nun sah sie auch die Schürfwunden und Kratzer zusammen mit unzähligen Blessuren, blauen Flecken und schmerzhaften Blutergüssen, die ihren Körper großflächig überzogen. Mit einem Seufzer gab sie sich der Ratlosigkeit hin und resignierte. Frühestens bei der nächsten Visite würde sie eine der Schwestern bitten können, sie über ihren Zustand aufzuklären. Bis dahin musste sie sich gedulden und den kommenden Morgen abwarten.

 

*****

 

Am nächsten Tag erwachte der noch ahnungslose Teenager vom frühmorgendlichen Getümmel auf den Fluren. Die Krankenschwestern gingen ihrer Morgenvisite nach und arbeiteten sich von Zimmer zu Zimmer vor, um die Patienten darin zu wecken. Die Pflegerinnen kamen immer näher.

Das Mädchen wusste nicht, woher es kam, doch plötzlich machte sich ein ungutes Gefühl in ihrer Magengrube breit. Da erklang auch schon das obligatorische Klopfen an der Zimmertür. Eine Krankenschwester trat ein und erschrak im ersten Moment beim Anblick der erwachten Patientin, die sich seit dem Tag ihrer Einlieferung im Dauerschlaf befunden hatte. Im Bruchteil einer Sekunde setzte sie all ihre gesamte Gesichtsmuskulatur ein, um ihre verblüffte Miene gegen ein professionelles Lächeln auszutauschen, mit dem sie ihre Patientin freundlich zu begrüßen wusste.

 

„Na endlich bist du wieder wach, Dalila! Wir hatten uns schon Sorgen um dich gemacht“, sagte sie in einem übertrieben süßlichen Tonfall. Dalila war nicht nach Small-Talk. Sie wollte nur noch ihre Eltern sehen und in Erfahrung bringen, was in den vergangen Tagen mit ihr geschehen war.

 

„Können Sie bitte meine Eltern rufen? Ich würde sie gerne sehen“, bat Dalila. Das Lächeln der Schwester versteinerte. Mit starrem Blick sah sie das blonde Mädchen an. Dabei schluckte sie mehrmals, wodurch ihr Kehlkopf nervös zuckte. Der besorgte Gesichtsausdruck behagte dem Mädchen ganz und gar nicht.

 

„Würden Sie bitte meine Eltern informieren, dass ich jetzt wach bin!“, forderte sie nun die Krankenschwester mit Nachdruck auf, als diese auf die erste Bitte hin nicht zu reagieren schien. Sie blieb ihr jedoch weiterhin eine Antwort schuldig. Betreten prüfte sie Dalilas Puls und entfernte die Nadel aus ihrem Handrücken.

Anschließend notierte sie etwas auf einem Klemmbrett und machte sich daran, die Patientin schleunigst wieder zu verlassen.

 

„Wo sind meine Eltern? Wieso antworten Sie mir nicht?“, rief Dalila ihr abermals fragend nach. Während die Pflegerin ihren Rückzug antrat und ihr den breiten Rücken zuwandte, prallten die bohrenden Fragen des Mädchens an deren Hinterkopf ab. Dalila war zum Heulen zumute. Das flaue Gefühl in ihrer Magengrube ging in Angst über und schlug dann in Panik um. Ihr Herz klopfte so wild, dass sie befürchtete, es könnte ihr aus der Brust springen.

 

„Bitte antworten Sie mir doch! Bitte! Ich bitte Sie inständig mir zu sagen, wo meine Eltern sind!“, flehte sie sie mit zittriger Stimme an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Der Krankenschwester war anzusehen, dass etwas nicht stimmte. Doch selbst die Nummer mit den stark beanspruchten Tränendrüsen erweichten diese nicht, und das sogar, obwohl es echt Tränen der Verzweiflung, der Unwissenheit und der Angst waren.

Ihre einzige Äußerung zu dem Thema war, dass der Doktor demnächst nach ihr sehen würde. Noch bevor Dalila weitere unangenehme Fragen hätte stellen können, zog die Weißrockträgerin prompt die Tür hinter sich ins Schloss.

Dem Mädchen zog sich der Magen zusammen. Sie holte mehrmals tief Luft und versuchte, die hochkommende Übelkeit zu unterdrücken. Doch der bittere Geschmack der Magensäure lag bereits auf ihrer Zunge. Ihr wurde schlagartig klar, dass dies die Worte waren, die man immer zu hören bekam, wenn man im Nachhinein eine schlechte Nachricht erhielt. Wie in einer Daily-Soap wurde sie von der unbedeutenden Krankenschwester vertröstet, bis der Chefarzt die Kulisse betrat, um die verheerende Nachricht zu verkünden.

 

Dalila versuchte, die negativen Gedanken aus ihrem Kopf zu verscheuchen. Ihre Finger gruben sich in die Bettdecke und verkrampften sich. Es fiel ihr schwer zu atmen, denn vor lauter Angst schnürte sich ihre Kehle zu. Hätte sie etwas im Magen gehabt, wäre dies nun der Moment gewesen, in dem sie sich erbrochen hätte. Stattdessen würgte und hustete sie bloß und war froh, dass es erst gar nicht so weit kam.
Um nicht völlig durchzudrehen, legte sie ihren Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sie zwang sich, ruhig zu atmen, um wieder klar denken zu können. Das nüchterne Licht der grellen Deckenbeleuchtung schimmerte durch ihre geschlossenen Lider hindurch. Es war fast so, als ob die Sonne ihr Gesicht beschien. Jedoch fehlte die angenehme Wärme der Sonnenstrahlen. Das Neonlicht war einfach nur kalt und hatte keinerlei positive Wirkung auf ihr Gemüt.

Langsam entspannten sich ihre Muskeln. Sie ließ ihren Kopf und ihre Schultern hängen und lauschte ihrem Herzschlag. Der gleichmäßige Rhythmus ihres pochenden Herzens vermochte es, ihr ein wenig die Angst vor dem bevorstehenden Besuch des Arztes zu nehmen.

Gerade als Dalila das Gefühl hatte, ihre wirren Gedanken wieder unter Kontrolle zu bekommen, vernahm sie tuschelnde Stimmen vor der Tür. Eine davon kam ihr bekannt vor. Es war die brüchige Stimme von Abigale Woods. Sie war eine verwitwete, in die Jahre gekommene Frau, die neben ihrem Elternhaus wohnte. Ihre Familie und sie standen sich nahe und hatten ein gutes Verhältnis zueinander. Die alte Dame hatte in ihrer Kindheit oft als Babysitter und Großmutterersatz fungiert.

 

Abigale war eine gute Seele die immer zur Stelle war, wenn man ihre Hilfe benötigte. Wenn Dalila und ihre Eltern im Urlaub waren, hütete sie ihr Haus. Sie kümmerte sich um die Blumen und holte die Post, bis sie wieder zurück waren.
Ihr Ehemann, Rudolph Woods, war schon in frühen Jahren durch einen tragischen Arbeitsunfall gestorben. Gemeinsame Kinder hatten sie keine.

So war Abigale stets froh darüber, wenn sie etwas tun konnte und nicht völlig in Vergessenheit geriet.
Für Dalila war sie wie eine Großmutter, die sie nie hatte. Oft erzählte sie ihr Geschichten aus früheren Zeiten, die von Liebe, Tugendhaftigkeit und adretten Männern handelten, von denen es heutzutage kaum noch welche gab. Als junges Mädchen hatte sie es geliebt, in ihrer Fantasie in dieser glamourösen Zeit zu schwelgen. So sehr ihr das Großmütterchen auch ans Herz gewachsen war, sie war nicht die Person, die sie im Moment sehen wollte.

 

Warum schickten ihre Eltern eine Person, mit der sie nicht blutsverwandt waren, statt selbst zu erscheinen?

 

Natürlich hätte Dalila nichts dagegen gehabt, wenn vor der Tür ihre echte Großmutter auf sie warten würde, doch dies blieb nur ein unerfüllter Wunschgedanke.
Schon vor Jahren hatte ihre Mutter den Kontakt mit ihr abgebrochen, da sie beide eine unterschiedliche Weltauffassung hatten.
Dalilas Mutter war eine starke und selbstbewusste Frau, die alles im Leben eher rational betrachtete. Sie war ein Vernunftmensch. Ihre Großmutter hingegen war das genaue Gegenteil davon. Für sie war die Fantasie ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Sie glaubte an Trolle, Feen und an all die anderen Märchengestallten, von denen man in Büchern lesen konnte.
Alles, was Dalilas Mutter sie hatte wissen lassen, war, dass es zwischen ihr und ihrer Großmutter zu einem heftigen Streit gekommen war. Es war kurz vor ihrer Geburt gewesen. Damals war sie von zu Hause ausgezogen und hatte den Kontakt zu ihr vollständig abgebrochen. Es war also gut möglich, dass ihre echte Großmutter gar nicht mehr lebte.

 

Gebannt blickte sie nun auf die Tür und sog den Atem scharf ein, sobald sie sah, wie sich die Reflektion des Lichtes auf der Klinke änderte, da diese langsam herunter gedrückt wurde. Ein älterer Herr mit Halbglatze betrat zuerst den Raum. Sein Haar war bereits stark ergraut. Nur vereinzelt konnte man noch seine nussbraune Naturhaarfarbe durchscheinen sehen. Er hatte tiefe Falten auf der Stirn. Seine Augen wurden von wulstigen Lidern halb bedeckt. Dadurch wirkte sein Blick schläfrig. Dazu hatte er hängende Wangen, die seine Mundwinkel nach unten drückten. Seine Gesichtsfarbe war genauso fahl wie sein ausgewaschenes Hemd. Alles in allem machte er keinen sehr gesunden Eindruck. Den krönenden Abschluss bildeten das Stethoskop, das lässig um seine Schultern baumelte, die beiden glänzenden Kugelschreiber in seiner linken Brusttasche und der weiße Kittel, der ihn von der Robe der Krankenschwestern abhob. Wie sich herausstellte, war er der Chefarzt.

Ihm folgten zwei Pflegerinnen. Beide trugen klobige Gesundheitsschuhe, Strümpfe und einen Rock mit Bluse, worauf in Brusthöhe Namensschilder angebracht waren. Diese waren mit dicken schwarzen Lettern bedruckt. Ihre gesamte Bekleidung war in sterilem Weiß gehalten.

 

Eine der beiden Krankenschwestern kannte Dalila bereits von der Visite. Sie hatte ihr zuvor eingefrorenes Lächeln gegen eine ausdruckslose Miene eingetauscht. Ihr Blick war abwesend. Die andere Schwester wirkte unruhig, denn sie konnte ihre Hände nicht still halten. Andauernd fummelte sie an ihrer Kleidung herum und strich sich die Haare hinters Ohr.

Zuletzt betrat die zerbrechliche Abigale Woods das Zimmer. Sie ging direkt auf ihre Ziehenkelin zu, die aufrecht im Bett saß, und tätschelte ihr zur Begrüßung den Rücken. Die Anderen stellten sich am Fußende auf. Dalila war froh, endlich ein vertrautes Gesicht zu erblicken, und rang sich ein zurückhaltendes Lächeln ab.

Als der Arzt sich räusperte und seine Unterlagen für einen Moment durchsah, ergriff die alte Dame ihre Hand und drückte sie an ihre Brust. Während der ganzen Zeit ließ sie diese nicht mehr los. Ihre Handinnenseite fühlte sich kühl und feucht an. Der Blick der alten Woods war voller Schmerz. Sie schien etwas sagen zu wollen, denn sie schnappte nach Luft. Ihre Lippen zitterten leicht bei dem Versuch, Worte zu formen. Doch sie schien nicht die Kraft dazu zu haben, um auszusprechen, was ihr auf der Seele lastete. Dalila betrachtete Abigales faltiges Gesicht und versuchte zu verstehen, weshalb sie so traurig aussah. Als sich ihre Blicke trafen, konnte sie erkennen, dass die alte Frau geweint hatte. Ihre Augen waren gerötet und verquollen. In den feinen Lachfalten glitzerte die von Tränen befeuchtete Haut. Auch in diesem Moment rang sie mit den Tränen und versuchte diese zu unterdrücken. Dalilas Herz fühlte sich mit einem Mal so furchtbar schwer an.

 

„Abigale, was ist denn los?“, fragte sie mit gepresster Stimme. Eigentlich wollte sie die Antwort darauf gar nicht mehr wissen, denn plötzlich spürte sie, wie ihre Erinnerungen der vergangenen Tage sich den Weg zurück in ihr Bewusstsein erkämpften. Sie hatte diese zu ihrem eigenen Schutz verdrängt, denn die letzten Ereignisse waren furchtbar verstörend gewesen.

 

Vor ihrem geistigen Auge erschienen ihre Eltern. Ihr Vater fuhr den Van, ihre Mutter war die Beifahrerin und sie selbst saß auf der Rückbank. Gemeinsam waren sie auf dem Weg zu einer Hütte in den Bergen. Dort wollten sie ihren achtzehnten Geburtstag feiern. Während der Fahrt unterhielten sie sich angeregt und lachten über die Scherze ihres Vaters.

Und plötzlich geriet alles außer Kontrolle. Der rote Van überschlug sich mehrere Male. Dalila musste entsetzt mit ansehen, wie ihre Eltern in der Fahrerkabine, nur noch von den Sicherheitsgurten gehalten, hin- und hergewirbelt wurden. Ihre Körper hingen leblos von der Decke, als der Wagen auf dem Dach zum Stehen kam. In ihrer Erinnerung hörte sie sich selbst hysterisch schreien. Wie eine Verrückte zerrte sie an ihrem Gurt und versuchte, sich zu befreien, um ihren Eltern zur Hilfe zu eilen. Und dann erschien aus dem Nichts ein greller Lichtkegel. Danach riss ihre Erinnerung ab und verschwamm hinter einem milchigen Schleier.

 

Voller Entsetzen starrte Dalila die alte Dame an, die ihr zur Seite stand. Nach und nach setzten sich die Bruchstücke zu einem vollständigen Ereignis zusammen. Eines, das in ihren jungen Jahren nicht tragischer hätte sein können.

Ein klägliches Wimmern erklang aus ihrer Kehle. Sie versuchte es zu unterdrücken, und presste sich eine Hand auf den Mund. Ungläubig schüttelte sie den Kopf, wodurch ihr langes Haar ihr in wirren Strähnen ins Gesicht fiel. Sie wollte es nicht wahrhaben. Ungehalten rannen dicke Tränen über ihre Wangen. Nun konnte auch Abigale ihre Trauer nicht mehr zurückhalten und fing ebenfalls zu schluchzen an. Der Chefarzt räusperte sich erneut und erzählte mit monotoner Stimme, was geschehen war. In seinen Worten lag keinerlei Emotion. Scheinbar überbrachte er während der Laufbahn seiner Karriere regelmäßig Hiobsbotschaften, denn er schien darin geübt zu sein. Wie in einer Tonbandansage ratterte er die wesentlichsten Details herunter, ohne jede Gefühlsbetonung. Dalila war wie betäubt und schnappte nur einzelne Fragmente auf.


    „Ihre Eltern sind bei dem Autounfall ums Leben gekommen… sie waren beide sofort tot… aber wie durch ein Wunder haben Sie mit leichten Verletzungen überlebt.“ Mit bebenden Schultern saß Dalila in ihrem Bett. Schleichend wurde ihr bewusst, dass sie keine Eltern mehr hatte. Zuletzt ließ der Arzt verlauten, dass sie entlassen werden konnte und sich noch einige Gepäckstücke im Schrank befanden, die unversehrt aus dem Autowrack geborgen worden konnten. Anschließend notierte er etwas in seinen Unterlagen, klemmte sich die Mappe unter den Arm und verließ ohne jede Beileidsbekundung das Zimmer. Die Krankenschwestern folgten ihm umgehend.

Erst als sie alleine mit der alten Woods war, ließ Dalila es zu, sich endgültig von ihrem Schmerz überwältigen zu lassen. Sie sackte in sich zusammen und begann bitterlich zu weinen. In ihrer Brust brannte der quälende Verlust ihrer Eltern und fraß sich in ihre Seele. Sie begann zu hyperventilieren und japste nach Luft, während sich ihr ganzer Körper unkontrolliert verkrampfte. Inständig hoffte sie, dass es sich nur um einen weiteren Albtraum handelte und sie jede Sekunde davon erwachen würde. Doch es fühlte sich alles zu real an.

 

Da wurde ihr auf einmal noch etwas bewusst. Sie erinnerte sich wieder daran, wie es überhaupt zu dem Unfall gekommen war. Es war ihre Schuld gewesen. Während der langen Autofahrt war sie eingeschlafen. Wie schon des Öfteren hatte sie in den letzten Tagen vor ihrem Geburtstag seltsame Träume gehabt, aus denen sie meist schreiend erwacht war. Auch dieses Mal schrie sie wieder im Traum. Ihre Eltern drehten sich besorgt nach ihr um. Es waren nur wenige Sekunden gewesen, doch plötzlich erschien wie aus dem Nichts ein Lastwagen. Ihr Vater hatte keine Chance mehr, dem riesigen Stahlblechungetüm auszuweichen.


     Dalila zerrte am Kragen ihres Schlafgewands. Wenn sie es gekonnt hätte, hätte sie sich am liebsten ihr Herz aus der Brust gerissen. Sie wollte nicht mehr weiter leben. Nicht nachdem sie nun erkannt hatte, dass sie den Tod ihrer geliebten Eltern zu verschulden hatte. Sie hatte es nicht verdient, am Leben zu sein, während ihr Vater und ihre Mutter nicht mehr unter den Lebenden verweilen durften. Doch jedes Betteln und Flehen blieb von Gott unerhört. Ihre Strafe war es, am Leben zu sein und sich jeden Tag daran zu erinnern, was sie getan hatte, bis auch sie eines Tage sterben und die Schuld mit ins Grab nehmen würde. Es gab nicht einmal jemanden, den sie um Verzeihung hätte bitten können.

 

Indessen schlug ihre Trauer in Wut um. Sie war wütend auf sich selbst. Während sie weinte, bemerkte sie, dass sie nicht besser war als ihre Großmutter, vor der ihre Mutter einst geflüchtet war. Immer wieder musste sich Dalila von ihr anhören, wie sehr sie ihr in ihrer Denkweise ähnelte. Auch sie hatte ein Faible für Märchen und eine blühende Fantasie. Dalila glaubte zu verstehen, dass es nur sinnvoll war, vor Menschen wie ihr das Weite zu suchen, denn sie brachte letztendlich nur Verderben über diejenigen, die sie liebten.

Ihre Wut steigerte sich zu Selbsthass. Mit ihren Fantastereien war sie ihren Eltern nur ein Klotz am Bein gewesen. Oft hatte sie ihre Mutter ermahnt, nicht die Realität aus den Augen zu verlieren, doch sie hatte nicht auf sie hören wollen. Stattdessen schmökerte sie weiter in alten Märchenbüchern, wovon sie immer häufiger Albträume bekam.

Von diesem Tag an beschloss Dalila, nie wieder an Märchen und all das zu glauben, was dazugehörte. Sie verbot sich, jemals wieder glücklich zu sein, denn sie hatte es nicht verdient. Das war sie ihren Eltern schuldig. Es war das Mindeste, was sie für sie tun konnte.

 

Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht und löste sich aus der Trost spendenden Umarmung von Abigale, denn auch Trost hatte sie nicht verdient.

 

„Wie lange habe ich geschlafen?“, fragte sie die alte Dame mit dünner Stimme.

 

„Genau eine Woche lang“, erwiderte sie und wollte ihr das Haar aus dem Gesicht streichen, doch Dalila wich ihrer liebevollen Berührung aus.

 

„Der Arzt meinte, dass dies eine normale Reaktion des Körpers sei, um sich vor solchen tragischen Erlebnissen zu schützen“, erklärte sie weiter. Dalila begann zu grübeln. Es machte Sinn, denn mitzuerleben, wie die eigenen Eltern starben, war ein einschneidendes Ereignis, das man nur schwer verarbeiten konnte. Somit wurde ihr Geburtstag gleichzeitig zum Todestag, an dem es für sie nichts mehr zum Feiern gab. Mit einem Schlag musste sie die brüchige Hülle ihrer Kindheit abstreifen und erwachsen werden. Noch nie fühlte sie sich den Dingen des Lebens so hilflos ausgeliefert wie zu diesem Zeitpunkt.

 

„Was ist mit der Beerdigung? Was genau muss ich machen, damit sie ein anständiges Begräbnis bekommen?“ Dies waren momentan die wichtigsten Fragen, die ihr im Kopf herumschwirrten. Ihr wurde ganz elend zumute bei dem Gedanken, dass die Körper ihrer toten Eltern in irgendeinem Kühlhaus lagerten und darauf warteten, unter die Erde gebracht zu werden. Die alte Woods konnte sie jedoch beruhigen. Ihre Eltern hatten ihre Nachbarin bereits instruiert, im Falle ihres vorzeitigen Ablebens ihren Notar zu kontaktieren. Der wusste, was zu tun war. Er hatte genaue Details zu den Sarggrößen, und aus welchem Holz sie bestehen sollten. Ob sie ein Ehegrab wollten und wie ihr letztes Gewand aussehen sollte. Sogar die Grabrede war bereits festgelegt worden. Es war seltsam für Dalila, dies alles zu erfahren, denn es kam ihr so vor, als ob ihre Eltern bereits damit gerechnet hatten, ihre einzige Tochter bald verlassen zu müssen. Sie erschauderte bei dem Gedanken.

 

Der Teenager wischte sich die Tränen ab, straffte die Schultern und nahm einen tiefen Atemzug. Dann schlug sie die Bettdecke zurück und stand auf. Ihre Bettlägerigkeit hatte zwar nur eine Woche gedauert, doch ihre Beinmuskulatur war bereits geschwächt. Auf wackeligen Knien hielt sie sich am Bettgestell fest und schüttelte abwehrend den Kopf, als ihr Abigale zur Hilfe eilen wollte. Ihre Beine schmerzten und die Muskeln brannten durch die Belastung, doch sie biss tapfer die Zähne zusammen und wankte zum Wandschrank hinüber.

Darin fand sie ihre alte Reisetasche, die sie eigens für den Familienausflug gepackt hatte, und eine kleine bordeauxrote Umhängetasche. Diese kam ihr jedoch nicht bekannt vor. Doch da sie zu den Fundsachen gehörte, die aus dem zerstörten Autowrack noch unversehrt geborgen worden waren, musste es sich um eine Tasche ihrer Mutter handeln. Mit schwerem Gepäck in den Händen hinkte sie zurück zum Bett und legte die Taschen dort ab.

Abigale Woods war feinfühlig genug um zu wissen, dass sie der jungen Frau ein wenig Zeit für sich alleine lassen sollte. Zeit genug, um die vergangenen Minuten und die einhergehenden neuen Erkenntnisse zu verarbeiten. Daher entschuldigte sie sich und machte sich gemächlich auf den Weg in die Cafeteria.

 

Indessen zog Dalila den silbernen Reißverschluss der Reisetasche auf und kramte ein Paar verwaschener grauer Jeans, ein schwarzes Longsleeve und durchgelaufene Chucks hervor. Mit einer Zahnbürste und einem Kamm bewaffnet, suchte sie die Nasszelle ihres Zimmers auf.

Sie war froh, endlich den kratzigen Krankenhauskittel ablegen und ihre eigene Kleidung anziehen zu können. Denn für sie bedeuteten diese Kleidungsstücke ein wenig Normalität. Während sie sich umzog, stieg ihr der Duft des Waschmittels in die Nase, der noch immer an der Kleidung haftete. Sofort kamen schmerzliche Erinnerungen hoch. Es war der Lieblingsduft ihrer Mutter gewesen. Mit Gewalt unterdrückte sie die aufsteigenden Tränen und versuchte, sich mit gewöhnlichen Handlungen abzulenken. So begann sie damit, ihr langes blondes Haar bedächtig zu kämmen, das nach einer Woche der Vernachlässigung den Zargen des

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 21.06.2013
ISBN: 978-3-7309-3347-3

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