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So hatte sich der kleine Junge mit dem goldenen Haar, das so verdreckt war, dass man die Haarfarbe nur erahnen konnte, nicht vorgestellt. Völlig alleine gelassen stand er in der Gosse und wurde von den vorbeieilenden Menschen achtlos herumgestoßen, bis er unsanft im Rinnsal landete, in dem sich neben dem Gestank von dahinrottenden Essensresten, der beißende Geruch von Fäkalien mischte. Ebenso wie sich das Rinnsal durch die Stadt schlängelte, so hing auch der übelriechende Mief überall in der feuchten Luft fest.
Doch die Leute waren daran gewöhnt. An den Gestank und an die unhygienischen Zustände. Und daran, sich nur um sich selbst zu kümmern und einem kleinen Kind, in dessen Augen, die in dem schmutzigen Gesicht wie Bernsteine leuchteten, man die Furcht und Hilflosigkeit ansehen konnte, keinerlei Beachtung zu schenken. Denn in den Straßen lungerten mehr als genug Waisenkinder umher, die darauf aus waren von den Marktständen, etwas zum Essen zu klauen, oder einer unachtsamen Person die Geldbörse zu rauben.
Schnell rappelte er sich wieder auf und versuchte sich den Dreck von seinen durchgenässten Kleidern zu klopfen, doch es war bereits zu spät. Er war von oben bis unten besudelt und stank nach der Kloake.
Was jedoch niemand wusste, der kleine Junge war kein Waisenkind. Seine Mutter hatte ihn dort einfach abgesetzt und zu verstehen gegeben, auf ihre Rückkehr zu warten, was nicht neu für ihn gewesen wäre.

Seit er denken konnte, zogen sie von Stadt zu Stadt und kämpften täglich ums Überleben. Und da die junge und unverheiratete Mutter nirgends eine Anstellung bekam, begann sie irgendwann damit ihren Körper für wenige Geldstücke zu verkaufen. Jedem Mann, der ihr ein wenig Geld zahlen konnte, bot sie sexuelle Dienstleistungen an, wovon sie sich zumeist trockenes Brot und hin und wieder auch gepökelte Wurst leisten konnte. Ganz selten kam es sogar vor, dass sie genug Geld zusammen hatte, womit sie sich selbst und ihrem jungen Sohn, in einer Wirtsstube eine warme Mahlzeit erkaufen konnte. Doch diese Tage wurden immer seltener, in denen sie in einen Gasthof einkehren, ausreichend essen und sich von den langen Fußmärschen und tagelangen Regenschauern ausruhen und Schutz suchen konnten.

Langsam wurde der kleine Junge unruhig, denn weder hatte ihn seine Mutter zuvor schon jemals so lange warten lassen, noch war sie nach Einbruch der Dämmerung noch nicht von ihrer „Arbeit“ zurückgekehrt.
Voller Sorge drückte er sich an eine steinerne Hauswand, die ihn zwar nicht vor der Kälte schütze, die ihm in den Knochen saß, doch zumindest reichte der Dachvorsprung geradeso aus, um ihn vor dem Regen zu schützen, der erbarmungslos und ohne Pause herab prasselte. Und als er sich nicht mehr zu helfen wusste, sackte er an der Hauswand in sich zusammen, schloss seine Augen und ließ seinen Tränen freien Lauf. Einerseits weinte er, weil er seine Mutter, seine einzige Vertrauensperson in seinem Leben, vermisste, und andererseits plagte ihn der Hunger, der ihm Bauchschmerzen verursachte und seinen geschwächten Körper immer wieder in wellenartigen Schüben überfielen, die jedes Mal schlimmer wurden und länger anhielten.

Während er leise vor sich hin wimmerte, lauschte er den Klängen um sich herum. Er vernahm das Geräusch von Pferden, wie sie wiehernd mit ihren Hufen, auf den unregelmäßig gepflasterten Straßen trabten und hinter sich die schweren Lasten von Kutschen und Karren herzogen, deren hölzerne Räder ratternde Laute von sich gaben.
Er lauschte dem Regen, wie er auf die Dächer der umliegenden Häuser prasselte und bei längerem Hinhören, beinahe wie eine rauschende Melodie aus hohen und tiefen Tönen klang, je nachdem, wo die Regentropfen auftrafen. Und er hörte Schritte, die sich aus der Masse von Menschen absetzten, da sie auf ihn zuzugehen schienen. Feste und bestimmende Schritte, die vom Steinboden hallten und ihm vertraut vorkamen. Schritte, die sein Herz schneller schlugen ließen.
Als sie nah genug an ihn heran kamen, öffnete er erwartungsvoll seine Augen und wollte seiner Mutter in die Arme springen, doch mitten in der Bewegung hielt er inne, plumpste zurück auf den kalten Boden und sah mit großen Augen und offen stehendem Mund die mysteriöse Gestalt an, die vor ihm Stand und ihn von oben herab anstarrte.

Ein wohl gekleideter Mann, eingehüllt in ein dunkles Cape, mit einem Hut von dem der Regen wie kleine Kristallkugeln abperlte und einem luxuriös aussehenden Spazierstock, den er gekonnt von einer Hand, in die andere wirbeln ließ, musterte ihn interessiert.
Er begutachtete den zierlichen und abgemagerten Jungen in seinen verdreckten und zerlumpten Kleidern, in dessen Gesicht sich die Spuren von vertrockneten Tränen und lähmender Ermüdung abzeichneten.
„Sag mein Junge, wie lautet dein Name?“, fragte ihn der Mann mit einer sanften Stimme, die ihn sogleich in den Bann zog und hielt dabei stets Blickkontakt mit ihm. Eigentlich hatte ihm seine Mutter eingebläut, niemals mit Fremden zu reden, doch ein innerer Drang, der desto mehr er sich dagegen zu wehren versuchte, ihm zu antworten, umso stärker wurde, veranlasste ihn die warnenden Worte seiner Mutter augenblicklich zu vergessen. Aufgeregt befeuchtete er mit der Zunge seine Lippen und schluckte den dicken Kloß herunter, der versuchte seine Kehle zuzuschnüren und seinen Stimmbändern den Dienst zu versagen.
„Mein Name ist Ardric Donovan“, erwiderte er zaghaft.
„Und wer bist du?“
„Ich heiße Adam van Argyll“, antwortete er und unterstrich seinen wohlklingenden Namen mit einer würdevollen Verbeugung, die den Jungen nur noch mehr in Staunen versetzte.
„Was für ein vornehmer Name“, flüsterte Ardric beeindruckt.
„Meine Mutter sagt immer, dass Menschen mit solchen Namen viel Geld haben.
Sind Sie reich?“, wollte er wissen und sah den Mann mit kindlicher Naivität erwartungsvoll an. Der Fremde schmunzelte, nickte bestätigend und hielt Ardric seine Hand hin, um ihm vom Boden aufzuhelfen. Der Kontrast vom dunklen Stoff des Capes zu der beinahe kalkig weißen Haut des Mannes, ließ ihn jedoch zweifelnd an den guten Absichten, inne halten. Doch sobald Adam wieder den Blickkontakt zu ihm hergestellt hatte, nahm er ohne jedes weitere Zögern seine Hilfe an und ließ sich auf die Beine helfen.
Adam zog ihn mit einem kräftigen Ruck hoch, der ihm allerdings keine Mühe kostete, wodurch Ardric das Gefühl hatte für einen kurzen Moment zu fliegen. Glucksend vor Freude landete er unbeschadet auf seinen Füßen. Adams imposantes Erscheinungsbild, ließ Ardric seinen Hunger und die Besorgnis um seine Mutter vergessen. Doch dem mysteriösen Mann war das dumpfe Knurren in Ardrics Magen nicht entgangen. Er konnte geradezu hören, wie sich die Magensäfte im Inneren seines Leibes überschlugen und nach Nahrung verlangten.
„Ardric mein Junge, du hast doch bestimmt großen Appetit. Komm doch mit zu mir nach Hause, dort ist es warm und du bekommst etwas zu essen“, merkte er wie beiläufig an und versuchte bereits den Jungen mit sich zu ziehen. Ardric fühlte sich plötzlich bedrängt, nahm augenblicklich eine misstrauische Haltung ein und rückte von Adam ein Stück ab, näher zur Hauswand hin. Er erinnerte sie wieder an die Worte seiner Mutter, die ihn davor warnten, dass es Menschen gab, die Kinder wie ihn einfach entführten, um sie wie Sklaven zu halten, oder um Schlimmeres mit ihnen anzustellen.
„Nein ich kann nicht. Ich muss hier bleiben und auf meine Mutter warten!“, entgegnete er ihm entschieden und verschränkte zur Bekräftigung die Arme vor der Brust. Adam wurde langsam wütend, denn er hatte gedacht, er hätte mit einem Kind wir Ardric, der von niederem Stand war, leichtes Spiel, doch er erwies sich als ziemlich resistent gegen seine Anlockversuche. Gleichwohl bewahrte er seine Haltung und ließ sich nichts anmerken, denn noch war das Spiel nicht verloren und er wollte sein auserkorenes Opfer nicht allzu leicht aufgeben. Alles was er brauchte, war ein wenig mehr Geduld und die ungestörte Aufmerksamkeit des Jungen, um ihn endgültig seinen Willen aufzuzwingen.
„Was für außergewöhnlich schöne Augen du doch hast!“, schmeichelte er Ardric.
„Hast du die von deiner Mutter, oder von deinem Vater?“ Ardric schüttelte langsam den Kopf.
„Weder noch.
Meine Mutter hat schlammfarbene Augen und einen Vater habe ich nicht.
Der hat sich eines schönen Tages einfach aus dem Staub gemacht, noch bevor ich geboren war und hat meine Mutter ohne Geld sitzen lassen.
Und selbst wenn ich seine Augen hätte, würde ich sie mir lieber auskratzen, als weiterhin mit den Augen eines Mannes herumzulaufen, der ein Taugenichts ist!“, wiederholte er die Worte seiner Mutter, die sie oft benutzte, wenn sie traurig war und beim Anblick ihres einzigen Sohnes, von Schmerz und Kummer ergriffen wurde, da er ein spiegelgleiches Abbild seines Vaters war. Dabei formt er seine Hände zu Krallen, führte sie dicht an seine Augen heran und deutete eine kratzende Bewegung an.
„Du hast bestimmt gar nichts von deinem Vater abbekommen!“, beschwichtigte er den aufgebrachten Jungen und kam ein Stück näher auf ihn zu, um den Abstand zwischen ihnen zu verringern, denn für das, was er vor hatte, musste er so dicht wie möglich an ihn heran. Zu lange war es her, dass er seinen ausgezehrten Körper gestärkt hatte und er konnte fühlen, wie seine Macht zunehmend schwand.
„Darf ich trotzdem einen genauen Blick auf deine Augen werfen, bevor du dir das Augenlicht nimmst?
Wer weiß wann ich jemals wieder die Möglichkeit bekomme ein so seltenes Augenpaar betrachten zu dürfen, wie das deine“, bat er Ardric höflich. Der war nun wirklich geschmeichelt von Adams Worten und streckte ihm seinen Kopf entgegen. Ein kurzes Schmunzeln kräuselte seine Mundwinkel, denn nun wusste er, dass er den Jungen, der ihm voller Stolz das Kinn entgegen rekte, dort hatte, wo er ihn wollte. Er sah Ardric tief in die Augen und begann in melodischer Stimme auf ihn einzureden.
„Ardric du kommst jetzt mit mir nach Hause.
Dort wirst du es gut haben. Ich gebe dir zu Essen, du bekommst ein warmes Bad, saubere Gewänder und ein gemütliches Bett, indem du dich ausruhen kannst.
Wenn dich jemand fragt, sagst du, dass du keine Eltern hast und ein Waisenkind bist.
Hast du mich verstanden?“, wollte er wissen. Ardric wirkte wie benebelt. Sein Blick war verklärt, doch irgendwo in den Windungen seines Gedächtnisses, blitzte ein Bild seiner Mutter auf.
„Aber was ist mit meiner Mutter?“ säuselte er benommen.
„Du hast keine Mutter! Sie ist schon lange tot und ich habe dich aus dem Waisenhaus zu mir geholt!“, impfte Adam dem willenlosen Kind mit Nachdruck ein. Nun schienen seine Bemühungen endlich gefruchtet zu haben, denn Ardric nickte und ließ sich ohne Wiederstand von der Hauswand wegführen.
In einer galanten Armbewegung lüftete Adam van Argyll sein Cape und zog den Jungen dicht an sich heran, um ihn sogleich in einer weiteren Bewegung mit dem Cape, vor zu neugierigen Blicken zu umhüllen. Auch wenn er nun Ardric zu einer fügsamen Marionette gemacht hatte, so konnte er sich nicht sicher sein, dass ihn doch noch einer der umherlaufenden Menschen erkennen und somit sämtliche Anstrengungen zunichtemachen könnte.

*****



Mit großen Augen, starrte Ardric das reichhaltige Abendessen an, das sich vor ihm auf dem Tisch befand. Adam hatte bei ihrer Ankunft im Herrenhaus seiner Dienerschaft befohlen, eigens für den Neuankömmling ein Festessen zuzubereiten. Der Speichelfluss in Ardrics Mund ließ ihn mehrmals kräftig Schlucken, denn der süße Duft von gebratenem Fleisch mit Honigkruste, von gefüllten Klößen und allerlei anderer Köstlichkeiten, kitzelte seinen Gaumen.
„Iss mein Jung, du hast doch bestimmt großen Hunger. Iss, damit du zu Kräften kommst“, meinte Adam und wünschte sich, dass er selbst seinen Hunger endlich stillen könnte. Entgegen seines Vorhabens, mit den Lebenssäften des Jungens seinen Durst zu stillen, hatte er sich dazu entschieden, diese verlorene Seele zu verschonen. Zu lange war Adam van Argyll schon alleine und das sollte sich mit dem Jungen ändern.

Voller Unglauben sah er zu Adam hinüber, der sich in eine Ecke des Speisesaals verzogen hatte, um möglichst weit weg von ihm zu sein. Denn der süße Duft des Blutes war trotz des strengen Kloakegestanks, der sich in Ardrics Poren gefressen hatte und sich mit dem Geruch vom Essen mischte, deutlich zu riechen. Und Adam wollte nicht in einer unbedachten Sekunde über seinen neuen Hausgast herfallen, denn er hatte noch viel mit ihm vor.

Mit einem freundlichen Lächeln deutete er ihm an, dass er Zugreifen dürfe. Dies ließ sich Ardric nicht ein zweites Mal sagen und langte mit den bloßen Händen zu. Er stopfte sich so viel in den Mund, dass seine Backen ausgebeult waren, wie die Backentaschen eines Hamsters. Mit dem Kauen kam er schier nicht nach und behalf sich mit einem großen Krug Bier, um die Fleischbrocken hinunterzuspülen.
„Hast du keinen Hunger?“, fragte Ardric schmatzend und verschlang bereits seinen vierten Knödel. Adam verneinte zähneknirschend, denn es dürstete ihn sehr wohl, doch dies schien Ardric gar nicht mehr wahr zu nehmen, da er wie von Sinnen, mit vollen Händen das Essen in sich hineinschaufelte.
Langsam verspürte er ein sich wohlig ausbreitendes Sättigungsgefühl, doch er hatte noch lange nicht vor aufzuhören und das gute Essen verderben zu lassen.
„Danke, dass du mich aus dem Waisenhaus geholt hast.
Ich weiß gar nicht mehr, wie ich dort gelandet bin.
Außerdem ist es total überfüllt.
Ich bin wirklich froh darüber, dass ich dort nicht mehr sein muss.
Weder gab es so gutes Essen wie hier bei dir, noch durfte ich dort Bier trinken!“, erzählte er im Plauderton und nahm erneut einen kräftigen Schluck Bier, das ihm bereits zu Kopf gestiegen war. Er gab genau das wieder, was ihm Adam zuvor akribisch einsuffliert hatte.
Endlich lehnte sich Ardric im Stuhl zurück und gab einen zufriedenen Seufzer von sich. Wie es schien, war er satt, denn er rieb sich mit beiden Händen über seinen gewölbten Bauch, der sich deutlich unter seinen Gewändern abzeichnete. Adam lauschte seinem Herzschlag, der langsam und schwerfällig pochte.
„Ich bin so müde“, gab Ardric mit schläfrigen Augen und schwerfälliger Zunge von sich, denn er hatte sich mit dem Bier einen kräftigen Rausch angetrunken. Unvermittelt klatschte Adam in die Hände, woraufhin gleich eine Heerschar von Bediensteten im Speisesaal erschien und ehrfürchtig zu Boden starrend, auf seine Befehle wartete.
„Badet den Jungen gründlich, verbrennt seine Lumpen und steckt in ins Bett.
Und räumt dieses Chaos vom Tisch ab.
Es sieht dort aus wie auf einem Schlachtfeld
Der Anblick ist mir zuwider!“, befahl er herrisch und sah zu, wie sie sich beeilten seinen Aufforderungen augenblicklich nachzukommen.

*****



Adam van Argyll schlich sich lautlos, wie ein Schatten in Ardrics Zimmer und betrachtete den schlafenden Jungen. In den weißen Laken wirkte er wie ein unschuldiger Engel, dessen blondes Haar wie kostbare Goldfäden aussahen, die sein Gesicht und seine rosigen Wangen sanft umspielten. Sein Anblick traf Adam, denn er war wunderschön und sprühte vor Leben und Sterblichkeit. Eine Beseeltheit, die ihm selbst schon vor etlicher Zeit abhanden gekommen war, dass er sich nicht einmal mehr daran erinnerte, wie lange er schon ein Dasein im Schatten führte und sich das Leben anderer stehlen musste, um selbst nicht zu sterben.

Vorsichtig zog er die Bettdecke zur Seite und legte Ardrics Oberkörper frei. Beinahe schon Andächtig sah er zu, wie das Blut durch seine Adern rauschte und sich hier und da, der Puls hüpfend unter der Haut bemerkbar machte. Nun hielt Adam es nicht mehr länger aus. Er beugte sich über den Jungen und gab seinem Verlangen nach. Seine spitzen Zähne gruben sich in das zarte Fleisch. Sogleich quoll ihm süßes Blut in die Mundhöhle und umschmeichelte seinen Gaumen. Adam van Argyll genoss jeden Tropfen der roten Kostbarkeit. Zwar dürstete es ihm nach so viel mehr, doch um den kleinen Kinderkörper nicht zu sehr zu schröpfen, oder gar versehentlich auszusaugen und somit zu töten, musste er sich nach wenigen Schlücken zwingen, seine Triebe zu unterdrücken und sich mit dem zufrieden geben, was er sich nehmen konnte, ohne dem Jungen ernsthaften Schaden zuzufügen.

Das starke Bier hatte seinen Zweck erfüllt, denn Ardric schlief tief und fest und merkte nichts von alledem. Nachdem der Vampir sich ein wenig flüssiges Leben von Ardric gestohlen hatte, spürte er, wie die Wärme und somit auch seine Kraft in seinen Körper zurückkehrten.
Er schloss seine Augen und kostete den Nachgeschmack des Blutes aus, der nur wenige Momente auf seiner Zunge verweilte. Anschließend deckte er Ardric behutsam wieder zu und strich ihm voller väterlichem Stolz, eine Strähne aus der Stirn.
Adam konnte es selbst nicht fassen, doch dieser kleine Bauernjunge, dem es an sämtlichen Manieren und Anstand fehlte, machte ihn glücklich. Ein Gefühl, dass er bereits verloren geglaubt hatte und das er nicht mehr missen wollte.
In ihm keimte das Verlangen nach einem Gefährten auf und diese Rolle sollte fortan Ardric übernehmen. Er wollte ihn unterrichten und nach seinen Vorstellungen Formen, um ihm eines Tages das Geschenk des ewigen Lebens zu offenbaren.

*****



Jahre vergingen und aus dem einst ungebildeten, kleinen Kind, wuchs ein stattlicher junger Mann heran. Täglicher Hausunterricht in allen wichtigen Angelegenheiten und der ständige Einfluss von Adam, formten Ardric zu einer begehrten und überall gerne gesehenen Persönlichkeit der Gesellschaft.


Und wieder einmal bezogen Adam und Ardric eine neue Bleibe in einer neuen Stadt. Mürrisch von der langen und unbequemen Reise in der Kutsche, setzte sich Ardric auf den nächstbesten Stuhl und donnerte seine vom Matsch verdreckten Stiefel auf den Tisch. Genervt sah er zu, wie die Bediensteten im Haus herum schwirrten und ihr mitgebrachtes Gepäck auf ihre Zimmer brachten.
„Ardric, mein Liebster, warum bist du so übellaunig?“, fragte Adam besorgt und strich ihm sanft durch das offene Haar.
„Hör auf mich ständig zu streicheln, als ob ich dein Schoßhündchen wäre!“, zischte Ardric und versuchte Adams Hand mit einer ruckartigen Kopfbewegung von sich zu schütteln. Doch Adam kannte Ardrics Launen nur zu gut und fuhr unbeirrt fort, ihm durchs Haar zu streicheln.
„Hörst du nicht?
Du sollst damit aufhören, verdammt noch mal!
Adam, weder bin ich dein Besitz noch bin ich dein Geliebter, der dir sexuell gefällig sein muss!“, brüllte Ardric wütend und schlug Adams Hand von sich, die auf seiner Schulter ruhte. Zum ersten Mal, seit Adam sich dazu entschlossen hatte, Ardric zu seinem Gefährten zu machen, war er so außer sich. Und die Worte, die er wählte, verletzten ihn. Denn noch nie hatte er einen Menschen so sehr geliebt, wie Ardric, den er wie sein eigen Fleisch und Blut aufgezogen hatte. Doch gerade weil er ihn so sehr liebte, verzieh er ihm seinen Wutausbruch.
„Was ist denn nur mit dir?
Womit habe ich dich gekränkt, Ardric?
Womit habe ich das verdient, nach allem, was ich für dich getan habe?“ Ardric stieß einen lauten Seufzer aus.
„Ja, ja ich weiß schon. Du hast mich aus dem Waisenhaus geholt und keine Kosten und Mühen gescheut, um mir das Beste im Leben zu ermöglichen.
Bla, bla, bla.
Ich weiß“, ratterte Ardric die Sätze herunter, die ihm sonst Adam aufgesagt hätte, wie nach jeder Auseinandersetzung, die sie hatten.
Adam versuchte Ardrics Stimmung wieder aufzuheitern, indem er ihm von einem anstehenden gesellschaftlichen Ereignis erzählte.
„Wir sind hier genau zum richtigen Zeitpunkt angekommen, denn heute Abend findet ein Ball statt und wir sind dazu eingeladen!“ Für gewöhnlich beruhigte sich Ardrics erhitztes Gemüt, nach so einer Ankündigung sofort wieder und ließ seine bernsteinfarbenen Augen leuchten, doch dieses Mal zuckte er nur desinteressiert mit den Schultern.
„Freust du dich denn nicht darauf?“, fragte Adam und konnte seine Verwunderung, die in der Frage mitschwang, nicht unterdrücken. Langsam hob Ardric seinen Kopf und sah ihm fest in die Augen. Plötzlich fühlte sich Adam hilflos, denn alles, was er in Ardrics Augen sehen konnte, war Trauer. Trauer, an der er nicht Schuld haben wollte, von der er jedoch wusste, dass er sie herbeigeführt haben musste. Er wusste nur noch nicht wie.
„Ardric, bitte rede doch mit mir“, bat er ihn, wobei seine Stimme bei den letzten Worten dünn und brüchig wurde. Ardric holte tief Luft.
„Ich habe es satt.
Ich habe alles einfach nur noch so satt.
Ich bin diesem Leben überdrüssig.
Von dir bekomme ich alles, was man mit Geld kaufen kann, doch das Eine, was ich am meisten begehre, scheint mir verwehrt zu bleiben“, meinte Ardric mit abwesenden Blick.
„Was meinst du damit?
Was ist es, mein Liebster, was dein Herz begehrt?
Sag es mir und ich ziehe sofort los, um es dir zu besorgen!“ Adam lief entschlossen auf die Haustür zu, denn er hätte alles dafür getan, um Ardric wieder glücklich zu sehen.
„Kannst du mir eine Familie >>besorgen<<?“, fragte Ardric argwöhnisch. Bei dem Wort Familie, zuckte Adam unwillkürlich zusammen, drehte sich um und sah Ardric zum ersten Mal, in einem anderen Licht. Ihm war klar, dass er vor sich einen kräftigen und gutaussehenden Mann hatte, der in voller Blüte stand, doch dass in ihm jemals der Wunsch nach einer eigenen Familie aufkeimen könnte, hatte er nicht bedacht, schließlich hatte er sämtliche Erinnerungen an seine Kindheit und an seine Mutter, das Einzige, was einer Familie am nahsten kam, gelöscht.
„Familie?
Ich bin deine…Familie“, stammelte Adam. Ardric schnaubte verächtlich.
„Ich will eine richtige Familie.
Eine hübsche Frau, die mich aufrichtig liebt.
Unter deren Herz, die Frucht unserer Liebe heranwächst und aus ihrem Schoß das Licht der Welt erblickt.
Ich will ein stolzer Vater und Ehemann sein, der seiner Familie die Welt zu Füßen legt.
Kannst du mir das etwa besorgen?
Sag mir gefälligst, ob du mir das mit deinem Geld kaufen kannst!“, grollte Ardric und sah den sprachlosen Adam mit zusammengekniffenen Augen an.
„Es ist immer dasselbe.
Ich verliebe mich in eine Frau und alles scheint gut zu laufen, doch irgendwann kommt plötzlich der Punkt, an dem sie mit mir aus unerklärlichen Gründen nichts mehr zu tun haben will, oder vom Erdboden verschwindet, sodass man sie nirgends mehr auffinden kann.
Und dann ziehen wir weiter in eine neue Stadt, wo alles wieder von vorne beginnt.“ Adam stand noch immer wie angewurzelt da und war nicht fähig auch nur ein Wort dazu zu sagen.
„So kann es nicht mehr weiter gehen, Adam, ich bin dir wirklich für alles, was du für mich getan hast, dankbar, doch nun ist es langsam an der Zeit, dass ich mein eigenes Leben führe und sesshaft werde.
Und um meinem Traum von einer eigenen Familie, näher zu kommen, werde ich mir eine eigene Bleibe suchen und dort leben, bis ich die Richtige gefunden habe, mit der ich mir ein Zuhause und eine Zukunft aufbauen kann“, verkündete Ardric nun seine Entscheidung. Schon seit längerem hatte er diese Unterhaltung unzählige Male im Geiste geführt, doch erst jetzt war er imstande gewesen, es Adam zu sagen.
„Ist dir denn meine Liebe nicht genug?“, wollte Adam von ihm wissen. Ardric lachte kurz auf, dann erhob er sich von seinem Stuhl, ging auf Adam zu und schloss ihn liebevoll in seine Arme. Adam liebte diese Momente, in denen Ardric solch eine Nähe zuließ und die viel zu selten vorkamen. Er erwiderte seine Umarmung und sog den Duft seiner warmen Haut ein, der aus all seinen Poren strömte. Ein geradezu betörender Geruch, der seine Sinne benebelte und ihn dazu verlockte, sein ihm selbst auferlegtes Verbot, niemals wieder von Ardric zu trinken, zu vergessen. Es würde schnell gehen. Nur wenige Zentimeter trennten Adam von der süßen Erfüllung, die in seinen Adern floss und unter seiner gebräunten Haut, verlockend bläulich schimmerten.
„Ich weiß doch wie sehr du mich liebst, Adam und ich liebe dich auch.
So, wie ein Sohn, der einen Vater liebt, der du immer für mich warst und bleiben wirst“, erklärte ihm Ardric und klopfte ihm tröstend auf den Rücken, bevor er sich aus der innigen Umarmung löste und zur Treppe eilte, die zu ihren Schlafräumen führte. Adam war aufgebracht, denn das waren nicht die Worte, die er hören wollte. Er presste seine Zähne fest aufeinander und ballte seine Hände zu Fäusten, bis sich die Fingernägel in seine Haut bohrten und der kurz aufblitzende Schmerz, ihn davon ablenkte Ardric hinterherzurennen, um ihn aus lauter Wut bis auf den letzten Tropfen auszusaugen. Denn er wusste, dass er es im selben Moment, in dem Ardrics Herz zum letzen Mal schlagen würde und er seinen letzten Atemzug ausgehaucht hätte, er es bitterlich bereuen würde, ihm aus niederen Beweggründen, wie Wut, das Leben genommen zu haben.
„Na komm schon endlich Adam, wir müssen uns für den nächtlichen Ball fertig machen.
Und wer weiß, vielleicht treffe ich dort auf die zukünftige Mrs. Donovan!“, rief ihm Ardric scherzend von der Galerie hinunter und konnte es kaum abwarten, die Frauen dieser Stadt kennen zu lernen. Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen ging Adam ihm hinterher.

Ein düsteres Vorhaben erwachte in ihm zum Leben. Etwas, was sich aus ferner Zukunft nun in die Gegenward drängte und für Adam van Argyll unumgänglich wurde, wenn er seinen blonden Engel nicht verlieren wollte.
Dieses Vorhaben wurde augenblicklich zu seiner höchsten Priorität, nur die Art der Umsetzung, war ihm noch nicht schlüssig. Doch eines wusste er schon jetzt, während er die steinernen Treppen zur Galerie empor stieg.
Niemand, aber auch wirklich niemand, würde ihm seinen geliebten Ardric Donovan wegnehmen können.

*****



Die Kutschfahrt zum Anwesen der Familie Bouvier, die den Ball zum Geburtstag ihrer Tochter ausrichteten, kam Adam wie eine Foltertour vor. Die ganze Zeit über sagte Ardric kein Wort, doch in seinem Abwesenden Blick, schimmerte der goldfarbene Glanz der Sehnsucht wider und dieser Blick drückte so viel mehr aus, als Worte es je gekonnt hätten. Eine Sehnsucht, die nicht Adam galt und die er niemals hätte stillen können.
Auch in seinen Augen sah man etwas aufblitzen. Ein Funkeln, das nichts Gutes verhieß, denn es rührte vom Groll her. Die Eifersucht schlich sich in Adams kaltes Herz und ließ ihn nicht mehr los.

Dieses Gefühl überkam ihn in den letzten Jahren immer häufiger und zwar immer dann, wenn Ardric seinen unzähligen Frauenbekanntschaften mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte, als ihm. Doch er wusste sich stets zu behelfen und hatte keinerlei Skrupel, seine weiblichen Nebenbuhlerinnen loszuwerden. Sei es durch die Macht seiner verführerischen Worte gewesen, womit er den Verstand seiner Opfer manipulieren konnte, oder durch seine ungehaltene Blutgier, die sie ins Jenseits beförderten.
Nach jeder Ablehnung und jedem Verlust, kam Ardric stets zu Adam gelaufen, um sich seinen Kummer von der Seele zu reden. Und Adam mimte nur zu gerne den hilfsbereiten Trostspender, denn jedes negative Erlebnis, dass Ardric widerfuhr, schweißte sie noch enger zusammen.

Diese Mal war es jedoch anders, denn nun wusste er, dass Ardric nicht mehr nur spielte, sondern Ernst machen wollte. Adam überkam das Gefühl, dass er seinen blonden Engel schon jetzt fast verloren hatte, noch bevor sich irgendein ein Weibsbild zwischen sie drängen konnte. Dieser Verlust schmerzte Adam so sehr, dass er alles tun würde, um den dünnen Faden, der sie noch zu verbinden schien, nicht endgültig reißen zu lassen.

Ardric trug seine schönsten mit Gold bestickten Gewänder, denn er war auf Brautschau und wollte sich von seiner besten Seite zeigen. Bereits von draußen konnte man Gelächter und Musik vernehmen, die vom Inneren des Anwesens hinaus drangen.
Als sie gemeinsam den prunkvollen Saal betraten, konnte Adam spüren, wie sämtliche Augenpaare von heiratswilligen Frauen, auf seinem schönen Prinzen ruhten. Wie sie ihn interessiert musterten und Gefallen an seiner Erscheinung fanden. Wo er nur konnte, strafte Adam jede Frau, die seinen Blick kreuzte, mit Abscheu und Missbilligung. Noch bevor er Maßnahmen hätte ergreifen können, einige der Frauen durch Gedankenmanipulation aus dem Weg zu räumen, mischte sich Ardric unter die Gäste und forderte sogleich eine Dame zum Tanz auf.
Voller Argwohn beobachtete er die beiden, wie sie sich amüsierten und wie Ardric sich von ihren intensiven Blicken und ihrem kokettierendem Lächeln verführen ließ. Adam beobachtete jeden seiner Schritte und ließ ihn nicht mehr aus den Augen, was Ardric bemerkte. Es missfiel ihm überwacht zu werden, als sei er ein entflohener Sträfling.

Nach einer Weile hatte er genug davon und ging zu Adam hinüber, der am Rand der Tanzfläche herumlungerte.
„Adam ich kann sehen, wie du mich beobachtest, als seist du ein eifersüchtiger Liebhaber, dessen Liebe nicht erwidert wird.
Widerstrebt es dir so sehr, dass ich mein Glück finden könnte?“, fragte er und stellte ihn zur Rede.
„Nein, aber natürlich nicht!
Ich will nur sicher gehen, dass du die Richtige findest“, log Adam und setzte ein falsches Lächeln auf. Ardric verzog seine Lippen zu zwei schmalen, angespannten Linien, die er fest aufeinander presste und sah in ernst, mit zusammengekniffenen Augen an.
„Ich weiß deine Besorgnis zu schätzen, doch du solltest es mir überlassen, mit wem ich mich einlasse.
Ich bin schließlich erwachsen und kann meine Entscheidungen selbst treffen!“, erwiderte er schroff. Nun hatte Adam endgültig genug. Zwar hatte er sich selbst gesagt, dass er seinen Engel so selten wie möglich manipulieren wollte, doch sein trotziges Verhalten, ließ ihm keine andere Wahl. Er trat dicht an Ardric heran und versuchte Blickkontakt mit ihm herzustellen, um ihn seinen Willen aufzuzwingen. Jedoch wurden seine Pläne jäh zunichte gemacht, als sich zwei Frauen an Ardric heranschlichen, sich ohne Vorwarnung bei ihm unterhakten und ihn kichernd mit sich zogen. Ihm war es nur recht, auf diese Art und Weise die Unterhaltung abzubrechen, denn er hatte keine Lust mehr, sich von Adams Eifersüchteleien den Abend verderben zu lassen.
Es kam ihn vor wie Verrat. Verschmäht und verstoßen.
Ein Liebender, dessen Liebe unerhört blieb. Und so konnte er nichts anderes tun, als wild schnaubend mit anzusehen, wie das Objekt seiner Begierde, im Getümmel der Menschen aus seinem Blickfeld verschwand. Er hatte große Mühe seinen Zorn zu unterdrücken. Gerne wäre er ihnen nachgeeilt, um den beiden Frauen den Gar auszumachen. Nur die vielen Gäste, die Zeugen seiner grausamen Tat gewesen wären, hielten ihn davon ab, diesem Impuls nachzugeben. Ihm blieb nichts Weiteres übrig, als abzuwarten, bis Ardric genug hatte und nach Hause wollte.

Nach pausenlosen Tänzen, mit unzähligen tanzwütigen Frauen, wartete Ardric einen passenden Zeitpunkt ab, um sich davonzustehlen, denn seit er im Hause der Bouviers angekommen war, hatte er keine ruhige Minute mehr gehabt. Seine ausgesprochen guten Tanzkünste sprachen sich in der Damenwelt schnell herum, wovon sich scheinbar jede Frau, die im heiratsfähigen Alter war, selbst überzeugen wollte.
Es war nicht schwer für ihn, in einem unachtsamen Augenblick, seiner anhängenden
Schar von Verehrerinnen zu entfliehen und so nutzte er die nächste Gelegenheit und bahnte sich seinen Weg in geduckter Haltung, zwischen den verwundert dreinblickenden Leuten hindurch. Erst als er hinter einem schweren Vorhang verschwand, der ein Separee verbarg, und sich sicher war, dass ihm niemand gefolgt war, stieß er einen lauten Seufzer der Erleichterung aus und atmete erleichtert durch.
„Was ist Ihre Ausrede, dass Sie sich hier versteckst?“, ertönte eine sanfte Stimme hinter ihm. Erschrocken fuhr er herum und blickte sogleich in die schönsten Augen, die er jemals zuvor gesehen hatte. Sie leuchteten in solch einem tiefen Blau, dass sie beinahe schon unwirklich wirkten.
„Frauen…zu viele davon“, stammelte Ardric und konnte nicht damit aufhören die unbekannte Schönheit staunend zu betrachten. Anders wie die anderen Frauen, die ihr Haar in kunstvollen Hochsteckfrisuren trugen, ließ sie ihr Haar offen, das ihr in sanften Wellen, über die Schultern fiel und bis zur Hüfte reichte. Beinahe so, wie ein Wasserfall aus zartglänzender Schokolade.
„Oh wie unhöflich von mir, wo bleiben nur meine Manieren.
Ich habe mich gar nicht vorgestellt.
Mein Name ist Ardric Donovan.
Ich bin…“
„Sie sind der Protegier von Adam van Argyll und gerade erst in unsere malerische Stadt gezogen“, unterbrach sie ihn. Es überraschte ihn, dass sie bereits zu wissen schien, wer er war.
„Wie mir scheint, eilt mir mein Ruf voraus.
Hoffentlich haben Sie nur Gutes von mir gehört“, grinste er verschmitzt.
„Das sie ein Casanova sind und Frauenherzen höher schlagen lassen, ist bei Ihrem Aussehen offensichtlich.
Es ist vielmehr der Ruf Ihres Geldes, der Ihnen vorauseilt.
Wir Bouviers kennen alle reichen Leute und wir wissen immer, wie sie zu ihrem Reichtum gekommen sind und woher ihre Wurzeln sind.
Doch von Adam van Argyll können wir nichts herausfinden.
Es scheint, als ob er keine Vergangenheit besäße, wie ein Gespenst, oder ein Toter, der nicht mehr existiert“, meinte sie und sah ihn forschend an.
„Sie sind eine Bouvier!“, bemerkte Ardric und lenkte somit galant vom Thema ab, denn er hatte selbst überhaupt keinerlei Informationen darüber, wie Adam zu seinem Reichtum gekommen war.
„Richtig. Ich bin Bessy Bouvier, das Geburtstagskind“, stellte sie sich vor. Augenblicklich verbeugte er sich vor ihr und gratulierte ihr, mit einem fast schon gehauchten Kuss auf ihren Handrücken.
„Wie zurückhaltend Sie doch sind. Das ist wirklich angenehm.“
„Ist das der Grund, weshalb Sie sich von ihrem eigenen Geburtstagsfest hier verstecken, weil Ihnen die Leute zu aufdringlich sind?“, hakte Ardric nach. Sie nickte.
„Ja, unter anderem.
Ständig gratulieren mir Leute, die ich nicht einmal kenne, die mir ein unnützes Geschenk, nach dem anderen unter die Nase halten, von dem sie erwarten, dass ich freudig entzückt auf quicke, wie es ein Großteil der dummen Gänse dort draußen tun würde.“
„Dann können Sie beruhigt sein, denn von mir haben Sie kein unnützes Geschenk zu erwarten“, meinte Ardric und zog einen seiner Mundwinkel nach oben.
„So?
Sie wagen es wirklich sich auf meiner Geburtstagsfeier blicken zu lassen, ohne ein Geschenk?“, gab Bessy gespielt pikiert von sich.
„Ich erwähnte lediglich, dass Sie kein unnützes Geschenk<< von mir zu erwarten hätte“. Nun wurde Bessy Bouviers Neugierde geweckt. Wie ein Kind, in freudiger Erwartung, umkreiste sie ihn und versuchte zu ersehen, wo sich das Präsent an seinem Körper verbergen mochte. Doch sie konnte nichts finden.
„Wo haben Sie es denn versteckt, Herr Donovan?
Ich kann es nicht finden.
Wie mir scheint, muss es also so winzig sein, dass es meinem wachsamen Auge entgangen ist“, sagte sie spitzfindig und sah ihn herausfordernd an. Ardric blieb stumm und hüllte sich in geheimnisvolles Schweigen.
„Nun kommen Sie schon.
Es ist mein Geburtstag, spannen Sie mich gefälligst nicht mehr länger auf die Folter.
Sie wollen mich doch nicht unglücklich machen“, meinte Bessy und verzog ihr Gesicht zu einer leicht schmollenden Miene.
„Mein Präsent an Sie, ist nur dann Sinnvoll, wenn Sie es sich selbst aussuchen dürfen.
Verraten Sie mir, Miss Bouvier, was Sie sich wünschen.
Was immer Ihr Herz begehrt, ist mein Geschenk für Sie.“ Für einen kurzen Moment war Bessy verwirrt. Doch dann konnte man in ihren feinen Gesichtszügen erkennen, wie sehr ihr dieses Angebot zu gefallen schien. In ihrem Inneren entbrannte ein Feuer, das sie ihre Tugendhaftigkeit vergessen ließ. Ohne jede Scham, äußerte sie nun ihr Begehren.
„Ich habe noch nie die Lippen eines Mannes, auf den meinen spüren dürfen.
Ein Kuss ist es, den ich mir wünsche“, offenbarte sie ihm. Ardric sah sie überrascht an. Er hatte sich zwar schon vorgestellt, wie es wohl sein würde, sie zu küssen. Dass seine Fantasterei so schnell in die Realität umgesetzt werden würde, damit hatte er nicht gerechnet.
„Trotz Ihrer Schönheit, hat es noch nie ein Mann gewagt, sich einen Kuss von Ihnen zu stehlen?“, fragte er verwundert.
„Es ist nicht so, dass es mir an Gelegenheiten mangeln würde…ich habe sie nur nie wahrgenommen.
Mich interessieren all diese weichgespülten Männer nicht, die behütet aufgewachsen sind und glauben jede Frau mit teuren Geschenken kaufen zu können.
Ich will einen richtigen Mann, ein starken Mann, der weiß, was Frauen wollen.“ Es gefiel Ardric, dass Bessy eine Frau war, die wusste, was sie wollte.
„Und Sie glauben, dass ich so ein Mann bin?“, wollte er wissen. Bessy nickte und sah ihn erwartungsvoll an.
„Nun denn.
Dann werde ich Ihnen diesen Geburtstagswunsch mit bestem Gewissen erfüllen“, meinte Ardric und ging auf Bessy zu.
Trotz ihrer anfänglich draufgängerischen Art, schien sie nun doch ein wenig eingeschüchtert zu sein, denn sie wich zurück. Doch diese plötzlich aufkommende Zurückhaltung, gefiel Ardric. Er packte sie am Handgelenk und zog sie dicht an sich heran, sodass er seinen Arm um ihre Taille schlingen konnte. Ein erschrockener Laut entwich Bessys Kehle. Doch es war kein Laut der Angst, vielmehr galt er ihrem Verlangen, das in ihr aufkeimte. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie glaubte, jeder könne es hören, wenn er nur dicht genug neben ihr stand. Unter dem eng geschnürten Korsett, wölpte sich ihr üppiger Busen heraus, der aufreizend von ihrem keuchenden Atem, auf und nieder bebte. Ihr Blut geriet bereits in Wallung, stieg ihr in den Kopf und ließ ihre blassen Wangen und Lippen erröten. Ardric hob sanft ihr Kinn an und beugte sich zu ihr hinunter.
Kurz bevor sich ihre Lippen zu dem ersehnten Kuss vereinten, entriss ihm eine ungeheure starke Macht, Bessy aus den Armen und stieß ihn so fest zurück, dass er ins Taumeln kam und beinahe zu Boden gefallen wäre. Völlig verwirrt sah er auf und erblickte Adam, wie er eine Hand auf Bessys Mund presste und sie mit dem anderen Arm so fest umschlungen hielt, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte.
„Adam!
Was in Teufels Namen ist nur in dich gefahren?“, rief Ardric völlig überrascht aus.
„Du hast es nicht anders gewollt.
Mit deinem Verhalten zwingst du mich doch geradezu zu diesem Schritt!“, zischte er und leckte mit seiner Zungenspitze über ihren Hals.
„Lass sie sofort los, oder du wirst es bereuen!“, bedrohte er Adam und baute sich zu seiner vollen Größe auf.
„Mach noch einen weiteren Schritt und sie wird sterben!“ Ardric versuchte abzuschätzen, inwieweit er diesen Worten Glauben schenken konnte. Um sie nicht unnötig in Gefahr zu bringen, ging er diplomatisch an diese prekäre Angelegenheit heran.
„Adam, das willst du doch gar nicht.
Lass Bessy los und wir reden in Ruhe darüber, was dich so in Rage gebracht hat“. Mit diesen beschwichtigenden Worten, versuchte Ardric Adam zu beruhigen, um die junge Schönheit aus seinen Fängen zu befreien. Doch Adam schien sich nicht besänftigen zu lassen.
„Ardric du gehörst mir!
Keine Frau wird dich mir wegnehmen können!
Ich kann dir so viel mehr geben, als du dir es je erträumen könntest, aber du musst mir vertrauen!“, meinte Adam mit bebender Stimme.
„Du sprichst von Vertrauen, während du eine unschuldige Frau in deiner Gewalt hast und mir mit ihrem Tod drohst, wenn ich nicht das tue, was du von mir verlangst!?“ Ardric schüttelte verständnislos den Kopf und ging mit geballten Fäusten auf Adam zu.
„Ich habe dich gewarnt!“, grollte Adam. Plötzlich verzog sich sein Gesicht zu einer grausamen Fratze. Mit dem Herausschnellen seiner Fangzähne, war die Verwandlung abgeschlossen. Zum ersten Mal offenbarte Adam seinem geliebten Engel seine wahre Natur. Ardric sah ihn voller Entsetzen an.
„Was bist du?“, fragte er und war fassungslos.
„Ich bin ein Geschöpf der Nacht, dazu verbannt im ewigen Schatten zu wandeln und mir das Leben von Menschen zu nehmen, um bei Kräften zu bleiben.
Ich bin ein Vampir!“, verkündete Adam mit theatralisch tiefer Stimme. Als Bessy Bouvier hörte, was Adam van Argyll sagte, bekam sie Todesangst und versuchte sich mit aller Macht loszureißen. Doch ebenso, wie die verzweifelten Hilferufe, in ihrer Kehle erstickten, scheiterten auch ihre Befreiungsversuche. Ardric traute seine Augen nicht.
„Das kann nicht sein…es…solche Wesen gibt es nicht…kann es nicht geben!“, stammelte er ungläubig. Um Ardrics Zweifel endgültig auszulöschen, tat Adam das, was er sowieso schon mit Bessy vorhatte. Genüsslich biss er in ihren Hals und labte sich an ihrem Blut. Vor lauter Schreck, wurde das zartbesaitete Geburtstagskind ohnmächtig und sackte in den Armen ihres Peinigers zusammen. Endlich fand Ardric wieder seine Fassung und tat das Einzige, um sie zu retten.
„Hör sofort auf Adam!
Ich mach alles, was du willst, aber bitte lass sie am Leben!“, bettelte er. Ardrics Herz raste, denn er ahnte, dass das, was ihn erwartete, nichts Gutes verhieß. Adam sah ihn eindringlich an. Als er die Verzweiflung in seinen Augen sah, ließ er von seinem Opfer ab und legte sie behutsam auf den Fußboden. Mit dem Ärmel wischte er sich das Blut vom Mund und ging zu Ardric hinüber. Obwohl Adam riechen konnte, dass Ardric Angst vor ihm hatte, so bewies er jedoch Stärke, denn äußerlich ließ er sich nichts anmerken.
Bevor sie das Separee verließen, warf Ardric einen letzten besorgten Blick auf die scheinbar schlafende Bessy, die aussah wie eine lebensgroße Porzellanpuppe, die Kinder beim Spielen einfach am Boden haben liegen lassen.
„Keine Sorge, sie lebt.
Ihr Herz schlägt noch.
Sie wird mit Kopfschmerzen und Schwindelgefühl erwachen und glauben, dass das alles nur ein fürchterlicher Traum war.
Und jetzt komm, mein Prinz, wir müssen uns beeilen!“, meinte Adam und zog Ardric mit sich, der keinerlei Widerstand leistete.

*****



Erst als sie wieder in ihrem Anwesen angekommen waren und Ardric etwas mehr Abstand gewann, fand er seine Stimme wieder. Zu beklemmend war die kleine Kutsche, als dass auch nur irgendein klarer Gedanke von ihm hätte in Worte gefasst werden können. Zudem brauchte er eine Weile, um die Tatsache zu verarbeiten, dass der Mann, der ihn all die Jahre aufgezogen hatte und ihn den Vater, und durch seine mütterlich fürsorgliche Art, hin und wieder auch die Mutter ersetzte, ein Vampir war, der wer weiß wie viel Menschenleben auf dem Gewissen hatte.
Hatten Vampire überhaupt noch ein Gewissen?
Selbst jetzt, in den geräumigen Hallen ihres Domizils, empfand er ein Unwohlsein, das ihn kalte Schauer über den Rücken jagte, denn er fühlte sich in Adams Anwesenheit nicht mehr sicher. Zudem kamen der Vertrauensbruch und das Gefühl des Verrats, die er nicht mehr von sich abschütteln konnte.
Doch nun machte so einiges Sinn.
Die ständigen Umzüge bei Nacht und Nebel, und all die Frauen, die urplötzlich verschwunden waren, oder nichts mehr mit ihm zu tun haben wollten. Adams Lustlosigkeit, bei Tag und Sonnenschein, die Städte zu erkundschaften u seine Angewohnheit, jedes Fenster, durch dass das Tageslicht seinen Weg ins Innere der Behausung finden konnte, akribisch abzudecken, sodass zu jeder Tages- und Nachtzeit ständige Finsternis herrschte, die nur durch Kerzenschein erhellt wurde.
All die Geschichten, die man sich auf Festlichkeiten untereinander von diesen Phantomen erzählte, um sich gegenseitig zu belustigen, waren keine amüsanten Erfindung für den Zeitvertreib mehr, sondern wirklich gewordene Illusionen, die eine echte Gefahr in sich bargen.
Ardric ging so vieles im Kopf umher, doch eines war im klar. Niemals wollte er zu solch einem Wesen werden und so blieb ihm nur der endgültige Tot als Ausweg, denn er wusste, dass Adam ihn auf gar keinen Fall gehen lassen würde, um ein normales Leben zu führen.
„Wie soll es jetzt weiter gehen?“, fragte er mit monotoner Stimme und bereitete sich innerlich auf das Unumgängliche vor.
„Oh du mein Engel.
Endlich muss ich mein Wahres Ich nicht mehr vor dir verbergen!
Und wenn du erst einmal so bist, wie ich, kann uns nichts und niemand mehr trennen.
Ich bin so glücklich, dass du es selbst eingesehen hast, dass wir zusammen gehören!“, meinte Adam erfreut und tänzelte leichtfüßig, wie ein liebestoller Narr, durch den Raum.
„Versteh das nicht falsch.
Ich habe das nur gesagt, um Bessy Bouvier zu retten, denn sie hat mit alledem nichts zu tun.
Ich habe meine Wahl getroffen.
Töte mich!
Gleich hier und jetzt, denn lieben, werde ich dich nie!“, rief Ardric wütend aus und riss sich demonstrativ das Hemd vom Leib. Zum Vorschein kam sein athletischer Körper, der seinesgleichen suchte. Muskeln, die unter der samtenen Haut spannten, die nach zahllosen Sonnenbädern roch.
Ardric war stets ein Kind der Sonne gewesen und ließ selten eine Möglichkeit aus, dem griechischen Sonnengott Helios, mit seinem nackten Körper zu huldigen.
„Hier, nimm mich!
Und wenn du mich wirklich so sehr liebst, wie du es behauptest, dann mach schnell und lass mich nicht leiden“, bat er ihn. Ardric breitete seine Arme seitlich aus und schloss seine Augen, denn er wollte nicht sehen, wie er starb.
Keine drei Herzschläge später, spürte er die kalten Finger von Adam, wie sie über seine bebende Brust glitten und jeden Millimeter seines entblößten Oberkörpers erkundschafteten.
Vor lauter Ekel bekam er eine Gänsehaut, die Adam jedoch falsch interpretierte. Für ihn war es nur ein weiterer Ansporn, seinem Engel das Geschenk des ewigen Lebens zu vermachen und seinen Todeswunsch nicht zu erfüllen.
Voller Zärtlichkeit umschloss er Ardrics zitternden Körper und genoss die Wärme, die er ausstrahlte. Er kostete die Intimität, die dieses Vorhaben mit sich brachte, in vollen Zügen aus. Sein wild schlagendes Herz, war wie Musik in seinen Ohren. Er fühlte den beschleunigten Puls nach, der sich am Hals bemerkbar machte, indem er mit seinen Lippen leicht über die Haut strich. Ardrics Haut schmeckte salzig vom Schweiß, denn es war eine laue Sommernacht. Die Nacht, in der Ardric Donovans junges Leben enden sollte.
Als er dann endlich seine Fangzähne in sein Fleisch schlug, sog Ardric die Luft scharf ein, denn der Vampirkuss schmerzte mehr, als er es vermutet hatte. Er hörte wir Adam, teils gierig schmatzend und teils lustvoll stöhnend, sein Blut trank und spürte, wie er von Sekunde zu Sekunde schwächer wurde.
Als langsam seine Lebensgeister entschwanden, sackte er in sich zusammen und sank gemeinsam mit Adam zu Boden. Wie zwei Liebende beim Liebesakt, lagen sie ineinander verschlungen auf dem kalten Steinboden.
Dann spürte er, wie Adam plötzlich von ihm abließ. Ardric wusste nicht, was dies zu bedeuten hatte. Er konnte fühlen, dass er sich bereits an der Schwelle des Todes befand.
Doch warum beendete Adam nicht sein Werk?
Eine metallisch schmeckende Flüssigkeit befeuchtete seinen Mund.
Was war das?
„Ich habe die Wahl schon längst getroffen, als ich dich zum ersten Mal erblickt habe, dass du der Meine bist.
Und nun trink mein Engel, trink“, hauchte ihm Adam ins Ohr, während er ihm zärtlich die vom Schweiß verklebten Strähnen aus der Stirn strich. Und dann wurde Ardric Bewusst, dass die metallisch schmeckende Flüssigkeit, Adams Blut war. Er wollte sich dagegen wehren und das Blut ausspucken, doch sein Körper hörte nicht mehr auf seine Befehle.
Mit allerletzter Kraft, richtete er zum Abschied das Wort an Adam.
„Das werde ich dir niemals verzeihen!“, wisperte er mit seinem letzten Atemzug und glitt endgültig ins Jenseits hinüber.

*****




Etwas stimmte nicht. So konnte sich auf gar keinen Fall der Tot anfühlen.
Oder etwa doch?
Ardric wusste nicht, wo er sich befand. Weder konnte er Wärme noch Kälte spüren, noch sich selbst, und doch war er da und hatte ein Bewusstsein. Er war verwirrt und versuchte sich an irgendetwas zu erinnern, doch alles was er zustande brachte, war das Gesicht einer Frau, das ihm fürchterlich bekannt vorkam. Immer wieder blitzte das Gesicht in seinen Gedanken auf. Mal lachend, mal weinend. Schlammfarbene Augen, die ihn liebevoll anblickten und plötzlich wusste er, zu wem dieses Gesicht gehörte.
Die Frau war seine Mutter!
Und dann kamen immer mehr Erinnerungen in ihm hoch. Wie er mit ihr von Stadt zu Stadt gezogen war und wie er immer auf sie warten musste, bis sie von ihrer Arbeit zurückgekommen war.
Und dann erinnerte er sich an diese eine Nacht, in der seine Mutter nicht mehr kam und er auf Adam van Argyll traf, der ihn mitnahm und ihm erzählte, dass er ein Waise sei und keine Mutter hatte.
Ardric wurde plötzlich wütend, denn er wusste, dass Adam ihn damals angelogen und manipuliert hatte. Die Wut verwandelte sich regelrecht in Raserei um, bis er es nicht mehr aushielt und zu schreien begann. Erst war es nur ein Knurren in der Kehle, doch es schwellte mehr und mehr an, bis es den Weg vorbei an seinen gereizten Stimmbändern und seinen Weg hinaus fand. Er schrie so laut, dass es in seinen Ohren dröhnte und in jeder Faser seines Ichs zu vibrieren schien. Und endlich konnte er sich selbst spüren, seinen Körper, seine Existenz.
„Mach deine Augen auf!“, rief ihm eine Stimme zu, die ihm vertraut war. Zuerst erschrak er, denn die Stimme schien so nah. Er folgte dieser Anweisung und öffnete sie, doch sogleich schlug er eine Hand vor seine Augen, denn das grelle Licht blendete ihn.
„Langsam!
Dein Geist braucht Zeit, um sich an seinen neuen Körper und seine verschärften Sinn zu gewöhnen“, ermahnte ihn die Stimme. Ardric blinzelte und sah neben der grellen Lichtquelle einen verschwommenen Umriss. Es dauerte eine Weile, doch dann gewöhnten sich seine empfindlichen Augen an das Licht, bis er erkennen konnte, dass es der schwache Schein einer einzigen Kerze war, die ihn geblendet hatte.
„Was hast du aus mir gemacht!“, schrie Ardric außer sich.
„Keine Sorge mein Engel, du wirst dich daran gewöhnen“, meinte die Stimme. Wie benommen taumelte Ardric auf den verschwommenen Umriss zu, bis er nah genug war, um Adam van Argyll zu erkennen.
„Warum Adam?
Warum hast du mir das angetan?“, schrie Ardric verzweifelt, den Tränen nahe, doch die salzig warme Flüssigkeit blieb aus.
„Weil ich dich liebe“, erwiderte er knapp.
„Es gibt so vieles, was du noch zu lernen hast, mein goldener Prinz.
Doch jetzt musst du dich stärken, dann geht es dir gleich besser“, meinte Adam und hielt ihm etwas hin. Ardric musste sich anstrengen, um zu erkennen, dass er einen reglosen Körper in seinen Armen hielt. Angewidert wich Ardric zurück.
„Das kannst du nicht von mir verlangen!“, grollte Ardric aufgebracht.
„Du wirst sehen, dass ich als dein Macher so einiges von dir verlangen kann.
Es ist ein ungeschriebenes Gesetz unter Vampiren, dass du dich, durch die Schöpferbindung, die uns ewig aneinander kettet, dem beugen musst, was ich dir sage.
Und nun befehle ich dir, mein Geschenk anzunehmen und zu trinken, bis das Herz aufhört zu schlagen!“, forderte Adam mit herrischer Stimme. Noch bevor Ardric etwas hätte dagegen sagen können, fühlte er eine unsichtbare Macht, die ihn zu seinem Macher zog. Adam übergab ihn den Knaben und sah, wie Ardric mit sich kämpfte.
„Er ist doch fast noch ein Kind!“, wandte er empört ein.
„Es war die Fügung des Schicksaals, denn er war der Erste, der mir über den Weg gelaufen ist.
Und jetzt trinke!“, keifte Adam ungeduldig. Augenblicklich fuhren Ardrics Fangzähne zum ersten Mal aus, was ein juckendes und unangenehmes Gefühl in seinem Mund auslöste. Immer wieder fuhr er mit seiner Zunge über sein Zahnfleisch, doch es verschaffte ihm keine Abhilfe.
„Ich befehle dir zu trinken!“, rief Adam erneut und man konnte aus seiner Stimme heraushören, wie sehr es ihn erzürnte, dass Ardric versuchte sich seinen Befehlen zu widersetzen. So sehr er sich auch dagegen zu sträuben versuchte, spürte er, wie sehr ein Teil seines Körpers das wollte.
Sämtliche Sinne waren geschärft.
Er spürte die Lebensenergie, die den Jungen umgab, und bei jedem Herzschlag, in kleinen vibrationsartigen Wellen, von seinem Körper abgegeben wurde. Er sah die Adern unter seiner blassen Haut, wie sie sich verlockend herauswölbten und unter der Last, ständig das Blut im Körper zu transportieren, kaum merklich zuckten, was für das menschliche Auge nicht sichtbar war.
Und er konnte ihn riechen. So viele Gerüche, die sich zu einem appetitlichen Cocktail mischten und ihm die Sinne zu vernebeln schienen.
Blut, Schweiß, Speichel und Sperma und der unverkennbare Duft einer Frau. Scheinbar war der Pechvogel auf dem Rückweg, nachdem er sich mit dem anderen Geschlecht vergnügt hatte. Alt genug war er zumindest, um diesem lustvollen Akt zu frönen. So waren zumindest die letzten Stunden seines Lebens süß und glücklich gewesen, da er sie zwischen den wollüstigen Schenkeln einer Frau verbringen konnte.
Ardric hielt es nicht mehr länger aus und stieß seine Fangzähne in das weiche Fleisch. Sobald er den ersten Tropfen Blut auf seiner Zunge schmeckte, erwachte etwas in ihm zum Leben. Ein Urtrieb, der ihn völlig übermannte und Besitz von ihm ergriff. Im blinden Hunger machte er sich über den Jungen her und schlug seine Fangzähne immer wieder in das saftige Fleisch.
Wie eine seelenlose Bestie, besessen von animalischen Trieben, schändete er den Körper bis zur Unkenntlichkeit. Als das Herz des Knaben endlich zu schlagen aufhörte, konnte Ardric von ihm ablassen, denn somit war der Befehl seines Machers erfüllt und er war wieder Herr über seinen Körper.
Bestürzt von dem Anblick, der sich vor ihm auftat, schämte er sich dafür, was er dem unschuldigen Jungen angetan hatte. Eine Blutlache breitete sich vor ihm aus. Fleisch hing von gebrochenen Knochen und die Gedärme hingen heraus, wie bei einem Schlachtvieh, das im Markt zur Beschauung dargeboten wurde.
Von seinen Gefühlen überwältigt, wusste Ardric nicht, wie er mit seinem Dasein als Vampir umgehen sollte. Sein Gemütszustand änderte sich sekündlich. Mal war er zutiefst bestürzt und dann wieder cholerisch. In seiner Verzweiflung schlug er mit den Fäusten gegen die Steinwände. Doch der Schmerz, den er sich erhoffte, der ihn davon ablenken sollte, dass er ein Menschenleben auf dem Gewissen hatte, blieb aus. Er war nun so stark geworden, dass er mit seinen bloßen Fäusten eine solch massive Wand mit Leichtigkeit einschlagen konnte.
„Ardric mein blonder Engel, du musst dich wieder beruhigen!
Du kannst nicht das ganze Haus in Schutt und Asche legen.
Daran wirst du dich gewöhnen müssen, schließlich gehört es zu unserer Natur uns von den schwächeren Lebewesen auf Erden zu ernähren und das sind nun mal die Menschen“, erklärte ihm Adam mit nüchterner Sachlichkeit. Doch Ardric wollte sich nicht mehr beruhigen.
„Ist es das was du wolltest?“, fragte er und stellte sich mit blutverschmiertem Oberkörper vor ihm auf. Adam eilte zu ihm hin und wollte ihn tröstend in die Arme schließen, doch Ardric wich ihm blitzschnell aus. Er lernte schnell, wie er seine neugewonnen Kräften als Vampir anzuwenden hatte.
„Befehle es mir doch, mich zu beruhigen!
Du hast ein Monstrum aus mir gemacht.
Einen Sklaven, eine Puppe, mit der du wie nach Belieben handhaben kannst.
Wie ein Hund, der sich dir unterzuordnen hat!“, brüllte er.
„Nein, so ist es nicht!
Ich habe dich zu einem ebenbürtigen Vampir gemacht“, entgegnete ihm Adam.
„Ebenbürtig?
Und doch kannst du mir Befehlen, was ich zu tun und zu lassen habe!“, widersprach er ihm. Plötzlich veränderte sich etwas in Ardrics Augen. Sie leuchteten nicht mehr wie Bernstein, sondern loderten gefährlich auf, wie flüssiges Lavagestein.
„Warum ich, Adam?
Weshalb hast du mich auserwählt?“, wollte er nun wissen.
„Ich genoss deine erfrischend dümmliche und naive Art.
Und deine Augen hatten es mir letztendlich angetan.
Ich war schon so unglaublich lange einsam und wollte endlich wieder Gesellschaft“, erklärte er ihm seine Beweggründe.
„Und du dachtest dir, wenn ich alt genug bin, könnte ich dein Liebhaber werden“, schlussfolgerte Ardric. Adam nickte. Nun wich er seinen Annäherungsversuchen nicht mehr länger aus. Im Gegenteil. Ardric begann damit Adams Nacken zu liebkosen. Er schmiegte sich an ihn und küsste seine Schultern, seine Schlüsselbeine, bis er direkt vor ihm stand. Dann knöpfte er langsam seine Bluse auf und zog sie ihm aus. Adam genoss die Zärtlichkeiten, denn genau das hatte er sich schon so lange gewünscht.
„Ich weiß, dass ich kein Waise bin.
Was ist mit meiner Mutter geschehen?“, fragte er zwischen den immer fordernd werdenden Küssen. Adam legte seinen Kopf in den Nacken und stöhnte lustvoll auf.
„Wenn du es mir verrätst, küsse ich dich mit Zunge“, versprach ihm Ardric. Adam rieb seine Stirn an Ardrics Wange und verriet es ihm mit keuchender Stimme.
„Ich habe euch gesehen, wie ihr in der Stadt angekommen seid.
Und eigentlich hatte ich zuerst keinerlei Interesse an euch, bis ich deine seltene Augenfarbe gesehen hatte.
Da wurde ich neugierig.
Also bin ich deiner Mutter nachgeschlichen, als sie dich alleine zurück gelassen hat und in einem unbedachten Augenblick, zog ich sie in eine Gasse und habe ihr das Genick umgedreht“, gestand er ihm voller Erregung.
„Sie ist tot?“, fragte er ungläubig. Nun hatte er Gewissheit. Zwar hatte er es bereits vermutet, doch diese Erkenntnis, brachte ihn die wenigen Erinnerungen, die er noch an seine Mutter hatte, schmerzlich zurück. Adam konnte den Schmerz in seinen Augen sehen, was ihn verärgerte.
„Deine Hure von Mutter hat dich doch gar nicht geliebt!
Nicht so, wie ich dich liebe!
Jetzt vergesse sie, schließlich ist sie nicht erst seit heute tot, sondern seit dem Tag unserer ersten Begegnung.
Und so leistete sie zumindest mit ihrem verwesenden Korpus einen guten Dienst an der Natur, denn bei dir hatte sie völlig versagt.
Als ich dich entdeckt hatte, warst du ausgehungert, verdreckt und beinahe dumm wie Brot.
Sei froh und erfreue dich an deinem neuen Leben“, meinte Adam gönnerhaft und versuchte dort fortzufahren, wo die beiden gerade noch beschäftigt zugange waren. Ardrics Augen loderten auf, wie noch niemals zuvor, während er den ungeschickten Liebkosungsbemühungen von Adam auswich. In ihm brodelte ein noch nie dagewesenes Gefühl von Hass und Mordlust auf, die ungeahnte Kräfte freisetzten.
„Gefällt es dir etwa nicht, mein Liebster?“, fragte Adam, als er bemerkte, dass Ardric nicht mehr bei der Sache war. Er sah ihm tief in die Augen und versuchte zu verstehen, was das flackernde Feuer darin zu bedeuten hatte. Ardric zog Adam dicht an sich heran, sodass seine Lippen, sein Ohr berührten.
„Eines kann selbst Gott nicht.
Vergangenes ungeschehen machen“, flüsterte er ihm zum Abschied ins Ohr. Noch bevor Adam bemerkte, wie ihm geschah, gruben sich Ardrics Finger in seinen Brustkorb, um ihn sein Herz zu entreißen. Die Überraschung war ihm anzusehen. Adam sah an sich herunter und betrachtete die klaffende Wunde. Mit zitternden Händen, versuchte er den Blutstrom zu stoppen, doch es half nichts. Er konnte bereits fühlen, wie der Zerfall begann. Achtlos ließ Ardric den verkümmerten Fleischklumpen, den er in seiner Hand hielt, auf den Boden fallen und sah zu, wie sein Macher starb. Mit der Aufwartung seiner letzten Kräfte, sah er seinen blonden Engel zum letzten Mal an und verspürte trotz allem, nichts als Liebe für ihn.
„Ich habe dich aufrichtig geliebt“, keuchte er, bevor er endgültig zu Boden sackte und Sekunden später zu Asche verfiel.
Im nächsten Moment verspürte Ardric ein kurzes und unangenehmes Ziehen in der Brust. Obwohl er nun keinen Macher mehr hatte, der ihn Lehren konnte, was es bedeutete, ein Vampir zu sein, so wusste er, dass mit dem Tot von Adam van Argyll, die Schöpferbindung und der einhergehende Gehorsam hinfällig wurden. Wie eine gesprengte Fessel, fiel sie von ihm ab und gab ihn seine Selbstbestimmung zurück. Endlich war er frei.

*****



Nachdem Ardric sämtliche Spuren beseitigt hatte, packte er nur das Nötigste ein. Ein paar Gewänder, Geld und Adams Spazierstock, den er als Andenken an seinen Macher, bei sich wissen wollte.
So sehr er es anfänglich hasste, was Adam ihm angetan hatte, so wurde ihm bewusst, welch ungeahnte Möglichkeiten er mit seinem neuen Leben dargeboten bekam und er wollte diese Chancen nicht ungenutzt lassen. Zudem gewöhnte er sich ziemlich schnell an den Gedanken, für immer zu leben und seine neugewonnene Macht auszunutzen. Auch wenn er dazu verdammt war, in der Dunkelheit zu leben, so hatte das Dasein als Vampir nicht nur seine Schattenseiten.

Um sein neues Leben gebührend einzuläuten, machte er auf seinem Weg hinaus in die Welt, um Seinesgleichen aufzuspüren, einen Zwischenstopp. Denn zur Feier seiner Wiedergeburt, wollte er sich mit einem sinnvollen<< Geschenk belohnen. Er holte sich das, was ihm zustand. Ein Kuss von Bessy Bouvier.

THE END


Impressum

Texte: copyright Juli 2012 T. J. Hudspeth
Tag der Veröffentlichung: 05.07.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Buch widme ich all den Ungläubigen, die sich der Wahrhaftigkeit der Vampire entsagen. Die Illusion ist mehr, als nur ein Phantom. Eines Tages, ist es kein Schatten mehr, vor dem Ihr des Nachts zurück schreckt, sondern Euer wahr gewordener Albtraum.

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