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Die
Nachtwanderin
Teil 1
(aus der Dark-Craving-Reihe)




© 2011 T. J. Hudspeth




Die Nacht offenbart uns
alles, was am Tag
verborgen bleibt.
Geschöpfe, die der Mensch
nicht begreifen kann.
Ob wir unsere Augen nun davor
verschließen, oder nicht,
die Kreaturen der Dunkelheit sind mitten unter uns.




Mimma saß auf einem Kissenberg in einer Nische eines Szenekaffees. Halbherzig nippte sie an ihrem Kaffee und hing ihren Gedanken nach. Ausdruckslos starrte sie aus dem Fenster und sah zu, wie der Regen sich in Sturzbächen ergoss. Von weiter Ferne konnte sie ein ihr vertrautes Klingeln vernehmen. Es war ein Handy, das klingelte, doch sie schien es kaum wahrzunehmen. Das Klingeln wurde immer aufdringlicher, bis sie endlich bemerkte, dass es ihr Handy war, das unaufhörlich läutete. Sie kramte es aus der Seitentasche ihrer Handtasche heraus und blickte auf das hellgrün erleuchtete Display. Stranger war darauf in großen Lettern zu lesen. Als ihr bewusst wurde, wer gerade versuchte sie anzurufen, wurde sie plötzlich sehr nervös. Mimma stieß ein Keuchen aus, drückte auf den grünen Telefonknopf und nahm mit zittriger Stimme den Anrufer entgegen. Angespannt hörte sie zu, was ihr die bekannte, männliche Stimme zu sagen hatte. Sie holte sich einen kleinen Notizblock und einen Stift aus ihrer Handtasche, zwei wichtige Utensilien, die Mimma immer bei sich trug. Anschließend notierte sie sich die Anweisungen, die ihr der Mann am anderen Ende der Leitung, mit leicht monotoner Stimme übermittelte. Sie schrieb die Adresse und die Uhrzeit auf, wann sie sich an diesem Ort einfinden sollte. Ihr Herz raste. Mimma war klar, dass das erste Treffen schon bald stattfinden würde, doch jetzt traf es sie unerwarteter, als sie es sich gedacht hatte.
Oft ging sie in Gedanken verschiedene Szenarien durch, wie es wohl ablaufen würde, um sich mental darauf vorbereiten zu können, doch es half ihr nicht, diese Situation nun besser handeln zu können.
Zum Schluss des Gespräches sagte ihr der Anrufer mit sehr eindringlicher Stimme, dass Mimma das Treffen auf gar keinen Fall verschieben könne. Er machte ihr ausdrücklich klar, dass für sie eine Menge auf dem Spiel stand, mehr, als sie bis dato wusste. Ansonsten sollte sich Mimma genau an das Gesagte halten. Mit dem Telefon am Ohr, nickte sie unbewusst mit dem Kopf zur Bestätigung. Als ob der geheimnisvolle Anrufer an der anderen Leitung Mimma sehen konnte, beantwortete er Mimmas Kopfnicken.
„Gut, dann sind wir uns einig“, sagte er mit seiner tiefen Stimme.
Mimma hatte darauf nichts mehr zu erwidern und wartete darauf, dass er als erstes das Gespräch beendete und auflegte. Sie spitzte ihre Ohren, um das typische Piepen in der Leitung zu hören, doch plötzlich vernahm sie etwas, dass sich wie ein Grollen anhörte. Sie hörte genauer hin. Sie vernahm nun deutlich ein Knurren. Es erschien ihr wie eine Warnung. Erschrocken drückte Mimma den roten Telefonknopf und legte auf. So schnell wie möglich wollte sie ihr Handy loswerden und legte es auf den Tisch. Mit halb sorgenvoller, halb ängstlicher Miene rieb sie ihre zittrigen Hände mehrmals über ihre Oberschenkel. Mit einem unangenehmen Gefühl, das sie nicht mehr los ließ, rieb sie ihr Ohr, an dem sie zuvor noch das Knurren aus dem Handy hörte, so, als ob sie versuchte das Knurren aus ihrem Kopf zu bekommen, es ungeschehen zu machen. Ein jämmerlicher Versuch, der ihr nur ein rotes Ohr einbrachte. Das Knurren hatte sich bereits in ihre Gehörgänge eingebrannt. Mit verbissener Miene, starrte Mimma auf ihren Notizblock.
„Ob doch mehr an der Geschichte dran ist?“, stammelte sie flüsternd vor sich hin. Sie hatte keine andere Wahl. Nicht dieses Mal. Ihr war bewusst, dass es nun kein Zurück mehr für sie gab. Kurz kam ihr der Gedanke, einfach nicht hinzugehen und auch nicht auf seine Anrufe zu reagieren, doch ihr war bereits klar, dass mit diesem Mann nicht zu spaßen war. Er war anders als all die anderen Männer, die sie jemals kennen gelernt hatte. Wenn sie es sich recht überlegte, war er sogar anders als je ein Mensch, den sie in ihrem jungen Leben kennen gelernt hatte. In ihren Überlegungen ging sie sogar so weit zu glauben, dass seine Präsenz, die sie damals spürte, mit Menschlichkeit nicht viel gemeinsam hatte. Doch dann schüttelte sie ihren Kopf, um diesen absurden Gedanken schnell wieder los zu werden. Schließlich brauchte Mimma ihr letztes Bisschen an Mut, um sich an die Abmachung zu halten und sich mit dem unheimlichen Mann zu treffen. Ein kurzer Blick auf die digitale Uhrenanzeige ihres Handys zeigte ihr, dass sie sich besser auf den Weg machen sollte, um pünktlich am Treffpunkt anzukommen. Mimma wollte den Mann nicht noch unnötig mit Unpünktlichkeit verärgern. Sie packte ihre Sachen in ihre Handtasche und machte sich daran das Kaffee zu verlassen. Ihren fast noch vollen, jedoch kalt kaltgewordenen und somit für Mimma ungenießbaren Kaffee, ließ sie am Tisch stehen. Sie zog sich ihren dunkel violetten Mantel an und stülpte sich die daran angebrachte Kapuze über, um sich vor dem Regen zu schützen, der nach wie vor an Stärke nicht verloren hatte und begab sich hinaus in das Unwetter.
Mimma lief eine Weile durch die fast menschenleeren Straßen. Die meisten hatten in Restaurants, Bars und Einkaufsläden Schutz vor dem Regen gesucht. Andere sind in ihre Mietswohnungen und Häuser geflüchtet, um sich nicht womöglich noch eine Erkältung einzufangen. Während sie so lief, ging sie in Gedanken ihr bisheriges Leben durch, bis zu dieser einen Nacht, die alles veränderte.

*****



Mimma war das letztgeborene Kind von insgesamt fünf Kindern. Ihre Mutter war alleinerziehend. Mit ihren anderen Geschwistern verstand sich Mimma nicht, denn sie hatte die Stellung als Nesthäkchen inne. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit, piesackten ihre älteren Geschwister sie. Sie ließen Mimma von Anfang an spüren, dass sie nicht erwünscht war. Durch die ständigen Quälereien ihrer Geschwister und die fehlende Liebe ihrer Mutter, stumpfte Mimma ab und zog sich immer mehr zurück. Während sie heranwuchs, wurde sie zu einer Einzelgängerin, die weder in der Schule, noch in ihrer Freizeit, Kontakt mit gleichaltrigen Kindern suchte. Sehr zum Ärgernis von Mimmas Lehrern, denn ihr asoziales Verhalten war für sie ein Dorn im Auge. Umso älter Mimma wurde, desto schwieriger wurde sie. Pädagogen waren mit ihren erzieherischen Maßnahmen erfolglos gewesen und somit mit ihrem Latein am Ende. Es folgte ein Marathon an Psychologen- und Sozialarbeiterbesuchen. Doch auch das brachte keinen Erfolg. Sie legten ihrer Mutter nahe, Mimma mit Hilfe von psychopharmazeutischen Medikamenten ruhig zu stellen. Die chemischen Bomben sollten ihre Emotionen völlig lahm legen. Doch dann hätte Mimma in eine betreute Wohngemeinschaft gehen müssen, denn mit den Medikamenten wäre ein normales Leben für sie nicht mehr denkbar gewesen. Doch Mimmas Mutter fehlte dazu der Mut. Außerdem wollte sie nicht wahr haben, dass sie als Mutter völlig versagt hatte. Mimma war alles egal. Sie spürte sowieso nichts mehr. Alles was sie wollte, war von ihrer Familie weg zu kommen und frei zu sein. Wenn Freiheit für sie also bedeutete, vollgepumpt mit Medikamenten und sabbernd in der Ecke eines betreuten Wohnheims zu sitzen und Löcher in die Luft zu starren, wie ein gehirnloser Zombie, dann wäre ihr diese abgewandelte Form von Freiheit auch recht gewesen. Hauptsache sie konnte der Hölle, die sich ihre Familie nannte, endlich entfliehen.

Irgendwann, als Mimma so zwischen 16 und 17 Jahren alt war, flatterte mal wieder ein Brief von der Schule nach Hause, indem sich die Schulleitung über das Verhalten und über die vielen Fehltage von Mimma beschwerte. Das war der Augenblick, als Mimmas Mutter endgültig mit ihren Kräften am Ende war. Alles was sie wollte, war dass es endlich aufhörte. Sie wollte keine negativen Briefe mehr von der Schule erhalten, die beinahe täglich den Briefkasten füllten und schon ohnehin an ihrem leichten Nervenkostüm zerrten. Nicht nur die Disharmonie in der Familie, machte ihr zu schaffen, sondern auch die täglichen Anstrengungen irgendwie weiterzumachen. Jeden Tag musste sie von neuem schauen, wie sie ohne jegliche Unterstützung, fünf hungrige Mägen und ihren eigenen füllen konnte. Oft hungerte Mimmas Mutter, damit zumindest die Kinder satt und zufrieden ins Bett gehen konnten. Der ständige Kampf ums Überleben stand Mimmas Mutter ins Gesicht geschrieben. Sie sah um einiges älter aus, als sie es eigentlich war und auch ihr Körper streikte. Jeden Tag hatte sie andere Wehwehchen, die ihr das Leben erschwerten.
Als Mimma nach der Schule nach Hause kam, fand sie ihre Mutter am Küchentisch vor. Beide Arme auf den Tisch gestützt, die ihren schweren Kopf hielten. Ihr Rücken war gekrümmt. Sie gab ein jämmerliches Abbild eines Menschen ab, dachte sich Mimma, dennoch hatte sie Mitleid mit ihr, denn ihre Mutter hatte alles falsch gemacht, was man in einem Menschenleben hätte falsch machen können. Sie hatte die falschen Männer, die nur auf ihr erspartes Geld aus waren. Mit diesen falschen Männern, bekam sie zur falschen Zeit, die falschen Kinder, im falschen Alter. Als der Geldfluss endgültig versiegte, verschwand auch der letzte Mann aus ihrem Leben. Mimmas Vater. Ein Taugenichts. Eine Beleidigung für die menschliche Rasse. Er war der erbärmlichste Mann, von den Männern, die Mimmas Mutter in ihrem Leben hatte. Das war wohl auch mit ein Grund dafür gewesen, weswegen Mimma von ihren älteren Geschwistern wie der letzte Abschaum behandelt wurde.
„Mimma, bist du das?“, fragte ihre Mutter mit schwacher Stimme, ohne ihren Kopf zu erheben.
„Ja“, antwortete Mimma trocken.
„Komm bitte her und setz dich, ich muss mit dir reden“, forderte sie Mimma auf. Mimma ging zum Tisch, zog einen der schäbigen und längst abgenutzten Holzstühle heraus und setzte sich zu ihrer Mutter, an den ebenso schäbigen second-hand Tisch. Sie machte sich darauf gefasst wieder eine Standpauke von ihr zu hören, als sie den geöffneten gelben Brief von der Schule sah. Gelb waren nur die Briefe, die direkt von der Schulleitung kamen und in denen stand nie etwas Gutes. Mimma wartete, dass ein Donnerwetter an Beschimpfungen über sie hereinbrach, doch ihre Mutter blieb ganz ruhig. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis Mimmas Mutter tief Luft holte und mit leiser, gebrechlicher Stimme zu sprechen begann. Mimma konnte aus der belegten Stimme ihrer Mutter heraushören, dass sie geweint haben musste. Wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Mimmas Mutter wegen ihr geweinte hatte.
„Mimi, ich habe dir das leider nie gesagt, aber ich liebe dich“, sagte ihre Mutter gebrochen. Das traf Mimma völlig unerwartet. Sie spürte einen Kloß im Hals und beim Einatmen stach es in ihrer Brust. Mimma rieb sich mit der flachen Hand über die stechende Stelle, doch es hörte nicht auf. Dann fühlte sie, wie ihr Gesicht heiß wurde. Sonst hatte Mimma ihre Emotionen immer im Griff, denn sie zeigte schlichtweg keine. Doch jetzt quollen ihr unkontrolliert die Tränen aus den Augen. Sie liefen ihr über die Wangen und tropften am Kinn hinunter auf ihre Beine. Mimma ballte ihre Hände, die in ihrem Schoß ruhten, zu Fäusten und hielt die Luft an. Sie versuchte die Tränen zu stoppen, doch es gelang ihr nicht. Mimmas Mutter erhob den Kopf und starrte ungläubig in das Tränenüberflutete Gesicht ihrer Tochter. Mimma erwiderte den Blick und sah in die vom vielen Heulen verquollenen Augen ihrer Mutter, die sich ebenfalls mit Tränen füllten. Sie saßen beide reglos da. Nur das Schluchzen der Mutter war zu hören, doch Mimma gab keinen Mucks von sich. Es war ein stilles Weinen, äußerlich, doch innerlich brodelte es in ihr. Zu gerne wäre sie aufgesprungen und hätte ihre Mutter angeschrien, dass dieses Bekenntnis über 16 Jahre zu spät kam. Doch so viel Kontrolle hatte sie noch über ihre Emotionen, dass sie es sein ließ und einfach still weinend da saß.
„Mimi, es tut mir so leid, dass ich dir nie eine richtige Mutter war!“, schluchzte ihre Mutter auf und hoffte, dass wenn sie Mimma mit ihrem Kosenamen ansprach, sie zu ihr durchdringen konnte. Mimma saß noch immer mit geballten Fäusten da. Unwillkürlich begann ihr ganzer Körper zu zittern.
„Zumindest einmal möchte ich dir eine Mutter sein und etwas richtig machen und deswegen bitte ich dich, weil ich dich liebe, zu gehen“, flüsterte sie mit weinerlicher Stimme und wendete ihren Blick von Mimma ab. Die Augen fest auf die Tischplatte geheftet, redete sie weiter, ansonsten hätte sie nämlich den Mut dazu verloren.
„Du bist ein wunderbares, intelligentes Mädchen, Mimi.
Du bist anders und passt in unsere Familie einfach nicht rein und ich verstehe das.
Menschen können nicht alle gleich sein.
Ich möchte nicht, dass du in irgendeinem Heim vor dich dahinvegetierst, vollgestopft mit Tabletten….nein, das möchte ich nicht!
Aus diesem Grund bitte ich dich zu gehen.
Ich weiß du bist noch nicht volljährig, aber ich weiß auch, dass du schlau genug bist, dich alleine durch dieses raue Leben zu schlagen.
Das ist die beste Entscheidung, die ich für mich, aber vor allem für dich treffen kann. Ich möchte, dass du glücklich wirst, aber nicht hier bei mir, denn das ist einfach nicht möglich.
Zieh hinaus in die Welt. Ich bin mir sicher, dass du dort dein Glück finden wirst.
Ich lass dich gehen, denn ich will nur dein Bestes.
Ich hoffe du verstehst meine Entscheidung Mimi.“ Damit beendete sie ihren Monolog. Mimma versuchte die Worte ihrer Mutter zu verarbeiten und zu verstehen, was sie ihr gerade mitgeteilt hatte. Mimma wurde klar, dass ihre Mutter zum ersten Mal richtig gehandelt hatte. Ihre Mutter suchte wieder den Augenkontakt mit ihr. Mimma nickte und gab ihr somit zu verstehen, dass sie mit dieser außergewöhnlichen Entscheidung einverstanden war. Erleichtert fiel Mimmas Mutter ihr um den Hals und drückte sie fest an ihre Brust. Erschrocken streckte Mimma zuerst ihre Arme von sich, denn sie wurde noch nie umarmt, geschweige denn von ihrer eigenen Mutter, doch dann erwiderte sie die Umarmung und drückte sie ebenfalls fest an ihre Brust. Dann sagte Mimma etwas, dass sie zuvor noch nie sagte.
„Mom, ich liebe dich!“
Bei diesen Worten quollen Mimma erneut die Tränen aus den Augen, doch diesmal vor Freude. Zum ersten Mal verspürte sie ein Glücksgefühl. All der Zorn und Hass und all die Wut, die Mimma gegen ihre Mutter gehegt hatte, verpufften plötzlich durch diese eine noble Tat ihrer Mutter. Mimma löste sich aus der Umarmung, stand auf und ging in ihr Zimmer, das mehr einer Putzkammer glich, als einem angemessenen Zimmer für einen jungen Teenager. Sie packte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen, die sich über die Jahre angesammelt hatten. Darunter waren all ihre Bücher, nur eine Handvoll, denn sie hatte nie das Geld, um sich mehr zu leisten. Bücher, die ihr die Welt bedeuteten, denn das war alles, was sie in all den Jahren voller Qualen und Hass hatte. Auf ihre Bücher konnte sie sich verlassen. Egal zu welcher Zeit und egal wie oft sie die Bücher laß, sie ließen Mimma nie im Stich und entführten sie aus ihrer tristen und lieblosen Welt, in eine Fantasiewelt voller Glanz und Wohlstand und das wichtigste, in eine Fantasiewelt voller Liebe. Und am besten konnten das die Romane von Jane Austen.
Behutsam verstaute sie die Bücher zusammen mit ein paar alten Jeans, T-Shirts, Longsleves und Unterwäsche, in einer roten Umhängetasche. Aus dem Badezimmer holte sie sich ihre Zahnbürste, eine bereits angebrochene Tube Zahnpaste, ein Stück Seife, ein Handtuch und die Hälfte eines in der Mitte zerbrochenen Kammes. Das war alles, was sie benötigte. Sie wusch sich ihr von Tränen verklebtes Gesicht, dann blickte sie in den Spiegel und was sie sah, war Zufriedenheit, zum ersten Mal. Ansonsten hatte sie keine Andenken. Keine Fotos. Nichts. Alles was Mimma blieb, war die Erinnerung. Sie hörte die Stimmen ihrer Geschwister in ihren Zimmern, doch mit ihnen verband sie nichts. Ebenso hätten es wildfremde Menschen sein können und sie wusste nicht, weswegen sie sich von wildfremden Menschen hätte verabschieden sollen.
Ihre Mutter saß noch immer am Küchentisch. Als sie Mimmas Schritte hörte, erhob sie den Kopf, doch sie hatte nicht die Kraft aufzustehen, um ihr Lebewohl zu sagen. Sie kämpfte mit den Tränen, als Mimma mit der gepackten Tasche vor ihr stand und verlor den Kampf. Wie eine niemals versiegende Quelle, schossen ihr die Tränen aus den Augen und befeuchteten ihr mit Sorgenfalten verunstaltetes Gesicht. Keiner der Beiden sagte ein Wort. Mimma ging zu ihrer Mutter und gab ihr einen Kuss zum Abschied auf die Wange. Der erste und der letzte Kuss. Denn beide wussten, dass sie sich nie mehr wieder sehen würden. Als Mimma zu Tür hinaus ging, drehte sie sich ein letztes Mal um und warf ihrer Mutter ein Lächeln zu. Es war ein Lächeln, dass ihr all die qualvollen Jahre, die Mimma hatte durchleben müssen, verzieh. Mimmas Mutter erwiderte schweren Herzens dieses Lächeln und formte mit den Lippen ein stummes Ich liebe dich. Dann zog Mimma die Tür ins Schloss. Das war das letzte Mal, dass sich Mimma und ihre Mutter sahen.

*****



Mimma reiste einige Wochen durchs Land. Entweder fuhr sie schwarz mit dem Zug, oder per Anhalter. Immer wieder erbarmte sich jemand und nahm sie ein Stück mit. Sie hatte kein bestimmtes Ziel vor Augen. Ihr war nur wichtig, dass sie sich so weit wie möglich von ihrem Geburtsort

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Copyright 2011 T. J. Hudspeth
Bildmaterialien: http://www.flickr.com/people/francapicc/
Tag der Veröffentlichung: 23.12.2011
ISBN: 978-3-86479-068-3

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