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Daria stieg aus dem Bus aus und sah sich um. Sofort ergriff der Wind ihr langes Haar und ließ es für einige Sekunden wie schwerelos in der Luft tanzen. Daria seufzte und ließ ihre Schultern hängen, denn was sie sah, beeindruckte sie nicht im Geringsten. Daria war ein Stadtkind durch und durch, doch diese kleinbürgerliche Stadt, die von nun ab ihr neues Zuhause war, hatte einen Old McDonald Farmflair, gepaart mit dem arglosen Leben eines einfachen Fischers - Oakville Kanada. Es war die Geburtsstadt ihrer Mutter und die Heimat ihrer Großmutter Beth. Sie war alles, was Daria noch hatte.
„Daria mein Liebling, hier bin ich“, rief ihre Großmutter ihr wildgestikulierend zu. Daria rang sich ein müdes Lächeln ab und ging zur ihr rüber. Ihre Großmutter ließ es sich nicht nehmen, Daria zur Begrüßung fest an sich zu drücken. Für einen kurzen Augenblick schloss Daria ihre Augen und sog den Duft von Lavendel und Zimt ein, der ihre Großmutter umgab. Es war schon eine halbe Ewigkeit her, als sie das letzte Mal in Oakville war, um ihre Großmutter zu besuchen, doch der Geruch von ihr und Oakville, war noch immer derselbe, wie aus den Tagen ihrer Sommerurlaube, die sie als Kind dort verbracht hatte. Eine glückliche und unbeschwerte Zeit, die Daria sich sehnlichst wieder zurück wünschte. Abermals atmete Daria tief ein und rümpfte ihre Nase.
„Was ist, bekommt dir die gute Luft etwa nicht?“, fragte ihre Großmutter sie, als sie Darias angeekelten Gesichtsausdruck sah.
„Ich hatte ganz vergessen, wie sehr es hier an manchen Tagen nach Fisch riechen kann, wenn man dem Ontario See zu nahe kommt“, meinte Daria und warf einen skeptischen Blick zum Hafen.
„Ach an den Geruch wirst du dich bald gewöhnen. Nach ein paar Tagen riechst du es nicht einmal mehr. Außerdem liegt mein Haus ziemlich weit weg vom Hafen. Du wirst von der frischen Seeprise also kaum etwas abbekommen“, meinte ihre Großmutter und half Daria ihr Gepäck in den Kofferraum des Autos zu verstauen. Daria warf nochmals einen Blick auf den See. Die Oberfläche glitzerte wie ein Meer aus Diamanten. Plötzlich schien Daria etwas zu sehen. Sie war sich nicht sicher, ob es eine Täuschung war, durch die Spiegelungen im Wasser, doch es sah aus wie ein Junge, der im See badete und sie direkt anstarrte.
„Daria was ist? Willst du doch noch eine Weile am See bleiben und die frische Luft genießen?“, hakte ihre Großmutter scherzend nach.
„Nein, ich dachte nur, dass ich jemanden im See gesehen habe“, erwiderte Daria.
„Zu dieser Jahreszeit? Das ist eher unwahrscheinlich, dass jemand im Herbst dort schwimmen geht, denn der See ist viel zu kalt.“ Nun warf auch sie einen prüfenden Blick auf den See, doch sie konnte niemanden sehen.
„Vermutlich hast du dich geirrt und nur einen Fisch gesehen. Einen Lachs oder eine Forelle. Der Ontario See ist weltweit berühmt für seine Fische.“ Daria nickte, doch sie war sich sicher, keinen Fisch gesehen zu haben. Auf Drängen ihrer Großmutter, stieg Daria endlich in den Wagen, denn ihre Großmutter wollte schleunigst nach Hause, da sie etwas im Backofen hatte.

*****



Daria packte ihren Koffer aus und verstaute ihre Habseligkeiten in der Kommode und im Kleiderschrank ihres Zimmers. Es sah aus wie früher. Nichts hatte sich verändert, bis auf das Bett. Ihre Großmutter hatte das alte Kinderbett, gegen ein gemütliches Doppelbett getauscht. Daria ließ sich rücklings darauf fallen und starrte die Zimmerdecke an.
„Vermisst du sie?“, fragte ihre Großmutter, die plötzlich in der Tür stand. Daria richtete sich auf.
„Vermisst du sie?“, entgegnete ihr Daria.
„Jeden Tag!“
„Ich auch. Ich vermisse sie so sehr, dass ich manchmal glaube ihre Stimme zu hören.“ Daria schnappte sich eines der Kopfkissen und umschlang es mit ihren Armen. Es hatte eine beruhigende Wirkung auf sie, denn sie wollte nicht schon wieder weinen. Sie war der Meinung, dass sie genug Tränen für zwei Leben vergossen hatte.
„Sie hat dich mehr geliebt, als alles andere, vergiss das nie! Und sie wird für immer in unser beider Herzen bleiben“, meinte ihre Großmutter, um sie zu trösten.
„So. Jetzt zu etwas Fröhlichem. Unten in der Küche wartet eine kleine Überraschung auf dich.“
„Was für eine Überraschung?“, fragte Daria neugierig.
„Dazu musst du dich von deinem Kopfkissen losreißen und mir folgen!“, meinte ihre Großmutter und zog verheißungsvoll ihre Augenbrauen hoch.
„Na gut, du hast meine Neugierde geweckt“, erwiderte Daria und folgte ihr in die Küche. Als sie in der Küche ankamen, machte Daria große Augen, denn auf dem Tisch erblickte sie einen Kuchen, mit 16 hellerleuchteten Kerzen darauf. Neben dem Kuchen lag ein kleines Päckchen, das mit einer großen Schleife verziert war. Gerührt und den Tränen nah, sah Daria ihre Großmutter dankbar an.
„Glaubst du etwa, ich hätte deinen 16. Geburtstag vergessen? Was wäre ich nur für eine schlechte Großmutter, wenn ich nicht daran denken würde. Du bist doch mein einziges Enkelkind“, sagte sie und schob Daria sanft zum Tisch hin.
„Puste die Kerzen aus und wünsch dir was, bevor das ganze Wachs den Kuchen ungenießbar macht!“ Daria holte tief Luft und pustete sämtliche Kerzen auf einmal aus.
„Hast du auch an deinen Wunsch gedacht?“, hakte Großmutter Beth nach. Daria nickte.
„Ja hab ich. Ich habe mir gewünscht, dass ich hier in Oakville irgendetwas Aufregendes erlebe“, erzählte ihr Daria.
„Tja, dann wurde dein Wunsch wohl erhört, denn gleich morgen beginnt für dich wieder die Schule und zwar an der APHS, die Abbey Park High School. Das ist eine der besten Schulen mit einem breiten Angebot an Freizeitaktivitäten. Dort wirst du bestimmt viele neue Freunde finden und tolle Dinge erleben.“
„Das hoffe ich“, sagte Daria und presste ihre Lippen fest aufeinander, denn sie war nicht der Typ von Mensch, dem es leicht fiel Freundschaften zu schließen.
„Hier, nimm ein Stück. Es ist dein Lieblingskuchen. Haselnuss mit einer Puderzucker-Zimt-Glasur. Daria nahm den Teller und biss herzhaft in ihr Kuchenstück hinein. Anschließend reichte ihr ihre Großmutter das Päckchen.
„Mach schon auf. Ich bin total gespannt, ob es dir gefallen wird“, meinte sie und wartete ungeduldig darauf, dass Daria das Geschenk öffnete. Daria pfriemelte einige Sekunden an der Schleife herum, doch als sie diese gelöst hatte, konnte sie rasch mit dem Auspacken fortfahren. Zum Vorschein kam eine samtene Schmuckbox. Daria klappte den Deckel hoch und erblickte eine Halskette mit einem wunderschönen Anhänger daran. Es war ein in Gold eingefasster, herzförmiger Bernstein.
„Die Kette ist wirklich schön, aber du hättest mir nicht extra etwas kaufen müssen, der Kuchen ist mehr als genug“, gab Daria bescheiden von sich und umarmte ihre Großmutter zum Dank.
„Ich hab keinen Cent für das Geschenk ausgegeben. Ich fand die Box samt Kette unter den Sachen deiner Mutter, die sie hier verstaut hatte. Ich wusste gar nicht, dass sie so eine Kette besaß, doch ich dachte mir, dass du dich darüber freuen würdest, wenn sie nun die gehört“, erklärte sie ihr. Daria strich mit dem Finger über die leicht gewölbte Oberfläche des Bernsteins. Er fühlte sich kalt und glatt an.
„Komm ich helf dir und lege sie dir um“, bot ihr ihre Großmutter an. Daria reichte ihr die Kette, drehte ihr den Rücken zu und hob ihr Haar zur Seite. Nur einen Moment später hatte Daria die Kette um und spürte ein leichtes Kribbeln auf ihrer Haut, wo der Bernstein auflag.
„Die intensive, rotorange Färbung des Steins passt perfekt zu deinen gerstenblonden Locken“, meinte Großmutter Beth und sah Daria staunend an.
„Weißt du, ich stelle gerade fest, dass du zu einer richtigen Frau herangewachsen bist. Es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass du halbnackt im Garten herumgerannt bist und mit diesem Jungen gespielt hast. Ihr hattet in etwa das gleiche Alter. Er hatte etwas Sonderbares an sich, denn wann immer er hier auftauchte, sah er aus, als ob er gerade erst aus dem Ontario See gestiegen kam und seine Eltern haben wir nie zu Gesicht bekommen. Erinnerst du dich noch an ihn?“, fragte sie Daria. Daria dachte angestrengt nach, doch sie konnte sich an keinen Jungen aus ihrer Kindheit erinnern.
„Nein, überhaupt nicht“, erwiderte sie und schüttelte den Kopf.
„Das macht nichts. Ich dachte mir nur, dass du dich vielleicht noch an ihn erinnerst, weil ihr immer sehr viel Spaß miteinander hattet. Sobald euch ein Erwachsener zu nahe kam, habt ihr angefangen zu flüstern und ganz geheimnisvolle Blicke miteinander ausgetauscht. Keiner von uns hatte je herausgefunden, um was es bei euren Spielen ging.“ An ihren Augen konnte man erkennen, dass sie sich die alten Erinnerungen zurück ins Gedächtnis rief. Erinnerungen, in denen Darias Mom Cassy, noch lebte. Doch Daria konnte sich beim besten Willen nicht mehr an ihren kleinen Spielgefährten, aus Kindheitstagen erinnern. Sie begann damit das Geschirr aufzuräumen und den Kuchen abzudecken.
„Daria lass das ruhig stehen. Ich mach den Rest, schließlich ist heute dein Geburtstag und du musst morgen früh raus.“
„Danke. Ich wünsch dir eine gute Nacht“, sagte Daria und gähnte ausgiebig.
„Das wünsche ich dir auch, Liebes.“ Gerade, als Daria sich umdrehte, um zu gehen, richtete ihre Großmutter erneut das Wort an sie.
„Ach und Daria, willkommen in deinem neuen Zuhause. Ich bin sehr glücklich, dass du hier bist“, sagte sie zu ihr. Daria lächelte und gab ihr somit zu verstehen, dass auch sich glücklich darüber war, bei ihrer Großmutter leben zu können. Auch wenn die Umstände, die dazu geführt hatten, sehr traurig waren.
Oben im Zimmer zog sich Daria ihren Pyjama an und ging zum Fenster, um die Gardinen zuzuziehen, als sie plötzlich jemanden im Gebüsch kauern sah. Doch kaum hatte sie ihren Blick auf den dunklen Schatten gerichtet, verschwand die Gestalt in der Dunkelheit. Doch dank des hell leuchtenden Mondes, konnte sie einen Blick von der Gestalt erhaschen, als diese von einem Mondstrahl erfasst wurde. Verwirrt zog sie die Gardinen zu und erinnerte sich an den Jungen im See. Der unbekannte sah ihm verblüffend ähnlich, auch wenn sie in nur für wenige Sekunden sehen konnte.

*****



Von weiter Ferne hörte Daria ein nerv tötendes Piepen. Genervt drehte sie sich im Bett um und vergrub sich unter ihrer Decke. Das Piepen war noch immer zu hören und schien nicht stoppen. Plötzlich fuhr Daria hoch, als ihr bewusst wurde, dass es ihr Wecker war, der so laut piepte und sie kurz davor war, zu ihrem ersten Schultag an der APHS zu spät zu kommen. Sie schlug ihre Decke zurück, sprang aus ihrem Bett und rannte in Windeseile ins Badezimmer, um sich fertig zu machen. In weniger als 10 Minuten, schaffte sie es sich zu duschen und anzuziehen – und unterbot somit ihren letzten Rekord von einer viertel Stunde, als sie mal wieder zu spät aufgewacht war.
Sie schnappte sich ihre Schultasche und ihre Jacke und rannte die Treppen hinunter.
„Daria warte, du hast noch nichts gefrühstückt!“, rief ihr ihre Großmutter nach.
„Keine Zeit, hab verschlafen. Ich kaufe mir was in der Schule. Tschüss, bis später!“, erwiderte Daria und stürmte schon zur Haustür hinaus. Sie hatte Glück und erwischte gerade noch den Bus zur Schule.

An der High School, war sie eine Schülerin unter tausenden. In den Gängen wurde gedrängelt, geschuppst und getratscht. Daria holte tief Luft, als sie die unzähligen Schüler sah und kämpfte sich ohne Zwischenfall, wacker bis zu ihrem Schließfach durch. Immer wieder wurde sie neugierig beäugt. Die meisten Mädchen betrachteten sie voller Missgunst und die Jungen lächelten erfreut, als sie ihr hübsches und filigranes Gesicht erblickten. Doch es blieb nur bei neugierigen Blicken. Gerade, als sie ihr Schließfach wieder verschlossen hatte, packte sie jemand am Arm. Erschrocken fuhr sie herum und erblickte das Gesicht eines Jungen.
„Du bist der Junge aus dem See“, stammelte sie, als sie ihn wieder erkannte.
„Komm mit!“, befahl er ihr und zog sie schon hinter sich her. Noch bevor Daria protestieren konnte, befanden sie sich bereits in einem leeren Raum und der Junge schloss die Tür hinter sich ab.
„Was soll das denn? So heißt man aber nicht eine neue Mitschülerin willkommen. Und jetzt lass mich sofort wieder raus!“, herrschte Daria den Jungen wütend an.
„Warte!
Erkennst du mich denn nicht mehr?“, fragte der Junge und sah sie fragend an. Daria kniff ihre Augen zusammen und versuchte sich an sein Gesicht zu erinnern. Seine haut war milchig blass, beinahe durchsichtig. Er hatte längeres, wildes schwarzes Haar, mit einem leicht blauen Schimmer. Seine Augen waren so blau wie der Ontario See und funkelten im Sonnenlicht wie Diamanten. Er sah auf eine sonderbare Weise, wunderschön aus.
„Nein, tut mir leid, ich kenne dich nicht“, erwiderte ihm Daria ehrlich und schüttelte bedächtig den Kopf.
„Aber ich kenne dich. Du bist Daria. Wir haben als Kinder immer zusammen gespielt“, erzählte er ihr.
„Du bist der Junge, von dem mir meine Großmutter erzählt hat“, fiel ihr ein.
„Ja und uns verbindet etwas miteinander“, meinte er. Daria sah ihn verwirrt an, denn sie verstand nicht, was er ihr damit sagen wollte.
„Elfen und Feen, die Menschen können sie nicht sehen.
Gib gut Acht und wähle mit Bedacht,…..“
„….wem du des Nachts, dein Fenster auf machst, denn es könnte ein böser Elf sein, der dir im Schlaf ins Gesicht lacht, dir die Seele nimmt und zufrieden sein Liedchen singt“,

beendete Daria den Spruch.
„Ich erinnere mich, aber nur verschwommen und ich habe keine Ahnung, inwiefern uns dieser Kinderreim miteinander verbinden soll“, meinte Daria.
„Ich bin eine Elfe, um genau zu sein eine Wasserelfe“, eröffnete er ihr. Daria sah ihn mit großen Augen an. Im nächsten Augenblick lachte sie los und schüttelte ungläubig ihren Kopf.
„Bestimmt. Und ich bin ein Hobbit aus Mittelerde und ich besitze einen magischen Ring, der mich unsichtbar macht!“, konterte sie keck und konnte noch immer nicht glauben, was für ein Märchen er versuchte ihr aufzutischen.
„Nein, bist du nicht“, meinte der Junge betrübt und ließ seine Schultern hängen, als er bemerkte, das Daria ihm nicht glaubte.
„Du bist zur Hälfte eine Fee und um deinen Hals trägst du ein Symbol, das sämtliche Elfen und Feen erkennen. Es ist ein Feenherz und outet dich sozusagen als Feenhalbblut“, erklärte er ihr. Daria fasste sich an die Stirn und schloss für einen Moment ihre Augen.
„Hör zu, damals waren wir Kinder. Jedes Kind glaubt an Märchen. Aber ich bin zu alt für Märchen und du solltest endlich erwachsen werden!“ Daria schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln und wollte gerade wieder gehen.
„Halt warte! Dein Anhänger. Fühlst du denn nicht dieses Kribbeln auf der Haut, wo er dich berührt?“, wollte er von ihr wissen. Daria blieb abrupt stehen und überlegte, was sie ihm darauf erwidern sollte. Denn obwohl sie tatsächlich dieses Kribbeln auf ihrer Haut spürte, wollte sie ihm nicht noch mehr Gründe liefern, um an seinem Märchen festzuhalten.
„Du spürst es, nicht wahr? Bitte gib mir eine Chance, damit ich es dir beweisen kann!“, bat er sie. Daria wollte nicht unhöflich sein und lenkte ein. Der blasse Schönling reichte ihr seine Hände und wartete darauf, dass sie ihre Hände, in die seinen legte.
„Keine Angst, ich beiße dich schon nicht“, meinte er, als er Darias Unentschlossenheit in ihren Augen sah. Daria atmete tief ein, dann folgte sie seiner Bitte.
„Gut. Jetzt schließe deine Augen und mach genau das, was ich dir sage.“ Daria sah den Jungen misstrauisch an.
„Keine Sorge, du kannst mir wirklich vertrauen“, meinte er.
„Ich soll dir vertrauen, dabei weiß ich nicht einmal deinen Namen“, erwiderte Daria. Der Junge grinste sie an.
„Wenn mein Name alles ist, was du brauchst, um mir zu vertrauen, dann werde ich ihn dir natürlich nicht vorenthalten. Ich heiße Nen. Das bedeutet so viel wie alte Gewässer.“ Nun musste auch Daria grinsen.
„Gut. Schließe deine Augen und konzentriere dich auf das Kribbeln auf deiner Haut. Lausche deinem rhythmischen Herzschlag und lass die Energie durch deinen Körper fließen“, erklärte ihr Nen. Daria schloss ihre Augen und konzentrierte sich auf ihren Herzschlag, doch nach gefühlten eineinhalb Minuten, tat sich noch immer nichts und sie wollte das Experiment schon abbrechen, als sie plötzlich spürte, wie sich zuerst ihre Härchen im Nacken aufstellten und dann die auf ihren Armen. Ein merkwürdiges, vibrierendes Gefühl, fuhr durch ihren ganzen Körper und raubte ihr beinahe den Atem. Als sie ihre Augen langsam wieder öffnete, sah sie wie ihre langen Haare und die Haare von Nen, wie schwerelos in der Luft schwebten. Selbst der Anhänger ihre Kette, tanzte in der Luft und begann zu leuchten. Fassungslos sah sie Nen an und konnte nicht glauben, was sie mit ihren eigenen Augen sah. Und als plötzlich ihre Schultasche, die gerade noch an ihrer Schulter baumelte, neben ihr aufstieg und ebenfalls wie eine Feder in der Luft schwebte, bekam sie Angst und riss ruckartig ihre Hände zurück.
„Ich…ähm…ich muss gehen. Ich komm zu spät zum Unterricht“, stammelte Daria verwirrt und rüttelte an der Tür.
„Du musst sie aufsperren“, meinte Nen. Daria drehte den Riegel herum und stürmte ohne ein weiteres Wort aus der Tür heraus.

Die ganze Zeit, während des Unterrichts, war Daria mit ihren Gedanken bei Nen. Einerseits fühlte sie sich schlecht, da sie so überstürzt vor ihm geflüchtet war, doch was sie noch mehr beschäftigte, war das, was sie mit ihm in diesem Raum erlebt hatte. Immer wieder umschloss sie den Anhänger der Kette mit ihrer Hand und dachte über das, was er ihr gesagt hatte, nach.
Nachdem die Schule zu Ende war, suchte sie nach ihm, denn sie wollte sich bei ihm entschuldigen. Doch er schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Daria fragte bei einigen Schülern, ob sie wüssten, wo sich Nen aufhielt, doch mehr als ein Achselzucken, bekam sie nicht. Denn wie sich schnell herausstellte, kannte niemand von ihnen einen Jungen an der Schule, der sich Nen nannte, noch passte die Beschreibung seines Aussehens auf irgendjemand. Erfolglos machte sich Daria auf den Weg nach Hause.

*****



Als Daria die Haustür aufsperrte, entdeckte sie eine Notiz, die an der Tür klebte. Sie war von ihrer Großmutter.
Mache einige Besorgungen in der Stadt. Bin heute Abend wieder zurück. Essen steht im Kühlschrank. Kuss – Oma.
Daria seufzte, als sie das las, denn im Moment war ihr nicht danach alleine zu sein. Doch es half nichts, Trübsal zu blasen. Sie holte sich den Teller aus dem Kühlschrank und erwärmte das Essen in der Mikrowelle. Anschließend ging sie nach oben, in ihr Zimmer, um dort zu essen und gleich im Anschluss ihre Hausaufgaben zu machen. Sie stellte ihre Schultasche und ihren Teller auf dem Schreibtisch ab, als sich plötzlich jemand hinter ihr räusperte. Vor lauter Schreck, gab sie einen gellenden Schrei von sich und fuhr herum. Ihrem Gesichtsausruck konnte man den Schrecken deutlich ansehen, denn sie war kreidebleich und ihre Augen waren weit aufgerissen, wie die eines erschrockenen Rees im Scheinwerferlicht.
„Ach du bist es Nen“, sagte Daria, als sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte und fasste sich an ihr pochendes Herz. Nen lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen, in ihrem Bett und hatte es sich sichtlich bequem gemacht.
„Wie kommst du hier überhaupt rein?“, wollte sie wissen und warf Nen einen fragenden Blick zu.
„Durchs Fenster, es war offen“, erwiderte er und machte eine Kopfbewegung in die Richtung des Fensters. Daria warf einen flüchtigen Blick auf den gerade mal handbreiten Spalt.
„Wie gesagt, dieser Kinderreim, ist nicht nur zum Spaß da. Auch wenn es sich reimt, die Warnung darin ist ernst gemeint. Vor allem in dieser Gegend, ist es für eine Halbblutfee, wie dich, gefährlich das Fenster einfach so offen zu lassen“, maßregelte er Daria.
„Im Reim heißt es aber doch, dass die Elfen in der Nacht kommen, wenn man schläft“, erinnerte sie sich und ärgerte sich im Nächsten Moment darüber, dass sie sich schon wieder auf dieses Märchen eingelassen hatte.
„Ja, deswegen hast du auch Glück, dass nur ich hier bin“, entgegnete ihr Nen.
„Und wie ist es möglich, dass du durch diesen kleinen Spalt gepasst hast? Sag bitte gleich die Wahrheit und gib einfach zu, dass du irgendwie durch die Haustür eingebrochen bist“, meinte Daria und wirkte genervt.
„Eigentlich sollte ich die Polizei anrufen und dich wegen Hausfriedensbruch abführen lassen“, drohte sie ihm.
„Aber ich sehe davon ab, wenn du mir eine ehrliche Antwort darauf gibst.“ Daria presste ihre Lippen aufeinander und wartete ungeduldig darauf, dass Nen endlich gestehen würde.
„Durchs Fenster. Ich bin ein Wasserelf und habe die Gabe mich zu verflüssigen. Ich kann jede Form annehmen, die Wasser eben annehmen kann“, antwortete er ihr. Daria war fassungslos und konnte nicht glauben, dass Nen an seiner Geschichte weiterhin festhielt. Er stand vom Bett auf und nahm das Glas Wasser vom Nachttisch, das Daria dort noch vom Abend zuvor stehen hatte.
„Das würde ich nicht trinken, denn es ist schon abgestanden“, sagte sie zu ihm.
„Ich habe auch nicht vor es zu trinken.“ Nen ging auf Daria zu und blieb vor ihr stehen.
„Schau genau hin, was ich jetzt tue. Danach wirst du mir sicherlich glauben“, meinte Nen und formte mit seiner Hand, eine kleine Schale. Anschließend schüttete er sich das Wasser in die Hand.
„Wow, wie überaus aufregend“, gab Daria sarkastisch von sich und rollte genervt mit den Augen, doch Nen tat so, als ob er ihre Bemerkung nicht gehört hatte und machte unbeirrt weiter. Dann kam endlich Bewegung in die Sache, denn plötzlich, wie von Zauberhand, wurde das Wasser in Nens Hand, immer weniger, bis es ganz verschwunden war. Es sah so aus, als ob seine Haut das Wasser, wie ein Schwamm, aufgesaugt hatte. Daria war noch immer sprachlos, als Nen damit begann, noch eins draufzusetzen. Er hielt seine Hand hoch und Daria beobachtete mit offen stehendem Mund, wie Nens ohnehin schon sehr helle Haut, immer transparenter wurde, bis seine Hand hellblau, wie Wasser schimmerte. Staunend und voller Demut, erhob nun Daria ihre Hand und legte sie ganz behutsam auf die seine. Es fühlte sich warm und gleichzeitig nass an, doch als sie ihre Handfläche betrachtete, war sie genauso trocken, wie zuvor.
„Das ist so wunderschön“, stammelte Daria beeindruckt und sah Nen tief in die funkelnden Augen. Plötzlich fühlte sie sich von ihm, wie magisch angezogen und kam seinen Lippen immer näher. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf und ein angenehmer Schauer lief ihr über den Rücken. Doch dann besann sich Daria wieder und rückte hastig etwas von Nen ab.
„Na, glaubst du mir jetzt?“, hakte er nach und sah sie zufrieden grinsend an. Daria nickte mit dem Kopf.
„Ja, ich glaube dir“, stammelte sie, als ihr bewusst wurde, was das für sie bedeutete.
„Sag mal Nen, hab Elfen denn nicht spitze Ohren?“, fragte Daria, um die angespannte Stimmung zwischen ihnen aufzulockern.
„Das ist ein total überholtes Klischee…“, meinte Nen und rollte mit den Augen.
„…und sowas von wahr!“, sagte er und hob seine Haare beiseite, damit Daria einen Blick auf seine Ohren werfen konnte.
„Du Mistkerl! Ich hatte mich gerade schon schlecht gefühlt, weil ich dir diese Frage überhaupt gestellt habe“, zeterte Daria halbherzig und grinste Nen verlegen an.
„Was machst du eigentlich die ganze Zeit? Du bist nämlich kein Schüler an der APHS, denn dort kannte dich niemand, als ich nach dir gesucht hatte. Du warst wie vom Erdboden verschluckt. Als ob du, naja, nicht hier gewesen wärst“, meinte Daria und kniff ihre Augen zusammen.
„Da ich ein Wasserelf bin, brauch ich ständig Wasser in meiner Nähe, da ich sonst sterbe.“
„Ich habe dich doch neulich im Ontario See gesehen. Du lebst also dort im See, oder?“, warf Daria fragend ein.
„Nicht direkt. Kennst du die Legende vom Marysburgh Vortex, der sich am östlichstem Ende vom Ontario See befindet?“ Daria nickte.
„Es ist ein Strudel, ähnlich wie das Bermudadreieck und eine Öffnung zu meiner Welt. Damals, als die Menschen mit ihrem Boten und Schiffen ständig diesen Strudel überquerten, fühlten sich die Wasserelfen in ihrer Ruhe gestört und ließen die Schiffe kurzerhand verschwinden. Seit je her, wird der Strudel zum Glück gemieden und keine Bote verschwinden mehr“, erklärte ihr Nen.
„Das leuchtet ein“, meinte Daria. Nach einer Weile der Stille, in der keiner von Beiden ein Wort redete, kaute Daria immer unruhiger auf ihrer Unterlippe herum.
„Was bedeutet diese ganze Feensache nun für mich und warum hat mir meine Mom nie davon erzählt.
Ich meine sie muss doch gemerkt haben, dass dieser One-Night-Stand, bei dem ich entstanden bin, kein Mensch war?“, wollte sie wissen.
„Nein, sie konnte es gar nicht wissen, denn die Fee, mit der sie geschlafen hatte, sah aus wie ein Mensch. Anders als wir Elfen, können sich Feen nicht einfach so unter den Menschen unerkannt bewegen. Aus diesem Grund, darf jede Fee, wenn diese ein gewisses Alter erreicht hat, einmal in ihrem Leben, für einen Tag ein Mensch sein. Dabei kommt es immer wieder dazu, dass sich eine Fee, mit einem Mensch sexuell einlässt, schließlich wollen sie alle Vorzüge des Menschseins in vollen Zügen auskosten. Sollte es dann vorkommen, dass bei dieser Begegnung, neues Leben entstanden ist, hinterlässt man dem Halbblut ein Feenherz, das natürlich kein richtiges Herz ist, sondern aus dem Blut der jeweiligen Fee, gemischt mit den magischen Tränen eines sterbenden Dunkelelfs und einigen Kräutern, besteht.
Nur so werden wir Elfen auf euch aufmerksam, doch genau daran besteht auch der Haken. Durch die Tränen, werden auch die Dunkelelfen auf euch aufmerksam.“
„Dann trage ich das Feenherz einfach nicht mehr“, meinte sie und wollte die Kette schon abnehmen.
„Dazu ist es zu spät. Sobald das Feenherz einmal mit der Haut einer Halbblutfee in Berührung kommt, ist diese für Lebzeiten damit gekennzeichnet. Die Kette abzunehmen, würde daran nichts ändern.“ Daria verstand und ließ die Kette an.
„Wie unterscheiden sich die Dunkelelfen, von den anderen?“, fragte Daria.
„Die Dunkelelfen sind Elfen, die sich der dunklen Magie verschrieben haben, da sie machtgierig sind und immer mehr Kräfte haben wollen. Die Seele einer Halbblutfee, ist für sie besonders Kostbar, da diese besondere Kräfte beherbergen. Äußerlich kann man das reine Böse, in ihren schwarzen Augen erkennen.
Da die Feen nicht stark genug sind, um die Halbblutfeen, vor den Dunkelelfen zu beschützen, haben wir gute Elfen diese Aufgabe übernommen. Wir können mehr gegen deren Angriffe ausrichten“, erklärte ihr Nen. Daria setzte sich auf den Stuhl ihres Schreibtisches und dachte angestrengt nach.
„Das heißt, dass ich den Dunkelelfen ohne dich, hilflos ausgeliefert bin“, gab Daria resignierend von sich.
„Ja und nein“, erwiderte Nen. Bei diesen Worten erhob Daria ihren Kopf und sah ihm fragend in die Augen.
„Es gibt also noch Hoffnung für mich?“, fragte sie.
„Ja, die gibt es. Du hast doch vorhin auch diese Anziehungskraft zwischen uns gefühlt“, meinte er. Verlegen rieb sich Daria über den Hinterkopf und spürte, wie ihre Wangen rot wurden.
„Durch ein uraltes Ritual, können wir uns aneinander Binden“, eröffnete ihr Nen.
„Uns aneinander Binden, durch ein Ritual? Weswegen?“, fragte Daria skeptisch nach.
„Das Ritual erlaubt dir deine Feenkräfte zu erwecken und ich kann dich jederzeit aufspüren, egal wo du bist, um dich zu beschützen“, erläuterte er ihr. Daria grübelte einige Sekunden darüber nach.
„Gut, dann lass uns gleich damit anfangen!“, drängte ihn Daria, als sie sich sicher war, dass sie das Ritual vollziehen wollte.
„In Ordnung, doch das geht nicht hier. Wir müssen dazu an einen besonderen Ort. Warte einfach hier. Ich sag den anderen Bescheid und hole dich dann um Mitternacht ab“, meinte Nen aufgeregt. Dann verflüssigte er sich zu einer blauschimmernden Gestalt, vor Darias staunenden Augen und verschwand durch den kleinen Spalt im offenen Fenster. Völlig perplex rannte sie zum Fenster hin und riss es weit auf.
„Halt! Was meinst du mit den anderen und wie genau sieht das Ritual eigentlich aus?“, rief sie ihm nach, doch Nen war bereits aus Darias Blickfeld verschwunden. Daria seufzte laut auf und verschloss das Fenster. Vollkommen durcheinander und mehr als verwirrt, setzte sie sich an ihren Schreibtisch und begann damit ihre Hausaufgaben zu erledigen. Doch sie brachte kaum etwas zustanden, denn ihre Gedanken kreisten nur noch um Nen und das bevorstehende Ritual, von dem sie keine Ahnung hatte, was sie zu erwarten hatte.

*****



Daria saß mit ihrer Großmutter gemeinsam am Tisch und stocherte gedankenverloren auf ihrem Teller herum. Immer wieder warf sie einen Blick auf die Uhr und hatte das Gefühl, dass die Zeit nur so dahin schlich. Hin und wieder stellte ihr ihre Großmutter eine Frage über ihren ersten Schultag an der neuen High School, die Daria nur knapp beantwortete und ihre Großmutter stutzig werden ließ.
„Daria, ist heute irgendetwas in der Schule vorgefallen? Du wirkst so bedrückt und aufgewühlt“, bemerkte ihre Großmutter und sah sie prüfend an.
„Nein, überhaupt nicht. Es war großartig in der Schule! Ich bin einfach nur müde, denn es war ein langer Tag für mich heute und ich muss noch lernen“, erwiderte sie und versuchte so gelassen wie möglich zu klingen.
„Na gut. Heute mach ich noch einmal den Abwasch. Aber ab morgen ist die Schonfrist für dich vorbei.
Und jetzt marsch in dein Zimmer und lerne!“, befahl ihr ihre Großmutter scherzend und verstellte ihre Stimme, wie ein Soldat, um ihrem Befehl mehr Ausdruck zu verleihen.
„Danke, du bist die beste, Oma!“, erwiderte Daria und machte sich daran in ihr Zimmer zu gehen.

*****



Daria saß an ihrem Schreibtisch und starrte angespannt in ihre Bücher. Es war schlag Mitternacht, als sie merkwürdige Geräusche an ihrem Fenster vernahm. Aufgeregt ging sie zum Fenster und erblickte Nen, der ihr mit einer Handbewegung ein Zeichen gab, zur Haustür zu kommen. Auf leisen Sohlen ging Daria die Treppe hinunter und überstieg mit äußerster Vorsicht die Stufen, die ansonsten unter ihrem Gewicht knarzend nachgegeben und somit womöglich ihre Großmutter geweckt hätten. Sie nahm ihre Jacke vom Garderobenhaken und öffnete die Tür. Erst als sie draußen war und die Tür wieder ins Schloss gezogen hatte, atmete sie geräuschvoll aus. Ihr schlechtes Gewissen meldete sich bei ihr, denn sie hatte sich noch niemals zuvor, mitten in der Nacht aus dem Haus geschlichen.
„Komm endlich!“, zischte ihr Nen aus der Dunkelheit entgegen. Sie konnte ihn nicht sehen, doch sie folgte seiner Stimme, die sie letztendlich zu einem Auto führte. Nen saß bereits hinterm Steuer und drängte Daria dazu sich zu beeilen. Sie ging um den Wagen herum und nahm auf der Beifahrerseite Platz. Kaum saß sie, drückte Nen auch schon das Gaspedal durch und fuhr los. Daria schnallte sich hastig an und krallte sich nervös am Sitz fest.
„Wie hast du den Wagen meiner Großmutter geknackt, ohne, dass die Alarmanlage los ging?“, fragte sie überrascht. Nen sah sie mit einem schiefen Grinsen an und zog eine seiner Augenbrauen hoch.
„Weißt du was. Ich möchte es gar nicht wissen. Hauptsache du weißt, was du da machst!“, entgegnete ihm Daria, als er mit quietschenden Reifen, um eine Kurve fuhr und presste ihre Lippen fest aufeinander.
„Keine Sorge. Das ist nicht meine erste Fahrt“, meinte er daraufhin in einem beschwichtigendem Tonfall. Als sie das hörte, entspannte sie sich langsam wieder.
„Du fährst also des Öfteren mit geklauten Autos umher?“, bemerkte Daria spitz an.
„Nein, die anderen Male fuhr ich in einem Simulator in einer Spielhalle. Da dachte ich mir, dass es an der Zeit wird, es mit einem richtigen Auto zu versuchen“, antwortete er gelassen und zuckte mit den Schultern. Erschrocken starrte ihn Daria an und vergrub ihre Fingernägel erneut im Sitzpolster.
„Entspann dich. Ich habe dich nur auf den Arm genommen, aus Rache für deine spitze Bemerkung. Vertrau mir einfach“, meinte Nen und beschleunigte das Tempo.
„Und du sollst also einer von den guten Elfen sein!“, meckerte Daria und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Endlich drosselte Nen sein Tempo, bis der Wagen zum stehen kam. Er machte sich daran auszusteigen und Daria folgte seinem Beispiel.
„Was machen wir hier? Hier ist doch nur der Wald“, sagte Daria und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen.
„Richtig, aber wir müssen noch ein Stück weiter rein“, erwiderte er und zog Daria hinter sich her.
„Aber ich sehe so gut wie gar nichts!“, protestierte sie und stolperte. Nen fing sie auf.
„Halte dich an mir fest. Wir sind gleich da. Hab Geduld“, entgegnete er ihr freundlich. Daria hakte sich bei ihm unter und versuchte so gut wie möglich mit Nen schrittzuhalten. Als sie endlich zum stehen kamen, hatte sie das Gefühl, eine halbe Bergwanderung hinter sich zu haben, so sehr war sie außer Atem. Daria lehnte sich an einen mächtigen Baumstamm an und japste nach Luft.
„Sind wir endlich da? Ist es das?“, fragte Daria keuchend. Nen gab einen scharfen Pfiff von sich, der merkwürdig leierte und Daria eine Gänsehaut verschaffte. Sekunden später erschienen aus dem Nichts, kleine goldene Lichter, die die Dunkelheit erhellten. Fasziniert von den Lichtern, sah sich Daria um und ging in die Mitte der kreisrunden Lichtung, in der sie sich befanden. Daria kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Alles war mit Moos bewachsen und wirkte so unwirklich auf sie. Die mächtigen Bäume und auch die Felsen, die wie zu einem Altar angeordnet waren.
„Das ist unglaublich!“, stammelte sie, während sie versuchte eines der goldenen Lichter mit ihrem Finger zu berühren. Doch kaum glaubte sie es geschafft zu haben, wich es blitzartig von ihr fort.
„Daria, komm bitte zu mir. Die Mitte ist kein guter Ort um sich dort aufzuhalten.“
„Weshalb nicht?“, wollte sie von ihm wissen und ging zu ihm.
„Das wirst du gleich sehen.“ Gebannt heftete Daria ihre Augen auf die Vertiefung, in der sie gerade noch stand. Selbst die kleinen Lichter, hielten sich von dieser Stelle fern.
„Hier ist Nen, aus dem Volk der Wasserelfen. Ich bringe euch eine Halbblutfee, die mit dem Feenherz gekennzeichnet wurde. Wir bitten euch, das Bindungsritual vollziehen zu dürfen!“, rief er voller Inbrunst. Mit klopfendem Herzen, stellte sich Daria ganz dicht zu Nen, denn sie überkam ein Gefühl, dass sie nicht zu deuten wusste. Plötzlich entfachte sich vor ihren Augen ein riesiges Feuer in der Vertiefung der Lichtung, dessen Flammen über ihre Köpfe stiegen und wild züngelnd aufflackerten. Doch es war kein gewöhnliches Feuer, denn es war weiß und es strahlte keinerlei Wärme aus. Vor lauter Schreck, klammerte sich Daria an Nens Arm.
„Was ist das?“, fragte sie flüsternd.
„Das ist magisches Feenfeuer. Nur Feen können es berühren, ohne sich daran zu verletzen“, erklärte er ihr.
„Kommt näher!“, rief ihnen plötzlich eine befehlende Stimme aus dem Feuer zu. Daria zuckte zusammen. Nur widerwillig, ließ sie sich von Nen, bis auf wenige Schritte vor das Feenfeuer schleifen.
„Hab keine Angst“, flüsterte Nen ihr ermutigend zu. Daria schluckte ihren dicken Angstkloß, der ihr im Hals steckte, hinunter und löste ihren klammernden Griff von Nens Arm.
„Wie heißt du mein Kind?“, fragte sie die Stimme aus dem Feuer.
„Ich heiße Daria“, erwiderte sie zaghaft.
„Daria, ist es dein Wunsch und dein freier Wille, das Bindungsritual zu vollziehen?“, fragte die Stimme weiter.
„Ja ist es!“, antwortete sie nun mit fester Stimme.
„So sei es! Das Ritual kann vollzogen werden!“, rief die Stimme feierlich, worauf hin die kleinen Lichter, die zuvor arglos umher schwirrten, wild zu tanzen begannen. Und dann erschienen aus dem Feenfeuer ein gläserner Kelch und ein goldener Dolch, der wie Feuer leuchtete. Nen gab ihr mit einem Nicken zu verstehen, dass sie den Kelch an sich nehmen musste. Er nahm den Dolch an sich.
„Und was jetzt?“, fragte Daria verwirrt, als sich Nen mit dem Dolch, plötzlich in seine Hand ritzte. Erschrocken presste sich Daria ihre Hand auf dem Mund, um einen Aufschrei des Protests, in ihrer Kehle zu ersticken. Nen hielt seine Hand über den Kelch und ließ sein rubinrot schimmerndes Blut in den Kelch tropfen, bis die Wunde sich von selbst wieder verschloss und nichts mehr von dem Schnitt zu sehen war. Unschlüssig, was sie nun damit tun sollte, schaute sie Nen verwirrt an.
„Du musst mein Elfenblut trinken, damit das Bindungsritual seine Wirkung entfalten kann.“ Daria nickte und setzte den gläsernen Kelch an ihre Lippen an. Ihr war etwas mulmig zumute, denn für gewöhnlich wurde ihr von dem für Blut typischen metalernen Geruch, übel. Doch zu ihrer Überraschung, roch es nach einem Meer aus Blumen und als sie davon kostete, schmeckte es nach süßem Nektar. Sie schloss ihre Augen und trank den Kelch bis auf den letzten Tropfen leer. Und dann spürte sie, wie sich eine angenehme Wärme und ein Kribbeln in ihrem Körper aus breitete. Sie fühlte sich schwerelos leicht und eine tiefe Liebe umhüllte sie. Als sie ihre Augen wieder öffnete, konnte sie miterleben, wie sich die goldenen Lichter, in Feen verwandelten. Es waren hunderte. Ihre pergamentartigen Flügel, schimmerten wie Perlmutt, die mit dem Feenfeuer um die Wette strahlten. Währenddessen verschwanden der Kelch und der Dolch wieder im Feuer.
„Ich kann sie sehen. Ich kann sie sehen!“, rief Daria voller Freude aus und begann vor Glück zu weinen. Nen kam auf sie zu und sah sie mit funkelnden Augen an.
„Dann fehlt nur noch eines“, meinte er und nahm Darias Gesicht zwischen seine Hände. Ohne Widerworte, ließ sie ihn gewähren.
„Ein Kuss, um das Ritual zu besiegeln“, sagte er in einem sanften Ton und gab ihr einen zärtlichen Kuss. Daria schloss ihre Augen und gab sich dem Moment der Liebe hin. Und plötzlich stimmten sämtliche Feen gleichzeitig in einen mystischen Singsang ein, der Daria und Nen in eine ferne und unbekannte Welt davon trug.

THE END




© 2011 T. J. Hudspeth


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Tag der Veröffentlichung: 03.10.2011

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