Er stand an seinem Fenster, das einen Blick in den Hof gestattete, ohne Jacke, ohne Krawatte, rauchte langsam seine Pfeife und hinter ihm im Schlafzimmer begann seine Frau das Bett zu machen.
Er war nicht krank und dennoch war es so ungewöhnlich, denn es war zehn Uhr morgens und Sonntag war es auch nicht. Es war schon manchmal vorgekommen, dass er tagsüber zu Hause war, meistens war er krank gewesen und lag im Bett oder saß in seinem Sessel. Dieses Mal war er nicht krank, er hatte nichts mehr zu tun. Er konnte seine Zeit verbringen, wie er wollte.
So erlebte er den Tagesablauf seiner Frau mit, wie sie ihre Arbeit begann, wann sie von der Küche ins Bad ging, oder die Treppen hinauf ins Schlafzimmer. Wie sie eins nach dem anderen erledigte.
Plötzlich erinnerte sie ihn an seine Mutter, die die Hausarbeit erledigte, während er aus dem Fenster lehnte. Und seine Mutter sagte: „Geh bitte zur Seite, damit ich fegen kann.“
Jeder Mann, der unversehens den Alltag zu Hause erlebte, erkannte sich hier wieder. Er ging tolpatschig zu Seite, wenn gefegt wurde.
Er war nun ein Mann über 80, litt an der Gicht, ging von Tag zu Tag gebückter und rauchte nach Verlangen seine Pfeife. Nur noch selten schritt er die Treppe hinunter, um in die untere Etage seine Hauses zu gelangen.
Heute jedoch fühlte er sich topfit und pudelwohl und konnte sich nicht vorstellen, dass das Leben einmal endete.
Was war er doch für ein Mann gewesen, niemals langweilig und die einfachsten Dinge mussten erstklassig sein. Auch der Sex, es war zwar eine ganz normale und notwendige Sache gewesen, aber das Grundrezept hatte er im Laufe seiner Jahre stets verfeinert.
Und jetzt war er wieder dazu bereit.
In seinem Alter... Vielleicht ging es sonst verloren. Aus dieser Erinnerung heraus holte er tief Luft und schritt, sogar aufrecht, zur Treppe. Frisch geduscht und parfümiert ließen sich die Frauen leichter verführen.
Seine Frau staunte nicht schlecht, als sie ihren Mann so aufrecht am obersten Treppenabsatz stehen sah, doch verrichtete sie ohne Unterlass ihre gewohnte Arbeit. Sie ahnte ja nicht, dass er einem Höhenflug nahe und mit Schwung in den Hüften, die Stufen hinunter eilen wollte.
„Geh bitte zur Seite, damit ich...“ Den Satz sprach sie nicht zu ende. Ein jäher Aufschrei verhinderte dies.
Der Sturz in die Tiefe war das Resultat für einen Mann, der tolpatschig zur Seite sprang, wenn gefegt wurde. Und so ging er nicht nur gebückter, von Tag zu Tag, nein, nun hinkte er sogar.
Texte: Petra Ewering
Bildmaterialien: foto by fotosearch
Tag der Veröffentlichung: 21.04.2012
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Widmung:
Allen die schon einmal tief gefallen sind. (Absturz)