Des Rabens Todesengel
Morgen in der Nacht wird er an mein Fenster klopfen, dann verharrt er körperlos in der Schwebe und sagt: „Hab' keine Angst und komm mit.“
„Mein Freund, was suchst du hier?“ werden meine fragenden Augen wissen wollen.
Mich finden, was denn sonst! Wegen mir ist der schwarze Vogel hier, doch zuvor muss er erst einen langen Umweg nehmen, um mich an diesem unwirklich erscheinenden Ort zu finden.
Atemlos laufe ich an der fliehenden Landschaft vorbei, obwohl ich doch lieber das Lachen genießen würde, und in deinen Augen versinken. Mein Herz rast und in meiner Brust brennt ein leiser Schmerz. Ich habe dich immer wieder abgewiesen, so deine Angst geschürt. Meine Mauern waren für dich nicht zu brechen, und du bist in deiner Einsamkeit erfroren. Ich wandel umher, dich suchend in der Hoffnung, dass es noch nicht zu spät für uns ist. Berührungen, die ich nicht zugelassen habe, Gefühle, die mich beinahe verlassen haben, fühle ich.
Die Blicke in deine dunklen Augen verlassen mich nicht. Träume mit dir zu träumen kenne ich nicht, aber meine schönen Träume von dir vergehen nicht. Dann sprach mein Freund: „Wenn du mir vertraust, steigst du auf den Sims, schließt die Augen, greifst meinen Flügel und springst. Leicht wie Federn im Wind gleitet wir durch die Nacht, und du lässt alle Empfindungen zurück. Kein Schmerz, keine Kälte,
weder Hunger noch Furcht berühren dich, du lässt
die weltlichen Dinge hinter dir, und steigst mit
mir empor.
Die Geräusche der leidenden und verlorenen Seele, gefangen in deinem Körper, werden immer leiser und verstummen alsbald. Vor uns liegt Nebel, der uns verschlingt und in der Ferne ein Licht erahnen lässt. Es wird heller und es scheint, als würden wir von einer Kraft angezogen. Wir steuern direkt darauf zu, geblendet durch die Helligkeit, von einem strahlenden Ring umgeben, der sich plötzlich öffnet. Dann nur noch Dunkelheit, die uns umgibt. Und wir tauchen ein in strömenden Bewegungen, wohliges Glück durchflutet unseren Körper, und ein Gefühl von tiefem Frieden erfüllt uns. Frei von allen Gedanken, ohne Zeit und Raum.“
Mein Todesengel gleicht einem göttlichen Wesen, entschwindet ins Licht, zurück zum Fluss des Lebens, zum Rhythmus der Natur. Gleichmäßig verliert sich die Zeit in einem unendlichen leisen Rauschen. Haltlos und spurlos.
Der schwarze Vogel, zur vollen Blüte entfaltet, umgeben von Sinnlichkeit und Erstarrung.
In scheinbarer Lebendigkeit tritt er die nächste Reise an. Eine Reise ins Licht, als Todesengel in farbenfroher Erinnerung.
Und seine letzten Worte waren: „Gib acht, dass die Tage dich nicht überfallen und dass du bestimmst, wie deine Abende sind. Wie viele unserer täglichen Taten überlassen wir den Zufall und den sich anbietenden Gelegenheiten? Wie viele Stunden des Tages haben wir in der Hand? Wie viel Zeit verbringen wir damit, zu tun, was wir tun müssen? Die Zeit deines Alterns bestimmst du selbst.“
Texte: Coverbild by Google
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Den Träumen und der Phantasie