Des Rabens Feder
Das Gras war noch etwas feucht, am Morgen, aber der Tag schien gut zu werden. Nun saß ich am Waldrand und wartete, ob der Rabe mir erscheinen würde, denn außer seiner Feder war mir in der realen Welt nichts geblieben. Die Vögel schwiegen schon eine ganze Weile und ich spielte verstohlen mit der Feder.
Nur manchmal hob ich den Kopf, blickte gespannt zum Himmel, um nach dem Raben Ausschau zu halten.
Die Sonne wärmte mich, sie verwöhnte mich geradezu und so legte ich mich in das Gras und schloss meine Augen, dabei strich ich mit der Feder sanft über mein Gesicht, immer und immer wieder.
„Aber das mit dem Raben ist trotzdem Unsinn, ich sollte einfach nach Hause gehen“, sagte ich leise zu mir.
„Ich möchte, dass du bleibst“, sprach mein gefiederter Freund.
Ich blickte den Vogel an, dessen Eintreffen ich nicht bemerkte, er hüpfte aufgeregt hin und her und schlug mit den Flügeln. In seinen Augen sah ich grenzenloses Entsetzen.
Mir war nicht ganz klar, warum er so fühlte, doch ich musste ihm seine Furcht nehmen, das war ich ihm schuldig. Ich legte ihm liebevoll meine Hand auf seinen kleinen Kopf und streichelte vorsichtig sein schwarzes Gefieder.
Dann spürte ich, wie meine Sinne schwanden, heftete aber meinen Blick noch auf den Raben. Ruhig und zufrieden hockte er nun neben mir im Gras und seine Augen beobachteten mich eindringlich.
Er begann zu reden: „Gerade als meine Inspiration versiegte, entdeckte ich die Grenzen der literarischen Fruchtbarkeit. Ein verwirrendes Blatt, die Szene lebt von der Turbulenz des Geschehens, eine Halluzination, nicht mehr als eine Schachtel, ein Stückchen begrenzter Weltraum zum Zusammenhalten von Dingen durch die Schrift, nur eingefrorene Worte. Die Feder ist die Zunge des Geistes und bis auf die letzte Feder werden wir sie bekommen, alle.“
Mein geliebter Freund, er ist das Gewissen, das in jeder Seele wohnt und seine Stimme ist die Wahrheit.
Ich träumte mich in mein Zimmer, der Rabe saß auf dem Fensterbrett und machte Anstalten davonzufliegen.
Als ich erwachte, wie so oft nach Mitternacht, lag ich in meinem Bett, es war dunkel in meinem Zimmer und der tiefschwarze Vogel blieb.
Meine Freude über seine Anwesenheit war nicht übertrieben, oh nein, ich verspürte das wohlige Gefühl in seiner Nähe.
Nachdem der Mond durch die Wolken schaute, bedeckte mich der Schatten des Rabens und es war mir, als wurden wir eins.
Ein langer schwarzer Mantel bedeckte unsere Körper und eine endlose Liebe, aber auch eine plötzliche Müdigkeit übermannte mich.
Tief und fest war der Schlaf jedoch seine Worte, die ich noch vernahm, lauteten: „Man sollte aufschreiben was man wirklich sieht, was man weiß und was man fühlt, dann wird man schreiben, was niemand zuvor schrieb. Literarsiche Figuren gelten lassen, ihnen Mitspracherecht einräumen, den Geistern der Literatur eine wichtige Rolle überlassen, denn Literatur ist, so mystisch es auch klingt, eine Art Geisterbeschwörung.“
Wie lange ich so im Gras lag, nicht mächtig über meine Sinne, vermag ich nicht zu erklären, aber mir war, als wäre es nur ein kurzer Augenblick gewesen. Doch die Sonne hatte bereits einen anderen Weg eingeschlagen, sie verschwand langsam in der Ferne am Horizont und der Tag beugte sich der Nacht.
Es ward an der Zeit, mich meinen literarischen Geistern zu widmen.
Texte: Coverbild by Google
Tag der Veröffentlichung: 27.09.2010
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Widmung:
Allen Schrifstellern dieser Welt