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Des Rabens Vergesslichkeit



„Da bist du ja“, rief ich freudig aus, als mein Rabe mich nach langer Zeit wieder einmal besuchte.
Als er flatternd einen Platz zur Landung suchte, bot ich ihm meinen Arm als Möglichkeit und er nahm diese sogleich an. Seine Krallen bohrten sich durch den Stoff meines Kleides und ich empfand einen leichten Schmerz auf meiner Haut.
„Dachtest du, ich habe dich vergessen“, krächzte er, „ein wahrer Freund vergisst dich nicht.“
Er war gewiss ein wahrer treuer Freund, er kehrte stets zu mir zurück, und immer in Momenten, in denen seine Worte wie eine Offenbarung für mich waren.
Es war noch früh am Abend, eine ganz untypische Zeit für seinen Besuch. Aber ich fragte nicht nach dem Grund, sondern freute mich, dass er mich nicht vergessen hatte. Behutsam streichelte ich sein schwarzes Federkleid, drückte ihn sanft an meine Brust und küsste leise und vorsichtig sein kleines Haupt. Danach setze ich den Vogel auf mein Fensterbrett und fragte: „ Darf man vergessen?
Soll man vergessen?“
Der Rabe erwiderte: „Die Antwort scheint nicht leicht. Der Sprachgebrauch spiegelt nur die unterschiedlichen Ansichten und Haltungen dazu wider. Man sagt, er hat es vergessen, und das bezeichnet vorwurfsvoll alles, vom schlecht funktionierendem Gedächtnis bis zum Mangel an Zuverlässigkeit, Treue und sogar Ehrlichkeit. Aber ein zu gutes Gedächtnis wird auch beklagt. Wer nicht vergessen kann, gilt als nachtragend. Ein anderes Urteil tadelt, die Menschen würden zu schnell vergessen. Offenkundig darf man weder die eine noch die andere Verhaltensweise als absoluten Wert verstehen, unabhängig von Anlass, Ort und Zeit, von Ursache und Folge. Menschliches Verhalten zu menschlichen Irrtümern, Fehlern und Schwächen schließt gewiss ebenso das Vergessen und Vergeben ein wie die Notwendigkeit, wesentliches im Gedächtnis zu behalten und die daraus gewonnen Erfahrungen zu beherzigen. Im persönlichen, wie im politischen Leben wünscht man zu vergessen, es wird hier sogar mit Vergesslichkeit spekuliert, während andere dafür plädieren, niemals zu vergessen.
Doch bedenke: Die Erde auf der wir leben, sie vergisst nichts.“
Mit einem heftigen Flügelschlag hob mein Freund in die Luft und flog von dannen. Ich blieb nachdenklich zurück, sortierte seine Worte und hoffte inständig, niemals zu vergessen.

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Texte: Coverbild by Google
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2010

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Widmung:
Den Träumen und der Phantasie

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