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Des Rabens Schönheit



„Aufstehen!“ krächzte der Rabe, flatterte auf mein Bett, und zwickte mich an der Schulter.
Es war das vierte Mal, dass er zu mir kam. Dieses Mal weckte er mich unsanft, denn ich registrierte nicht sofort, dass der Vogel sich erneut durch das offene Fenster den Zutritt zu meinem Zimmer verschaffte.
„Wie spät ist es?“ fragte ich verschlafen, zog den Mund zu einem breiten Gähnen auseinander, und brachte die Arme unter der Bettdecke hervor.
„Nach Mitternacht“, gab der Rabe von sich, und mit einem Satz hüpfte er an das Fußende meines Bettes.
Träge bewegte ich mich, bis ich aufrecht saß, blinzelte in das fahle Licht, und rieb mir Augen, um den Vogel besser erkennen zu können.
Er hockte vor mir, schwarz glänzend das Gefieder, mit funkelnden Augen, und mit einer Botschaft, die mich wieder gefesselt nehmen sollte. Bevor er zu sprechen begann, schüttelte er sich ein paar Wassertropfen aus dem Gefieder, die verrieten, dass es regnete.
„Der Ort war mir nicht bekannt, aber ein so schönes Mädchen hatte ich zuvor noch nie gesehen, wirklich hübsch und reserviert. Im Kreise der anderen Mädchen wirkte sie so schüchtern. Ich habe die ganze Nacht mit ihr verbracht, sehr behutsam hatte ich mich ihr genähert, bis sie mir ihre Aufmerksamkeit schenkte. Ich fühlte die Liebe, wenn man liebt ist sogar die Müdigkeit eine Freude. Sie war festen Schrittes, schlank, nicht groß, sachlich, aber mit Witz, selbstbewusst aus Wissen und Verantwortung. Ungewöhnlich vielleicht nur ihr Vorname, oder das, was sie sagte.
Oder war das gar nicht so ungewöhnlich?
Für manch einen ist Aussehen eben Aussehen, und Schönheit etwas anderes, sozusagen eine private Angelegenheit. Aber wir nehmen Schönheit nicht bekanntlich um unserer selbst willen, sondern um die materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen immer besser zu befriedigen. Doch von unserer Persönlichkeit, von unserer Fähigkeit, von unserem schöpferischen Arbeiten, hängt es letzten Endes ab, ob die gesteckten Ziele erreicht werden.
Schönheit zu interpretieren scheint einem Ästheten ein Greuel. Er sieht nur das anscheinend formale Aussehen, aber nicht den inneren Nährboden. Wenn ich es recht bedenke, so hat mir die junge Frau, das gewöhnlich Ungewöhnliche meiner Interessen und Bedürfnisse offenbart.“
Der Rabe hob in die Luft, steuerte mein Fenster an, und verschwand wie gekommen. Nun saß ich noch immer aufrecht in meinem Bett, schaute dem Vogel nach, wie er in der Dunkelheit der Nacht von dannen flog.
Als Schlaf mich übermannte, legte ich mich behutsam wieder in die Kissen, und schloss meine Augen, jedoch verschloss ich nicht meinen Geist. Des Rabens Worte irrten durch meine Gedanken und Träume, und als ich am Morgen mein Spiegelbild betrachtete, sah ich mich plötzlich mit anderen Augen.

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Texte: Coverbild by Google
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2010

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Widmung:
Der Phantasie und den Träumen

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