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Die Heiratsanzeige



Helena suchte schon seit längerer Zeit nach einem geeigneten Partner, da sie nicht mehr als trostlose einsame Witwe dahinvegetieren wollte. Ihr Trauerjahr war vorbei, so dass sie, hungrig auf einen Leckerbissen, sämtliche Heiratsanzeigen in den Zeitungen verschlang, denn mit ihren 45 Jahren gehörte Helena noch lange nicht zum alten Eisen. Ihr hoffnungsvoller Blick blieb an folgender Annonce hängen:
Oberstudienrat, 50 Jahre, gutsituiert, 1,75 m groß, 78 kg schwer, dunkles Haar, sucht eine intelligente, taktvolle Frau mit Niveau. Antworten mit Bild bitte unter Chiffre.
Da der gute Herr wie Helena in Berlin wohnte, fasste sie den Entschluss, sich den gutsituierten Oberstudienrat zur Brust zu nehmen.
Sie war belesen genug, um auch mit intelligenten Herren anbändeln zu können und sich im Takt zu wiegen, das war wohl keine Schwierigkeit. Noch am gleichen Tag antwortete Helena auf sein Inserat und legte eines ihrer schönsten Fotos in das sorgfältig beschriftete Kuvert.
Bald darauf klingelte eines Nachmittags ihr Telefon. Am anderen Ende der Leitung war der Herr Lehrer, der Helena umgehend zu sich nach Hause einlud. Freudig nahm sie diese Einladung an und notierte sich vorsichtshalber seine Adresse, die im alten Teil von Berlin zu finden war.
Herausgeputzt wie ein Pfau fieberte Helena diesem Rendez-vous entgegen.
Doch welch fade Überraschung wartete auf die putzmuntere Frau!
Bereits im Treppenhaus hatte Helena eine leise Vorahnung, aber ohne ihre innere Neugier zu befriedigen, wollte sie sich nicht sofort auf dem Absatz umdrehen und verschwinden.
Schließlich war sie eine anständige Frau mit Niveau.
So klopfte Helena an die schäbige Wohnungstür, die mit einem alten Messingschild versehen war, auf dem
G. Johannsen, Oberstudienrat, geschrieben stand.
Als Herr Johannsen öffnete, verbeugte er sich sehr höflich, dass Helena zuerst nur sein schütteres Haar bemerkte, das nicht mehr viel hermachte. Nach der galanten Verbeugung reichte er ihr die Hand zum Gruß und wies ihr den Weg durch die muffige Zweizimmerwohnung ins Wohnzimmer. Das sparsam eingerichtete Zimmer machte einen schlechten Eindruck auf Helena. Außer einem Aquarium, das wohl den Fernseher ersetzen sollte, und einer Bücherwand mit alten seltenen Werken der Naturwissenschaft, war nichts reizvolles zu entdecken. Wahrscheinlich spürte er Raritäten nach, für die er seine ganze Energie opferte und dabei eine Art Fanatismus entwickelte.
Bei einem Glas Sherry lauschte sie gelangweilt seinem tristen Lebenslauf. Für die unternehmungslustige Dame war dieser Herr, an dem das Leben wohl nur so vorbeigerauscht war, offensichtlich ein Fehltritt.
Später berichtete Helena:
Geboren wurde Herr Johannsen in Hamburg. Er war das einzige Kind eines Senatsangestellten und einer Erzieherin. Sein Abitur und einen Teil seines Studiums absolvierte er in seiner Heimatstadt.
Herr Johannsen wechselte die Universität um in Berlin Mathematik, Physik und Chemie zu studieren.
Sein Berufsziel war schon damals das Lehramt an einer höheren Schule gewesen.
Die Referendarzeit verbrachte er wieder zu Hause in Hamburg. Danach bekam er eine lukrative Anstellung an einem Berliner Gymnasium, an dem Herr Johannsen zwanzig Jahre ordnungsliebend seinen Beruf ausübte und es bis zum Oberstudienrat brachte. Sein ganzes Interesse lag darin, sich den Naturwissenschaften zu beugen, so dass er niemals richtige Freunde gefunden hatte und auch unverheiratet blieb.
Hin und wieder traf er sich mit einigen Altersgenossen aus dem Lehrerkollegium, um seine losen privaten Verbindungen aufrecht zu erhalten.
Nur mit Helena gab es keine weitere Verabredung mehr.
Zudem fand sie heraus, dass der sonst so unauffällige bibliophile Herr Oberstudienrat G. Johannsen in seiner bemerkenswerten Langweiligkeit lieber die literarischen Kostbarkeiten stibitzte, statt sie legal zu erwerben.


Impressum

Texte: Coverbild by Google
Tag der Veröffentlichung: 19.07.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Kummer kann man notfalls allein ertragen, zur Freude gehören zwei.

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