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Lilawati



Es war einmal und es war auch nicht, da suchte mich eines Morgens ein Sklave des Sultans in meiner bescheidenen Herberge auf, um mir einen Brief des mächtigen Mannes zu überreichen.
Der Sklave erklärte mir, dass der Sultan es wünschte, so fern ich es erübrigen konnte, den Palast als Gast zu betreten. Erfreut darüber, öffnete ich den Brief und las die Einladung.
Der Sultan bat mich, Aram Manusch, seine Freunde, die er erwartete, mit meinen Geschichten, zu amüsieren. Als weiser Geschichtenerzähler war ich bis weit über die Grenzen des Landes bekannt, und fühlte mich sichtlich geehrt, dass der Sultan beabsichtigte, mich nun persönlich hinzuzuziehen.
Mit dem Sklaven als Begleiter, machte ich mich sofort auf dem Weg und betrat nach langem Fußmarsch das herrliche Haus des Sultans.
Der Sklave führte mich durch die prunkvolle Gallerie, die vor dem Eingang eines reichlich ausgeschmückten Saales endete. Dort erwartete mich der Herrscher, der bereits von mehreren Gelehrten und Poeten umgeben war.
„Salam aleikum“, sagte ich höflich, verbeugte mich tief vor dem Herrn, der mit mir ebenso freundlich antwortete: „We aleikum es salam.“
Der Sultan wandte sich mir zu., und lud mich ein Platz zu nehmen. Ich ließ mich auf eines der üppigen seidenen Sitzkissen nieder und wurde sofort von mehreren Sklaven bedient. Obst, Süßes, Gebäck, Tee und frisches Wasser wurde mir gereicht, welches ich genussvoll annahm. Mit einem Becher köstlichen Wassers, ließ ich den Sultan hoch leben und die anderen Turbanträger fielen mir sogleich ins Wort. Ein stattlicher Mann mit feinen braunen Händen, die geschmückt mit kostbaren Ringen waren, erhob seinen Becher zum Wohl aller und erläuterte den Grund dieses Treffens: „Es geziemt sich Euch mitzuteilen, das der Zweck dieses Treffens dem erlauchten Ehrengast, Prinz Nadir El Rasuf Sahir gewidmet ist.“
Mit einer höflichen Verneigung vor dem Prinzen sprach der Mann weiter: „Der Prinz unterliegt seinen Pflichten, als guter Muslim eine Pilgerfahrt nach Mekka zu unternehmen, und als Zwischenstation stieg er in dem Palast des Sultans ab. Möge Allah unserem Herrscher gnädig sein.“
Der Sultan suchte meinen Blick und sagte bestimmend: „Großzügiger Aram Manusch, ich glaube, dass ich Euch mit der Aufgabe vertraut machen darf, dem Prinzen mit Euren Geschichten um Politik, Wissenschaft und den schönen Künsten zu belehren.
Ich antwortete gelassen: „Eure Wünsche sind mir ein Befehl, o Herr.“
Ich huldigte dem Prinzen, dessen Bekanntschaft ich machen durfte.
„Dann erfreue uns mit der Kunst des Erzählens“, rief Prinz Nadir, „bei Allah, lass uns deine Geschichten hören.“
Als das Mahl beendet war, wir die vorgeschriebenen rituellen Waschungen hinter uns gebracht hatten, wurde mir das Wort erteilt. Ich erhob mich, warf einen Blick in die Runde und begann zu erzählen:
„Der Legende nach, besaß ein berühmter Astrologe im fernen Osten, eine schöne Tochter, Namens Lilawati. Als das Mädchen das Licht der Welt erblickte, befragte der Mann die Sterne nach seinem Schicksal. Die Stellung der verschiedenen Sternbilder am Himmel jenes Abends wies darauf hin, dass seine Tochter dazu verurteilt war, unverheiratet zu bleiben, und auf die Liebe der jungen Männer ihres Landes bis zum Ende ihrer Tage verzichten zu müssen. Mit solch einer traurigen Fügung wollte sich der Astrologe nicht abfinden. Er suchte bei anderen berühmten Sternkundigen Rat. Einer seiner befragten Astrologen riet ihm, das Mädchen in eine ferne Provinz, die am Meer gelegen, zu bringen. Dort in einer Felsenhöhle, in der ein Tempel zu Ehren des Buddha hinein gebaut war, könnte Lilawati einen Bräutigam finden, wenn sie täglich den Heiligen um Hilfe bitten würde.
Dankbar über diesen Rat, wartete der Astrologe geduldig, bis seine Tochter in das heiratsfähige Alter kam.
Und so geschah es, dass er mit Lilawati ans Meer zog. Täglich ließ er das Mädchen den Tempel aufsuchen, um Buddha gnädig zu stimmen.
Endlich erlebten die beiden eine angenehme Überraschung, denn ein fleißiger und ehrlicher junger Mann aus gutem Hause bewarb sich als Freier um Lilawati. Sofort sollte Tag und Stunde festgelegt, und die Zeremonie der Hochzeit vorbereitet werden.
Mit Hilfe eines Zylinders, den man in ein mit Wasser gefülltes Gefäß eintauchte, berechneten die Inder damals die Stunde des Tages. Der Zylinder der Zeit war hohl, am oberen Ende offen, und in der Mitte der Grundfläche mit einer winzigen Öffnung versehen. In dem Maße, wie das Wasser durch diese Öffnung in den Zylinder eindrang und ihn langsam füllte, versank er allmählich und tauchte nach einem gewissen Zeitabschnitt vollständig unter die Wasseroberfläche.
Lilawatis Vater brachte den Zylinder mit aller Vorsicht in die richtige Position und wartete darauf, dass der erwünschte Wasserspiegel erreicht wurde. Von ihrer ungezügelten Neugier erfasst, wollte Lilawati unbedingt zuschauen, wie das Wasser langsam den Zylinder füllte, und sie trat dicht an das Gefäß, um die Bestimmung der Zeit aus nächster Nähe mitzuerleben. Lange wartete Lilawati und der Bräutigam geduldig, doch der Zylinder zeigte noch immer keine Zeit an. Daraufhin zog sich der Brautwerber zurück und die Hochzeit wurde ausgesetzt. Zu allem Unglück verschwand der junge Mann und Lilawati blieb ledig zurück.“
„Was war geschehen?“ Diese Frage brannte den Zuhörern auf der Zunge und der Sultan forderte eine Erklärung für dieses Unglück.
Lächelnd fuhr ich in meiner Erzählung fort: „Als Lilawati sich über den Zylinder beugte, löste sich eine Perle aus ihrem Kleid und fiel ins Wasser, von ihr unbemerkt. Und so geriet die kleine Perle in die winzige Öffnung des Zylinders und verschloss sie. Somit konnte der Zylinder der Zeit keine Stunde für die Hochzeit anzeigen.
Der Astrologe musste einsehen, dass man das Schicksal nicht beeinflussen konnte.
Doch die Geschichte um Lilawati verbreitete sich, und ihr Name wurde unsterblich.“
(nach M.Tahan)


„Arme Lilawati“, seufzte der Prinz, und seine Gesichtszüge ließen wahres Mitleid aufkommen.

Impressum

Texte: Coverbild von Fotosearch
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2010

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