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Irren ist menschlich



Als Gastgeberin war Frau Maria Engelmann eine wahre Kennerin. Sie suchte ihre Gäste nach strengen Maßstäben aus und gab sich nur mit den ausgewähltesten Exemplaren zufrieden. Für Frau Engelmann war es ein fürchterliches Pech, dass Einbrecher ausgerechnet in der Samstagsnacht, die Schlusspunkt eines krönenden Wochenendes war, ihr Heim aufsuchten.
Die grandiose Wochenendgesellschaft zählte sechs Personen. Das Ehepaar Engelmann, Josef Engelmann war Parlamentsabgeordneter und Geldgeber seiner Frau Maria, die schon viele Jahre miteinander verheiratet waren. Dann war da noch der junge Herr Peterson, ein junger Arzt aus gutem Hause und eine präsentable Erscheinung. Die Engelmanns wollten sich den Arzt, mit hervorragendem Leumund, schon einmal für Leibesvisitationen warm halten.
Das Ehepaar Fleige, Herr Fleige war wie Herr Engelmann Abgeordneter, und seine Frau das Anhängsel der wohlsituierten Familie. Beide waren ruhige wortkarge Naturen. Die Hauptperson auf der Gästeliste war der große chinesische Wissenschaftler Dr. Wan Tang, der Einstein Chinas. Er hatte einen Vortrag in der Aula des hiesigen Gymnasiums gehalten.
Frau Engelmanns Bekanntschaft mit dem sagenhaften Wissenschaftler kam am Freitagabend nach dem Vortrag zustande, als sie sich auf dem anschließenden Empfang kennen lernten. Herr Dr. Wan Tang war scheu. Zudem besaß er Abneigung und Misstrauen gegenüber der Presse. Seit seiner Ankunft in Deutschland war er mehr von Fotographen umlagert als ein Filmstar. Abgesehen von dem besagten Vortrag und dem anschließenden Empfang war Dr. Wan Tang nie außerhalb seines, von vielen chinesischen Sicherheitskräften, gutbewachten Hotels gesichtet worden. Man konnte ihn nicht als Partylöwen bezeichnen.
Wie es Frau Engelmann gelungen war, eine positive Antwort von dem Doktor auf ihre Einladung zu erhalten, wird wohl ihr kleines Geheimnis bleiben.
Jedenfalls hatte sie allen Grund, sich zu ihrer Errungenschaft zu beglückwünschen.
Das architektonische Monstrum, wie die Villa Engelmann auch bezeichnet wurde, hatte vier Schlafräume, die alle auf ein und denselben Balkon führten. Die Zimmer wurden bereits samstags, am Morgen hergerichtet, damit jeder eingeladene Gast über Nacht bleiben konnte. Herr Dr. Wan Tang traf, wie ein unbedeutender Mensch, am Samstagnachmittag mit dem Taxi als letzter Gast ein. Er schüttelte den Engelmanns, dem jungen Dr. Peterson und den Fleiges die Hand, ohne sein schreckliches chinesisches Lächeln zu unterbrechen. Er aß wenig, trank noch weniger, redete überhaupt nicht, reagierte aber immer mit einem Nicken, wenn er angesprochen wurde. Vor dem Abendessen zeigt Frau Engelmann ihren Gästen die Schlafräume und wies jeden in ein Zimmer ein. Herr Dr. Peterson wurde direkt neben dem Schlafgemach der Gastgeber untergebracht. Somit verließ Maria Engelmann die kleine Gesellschaft, um sich später in ihrem neuen royal blauen Kostüm zu präsentieren. Geschmückt war sie mit einem großen Brilliant-Anhänger, passenden Ohrringen, einem Armband besetzt mit Brillanten und mit fünf Ringen aus Gold und Platin. Normalerweise verwahrte die Dame diese Schmuckstücke in einem Wandsafe, der hinter dem riesigen Gemälde im Ehe-Schlafzimmer versteckt war. Frau Engelmann sah in ihrer Abendgarderobe und voller glitzernder Brillanten hinreißend aus. Es war ein erfolgreicher Abend. Der Chinese entpuppte sich als unterhaltsamer Kartenkünstler, zeigte Fingerfiguren und spielte eine einfache Melodie auf dem Flügel. Maria verharrte in einem ekstatischen Glücksgefühl. Sie war restlos hingerissen. Schließlich ging die Gästerunde geschmeichelt und zufrieden zu Bett. Frau Engelmann nahm ihren Schmuck ab, legte ihn in den Safe, verschloss diesen jedoch nicht, da sie feststellte, dass sie einen Ohrring verloren hatte. Sie lief statt dessen zurück in das Esszimmer um diesen zu suchen, fand ihn aber nicht. Als Maria nach einer Weile des Suchens in ihr Schlafzimmer zurückkehrte, war der Safe leer. Die Sache war wirklich ungeheuer peinlich. Nicht nur Maria, sondern auch ihr Mann, der hastig herbeigerufen wurde, war in großer Verlegenheit.
Die Hausangestellte versicherte, dass sie nichts gehört und gesehen hatte, aber auch nichts gestohlen, denn zu dem Zeitpunkt verweilte sie noch in der Küche um das schmutzige Geschirr zu säubern. Der Dieb musste somit über den Balkon gekommen sein. Und es blieben noch die Gäste. Frau Engelmann weinte. Vorfälle wie diese waren höchst unangenehm. In einem Punkt allerdings waren sich die Engelmanns einig, der große Gelehrte durfte nichts erfahren. Gegenüber den Fleiges hegten sie auch keinen Verdacht, somit blieb nur der junge Dr. Peterson übrig. Die Sache schien sonnenklar zu sein. Nach eingehender Beratung entschloss sich Josef, von Mann zu Mann mit Peterson zu reden. Diese Unterhaltung war jedoch ohne Erfolg. Maria trocknete ihre Tränen und wollte nun selbst mit dem jungen Mann, wie eine Mutter zu ihrem Sohn, sprechen. Herr Dr. Peterson wurde wütend und verlangte, dass man das Ehepaar Fleige und den Chinesen wecken und befragen sollte, außerdem sollte die Polizei alarmiert werden. Unterdessen wurden Herr und Frau Fleige von dem verursachten Lärm der Auseinandersetzung unliebsam aus dem Schlaf gerissen. Neugierig verfolgten sie die Worte, die durch die Wände in ihr Zimmer drangen.
Die Engelmanns entschuldigten sich für ihren Verdacht und zogen sich in ihr Schlafzimmer zurück. Es war eine erbärmliche Nacht.
Am nächsten Morgen nahm Herr Dr. Peterson sehr früh Abschied. Ihm war das Lachen gehörig vergangen. Auch die Fleiges verließen die Villa ebenfalls vor dem Frühstück. Sie verdrängten all ihre Ängste und Einwände, aber es gab für sie keinen Grund mehr zu bleiben. Der Gelehrte hingegen frühstückte ausgiebig und verließ erst gegen elf Uhr das Haus. Genauso wie er gekommen war, unscheinbar in einem Taxi. Etwa eine halbe Stunde später kam ein Telegramm. Es war adressiert an Frau Engelmann. Herr Engelmann nahm es entgegen. Das Telegramm trug das Emblem des Hotels, in dem der chinesische Gelehrte abgestiegen war. Josef hatte eine böse Vorahnung und riss das Kuvert auf.
Es enthielt eine kurze aber einleuchtende Notiz:

Verehrte Frau Engelmann!

Sie werden Herrn Dr. Wan Tang sicher vergeben, aber er nimmt nie an gesellschaftlichen Ereignissen teil. Es ist alleine meine Schuld, dass ich Sie nicht früher informiert habe.

Hochachtungsvoll

Ihr Li Ping Fu. Sekretär.

„Haben wir Post?“, fragte Maria ihren Mann, als sie die Treppe herunter kam. „Nein, Liebes“, antwortete Josef galant, und ließ den Brief in seiner Jackentasche verschwinden. „Und nun zu den Juwelen“, sagte sie in einem leisen traurigen Ton, „was sollen wir jetzt tun?“ Josef umarmte seine Frau zärtlich und entgegnete: „Das überlässt du mir. Wir wollen doch keinen Skandal.“
Dann seufzte er tief und ging hinaus in den Garten.
Es wunderte ihn nicht, dass Statur, Größe und Alter ungefähr übereinstimmten, da alle Chinesen irgendwie gleich aussehen.


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Tag der Veröffentlichung: 05.11.2009

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