Manchmal geht die Sonne abends auf
Der Tag hatte böse angefangen.
Schon am frühen Morgen hatte nichts geklappt. Hin und wieder wird ein Tag, der schlecht begonnen hat, im Laufe der Stunden noch ganz erträglich. An diesem aber wurde es immer schlimmer. Der Abend schließlich versprach alles in den Schatten zu stellen.
Wie jeden Abend stand ich in der Küche, weit entfernt vom Geschehen, um das Abendbrot zu bereiten. Mein Mann saß erwartungsvoll im Wohnzimmer, und meine kleine Tochter spielte unterdessen im Kinderzimmer.
Plötzlich stolperte Jennifer, nach Luft schnappend, zu mir in die Küche. Ihre Worte waren kaum hörbar. Wie vom Blitz getroffen durchfuhr es mich. Der erste Gedanke, den ich in diesem Moment fassen konnte, war: „Mein Gott, sie erstickt. Sie hat etwas verschluckt.“
Ich musste Herr der Situation werden. Ich versuchte meine Nervosität und die Angst zu unterdrücken. „Ganz ruhig, Kleines“, flüsterte ich, „Mami hilft dir.“ Meine Arme umklammerten den kleinen Körper, und mit festem ruckartigem Druck auf ihren Magen versuchte ich Jennifer zum Erbrechen zu bringen.
Der Versuch scheiterte. Anstatt zu erbrechen, würgte sie den Gegenstand tiefer in die Speiseröhre. Ihre zarte Stimme versiegte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht, panisch strampelnd und um sich schlagend, sank Jennifer vor meinen Augen in sich zusammen. Sie war ohnmächtig geworden. Eine leise kaum spürbare Atmung war dennoch vorhanden. Verzweifelt rief ich nach meinem Mann. Günther raste wie von der Tarantel gebissen zu uns in die Küche. Bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, schrie ich ihn an. „Verdammt, tu etwas, ruf den Notarzt!“ Völlig verwirrt dreht er auf dem Absatz um und suchte nach dem Telefonbuch. „Was treibst du denn da, du sollst den Notarzt rufen.“ „Ja, um Himmelswillen“, fuhr er mich an „welsche Nummer hat er denn?“ Vor lauter Panik wusste Günther sich nicht zu helfen, hielt das Telefon in der Hand und starrte auf Jennifer. Ich entriss ihm das Telefon und wählte 112.
Die Rettungswache stellte eine Menge Fragen, die ich nur schwer beantworten konnte. Ich wusste nicht, was mein Kind verschluckt hatte und konnte auch nicht die Lage, in der sich Jennifer befand, richtig einschätzen.
Die Minuten, bis endlich der Notarzt eintraf, waren eine Ewigkeit für uns.
Mit Blaulicht und Martinshorn jagte der Rettungswagen durch die Straßen. Der Arzt konnte nur notdürftig „Erste Hilfe“ leisten. Über Funk gab er die wenigen Informationen an die Unfallstation weiter. Als der Krankenwagen eintraf, war in der Klinik alles für diesen Notfall vorbereitet. Im Eiltempo wurde Jennifer mit der Trage zum Röntgen gefahren. Die Aufnahmen, die dort angefertigt wurden, zeigten uns, was unser Kind im Hals stecken hatte. Eine große runde Brosche war im oberen Halsteil deutlich zu erkennen. Wir waren alle entsetzt.
Nachdem Internisten, Chirurgen, Kinder- und HNO-Ärzte sich beraten hatten, erklärte uns der diensthabende Internist, dass der Fremdkörper hinter dem Kehlkopf stecken geblieben sei und operativ entfernt werden müsste. Jennifer bekamen wir nicht mehr zu Gesicht. Sie wurde direkt in den Operationssaal geschoben.
Eine Krankenschwester führte uns zu einem Warteraum und sagte höflich: „Machen sie sich keine Sorgen, ihre Tochter schafft das schon. Die Ärzte haben alles im Griff.“ Wie ich diese Worte hasste. Ich hasste auch mich, denn die Brosche hatte ich ihr geschenkt. Und jetzt hätte dieses verfluchte Ding mir beinahe mein einziges Kind genommen. Vorwürfe über Vorwürfe. Sogar mein Mann fand keine tröstenden Worte. Noch konnte ich die Haltung bewahren, aber Günther war mit seine Nerven am Ende. Schluchzend und weinend lief er im Wartezimmer auf und ab. Die Minuten wurden zu Stunden.
Dann endlich kam der behandelnde Arzt persönlich zu uns ins Wartezimmer. Er streckte seinen Arm aus und drückte die Brosche in meine Handfläche. „Es ist alles gut verlaufen“, sagte er mit einem Lächeln auf dem Gesicht. „Ihre Tochter hatte großes Glück gehabt. Wenn Jennifer aufwacht, wird sie noch etwas Halsschmerzen haben und heiser sein. Aber in ein paar Tagen...“
„... ist alles vorbei“, beendete ich den Satz. „Fahren sie nach Hause und erholen sie sich von dem Schreck. Morgen, nach der Visite, können sie ihr Kind abholen.“
Mit Tränen in den Augen bedankte ich mich überglücklich. Erst jetzt konnte ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen.
Meine Beine zitterten. Ich musste mich setzen. Dann weinte ich hemmungslos in meine Hände.
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2009
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