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Die Nadel – Eine gestrickte Geschichte

Es war einmal eine kleine Königsnadel. Sie lebte in einem winzigen Wollgeschäft, in einem fernen Ort, wo Mensch, Tier und Nadel der selben Sprache mächtig waren.
Wie die anderen Stricknadeln, steckte auch sie in einem dicken Wollknäuel. Doch ihre Wolle war etwas Besonderes.
Kuschelig und weich eingebettet, ruhte die königliche Nadel im Bastkorb.
Die Königsnadel war so stolz auf ihre Nadelstärke, dass sich der Umgang mit ihren Mitnadeln für sie sehr schwierig gestaltete.
Eines Tages reckte sie vorsichtig die Nadelspitze aus ihrem Korb und seufzte leise: „Ach fändt ich doch unter all den Nadeln hier, eine, die so aussähe wie ich, dass auch ich endlich zum Stricken verwendet würde.“
„Höre einmal“, brummte die dicke Rundstricknadel, „wie wäre es, wenn du etwas zunimmst, so könnten wir zusammen...“
Bevor diese ausgesprochen hatte, wetterte die Königsnadel hochnäsig: „Um Gottes Willen, zunehmen, nein, wie könnte ich.“
„Dann bleib halt stecken, wo du steckst“, war die Antwort.
Leise piepste die zierliche Sockennadel: „Hey du da, wie wäre es mit uns beiden?“
„Du? Du bist doch viel zu klein“, entgegnete die stolze Nadel.
„Aber ich könnte dir helfen.“
Eine einfache, lange verrostete Stricknadel kam zum Vorschein.
„Wer bist denn du?“ Entsetzt schaute die feine Nadel der anderen in die frechen Nadelaugen.
„Ich habe deine Nadelstärke.“
„Aber wie schaust du aus? Nein, das geht nun wirklich nicht."
„Na gut, dann eben nicht“, entgegnete diese enttäuscht.
Die rostige Stricknadel verkroch sich beleidigt in einer Schublade unter der Ladentheke. Während sie in der dunklen Lade schmollte hatte sie plötzlich eine tolle Idee.
„Weihnachten steht vor der Tür, und weil überall gebastelt und gemalt wird, sollte es doch möglich sein aus mir auch etwas schönes und königliches zu machen“, ermutigte sich die glanzlose Nadel.
Bald wurde es dunkel. Schnell schlüpfte sie aus ihrem Versteck und machte sich auf die Suche. In der Bastelecke fand das schäbige Ding, nach langem hin und her, endlich das Passende. Goldfarbe! Vor lauter Freude klopfte ihr kleines Nadelherz so laut, dass sie beinahe ihre Mitnadeln aufgeweckt hätte.
Schnell breitete sich die rostige Nadel ein Goldbad und hüpfte hinein. Es war so angenehm, dass sie alles um sich herum vergaß. Gegen Morgen, als die Nadel aus ihren goldenen Träumen erwachte, bemerkte sie mit Schrecken, dass es draußen bereits hell geworden war. Bald reckten und streckten sich auch die anderen Nadeln. Da aber alle noch zu sehr mit sich beschäftigt waren, vernahm keine von ihnen, wie aus dem rostigen unscheinbaren Stück Metall, eine strahlend schöne Stricknadel geworden war.
Es dauerte nicht lange, und die Königsnadel blickte suchen in ihre Umgebung.
Auf einmal weinte sie bitterlich.
„Schrecklich“, jammerte sie, „diese Einsamkeit macht mich ganz krank.“
In ihrem Unglück bemerkte sie gar nicht, dass es ganz still geworden war. Jede Stricknadel steckte voller Neid ihren Kopf in die Wolle, als alle die schöne goldene Nadel an sich vorüber tanzen sahen. Da lauschte auch die Königsnadel in die Stille und hob ihren kleinen gekrönten Kopf.
Voller Verwunderung blickte sie in die strahlenden Nadelaugen der Goldenen. Ein Glücksgefühl überkam ihren zarten Nadelkörper und sie zitterte ganz aufgeregt.
Die goldene Nadel versuchte unterdessen etwas zur Beruhigung zu tun. Leider war es ihr nicht möglich dieses Zittern zu unterbinden.
Dabei kamen sich die beiden näher und näher. Blitzartig verliebten sich die Stricknadeln so sehr ineinander, dass sie unverzüglich zu stricken begannen.
Die Harmonie des Nadelpärchens war berauschend.
Sie strickten und strickten.
Die kleinen Nadelköpfchen klackerten unaufhörlich. Die Wollknäuel in dem winzigen Lädchen wurden weniger und weniger.
Bald hing ein langer, bunter Schal zur Eingangstür heraus. Doch oh weh, die Goldfarbe blätterte ab und der Glanz und die Schönheit der alten Nadel wich dem Rost, der unter diesem Kleid verborgen war.
Die königliche Stricknadel fühlte die Unebenheiten, als ihr schlanker Nadelkörper den anderen berührte. Erschrocken wich sie zurück, blieb aber in der Wolle hängen. Die rostige Nadel verbeugte sich höflich und sagte:
"Die Schönheit ist gewichen, so wie auch deine eines Tages weichen wird, doch zusammen haben wir etwas Prachtvolles geschaffen. Sieh nur, wie wunderbar unsere Arbeit ist."
Die Königsnadel verlor ihren Stolz und schmiegte sich an ihren Schatz, denn ohne ihn hätte sie niemals herausgefunden, wie schön Stricken sein kann.
Und wenn die Wolle kein Ende gefunden hätte, so strickten die Zwei noch heute.


Impressum

Texte: Cover von Fotosearch (Linzenfreie Bilder)
Tag der Veröffentlichung: 22.08.2009

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Widmung:
Der inneren Werte

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