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Das Kochbuch der Träume

Als die Taille und das Portemonnaie von Simon noch gleich dünn waren, zeichnete er, als Ersatz für substantiellere Genüsse, die Umrisse von Schüsseln und Töpfe auf ein Blatt Papier und schrieb die Namen köstlicher Gerichte hinein.
Manchmal malte er kleinen Dampfwolken, die aufstiegen, wenn er sich wegen seines Appetits eine heiße Suppe oder Eintopf vorstellte.
Oder er aß träumend frisches Brot, sog förmlich den Duft der Backware in seine Nase und das Wasser lief ihm im Mund zusammen, dabei knurrte sein Magen heftig, denn schon lange hatte er keine warme Mahlzeit mehr zu sich genommen, geschweige ein Stück frisches Brot gebrochen.
Das Leben des Knaben Simon hatte wenig vom königlichen Glanz, es war eher bescheiden und freudlos.

Der König des Landes, der seine Untertanen knechtete, ihnen jegliche Lebensqualität stahl, weil seine Macht und seine Gier nach Schönem unersättlich war, und somit die Gelder des Landes in Reichtum und Herrschaft investiert wurden.
Simon lebte als Findelkind in einem Kloster und zählte bereits 16 an Jahren. Er musste sich strengen Ritualen unterwerfen, die sein Leben im Kloster erschwerten. Die Mönche waren bettelarm, die Steuergelder erreichten das Kloster nicht, denn der König des Landes ließ sich lieber wertvollen Schmuck und raffinierte Gewänder anfertigen, oder steckte das erpresste Geld seiner Bürger in die Armee, die ihn wegen seiner Raubzüge mit immer besseren Waffen verteidigen musste.
Mit zunehmenden Alter wuchs Hunger, und auch der Appetit auf Leben, auf Fülle und kulinarische Genüsse. Wie maßlos er in seinem kaum zu stillendem Hunger war, zeigte das Kochbuch seiner Träume.

Seine Bilder spiegelten die gigantische Esslust wider. Niemand konnte die Freuden der Tafel mit so viel Kenntnis ausführlicher zeichnen als Simon.
Ein Mönch, der Simon in seiner bescheidenen Kammer besuchte, schaute ihm über die Schulter und erblickte das köstlich hergerichtete Festmahl auf dem Blatt Papier, das Simon im Hungerwahn gezeichnet hatte.
Dutzende von Austern, kleine Koteletts, eine Ente, zwei gebratene Rebhühner, eine Seezunge, Dessertfrüchte, Brot und Kuchen, Wein aus roten Trauben und feines Gemüse der Saison. Dem Mönch lief der Speichel bei dem Anblick aus dem Mund, tropfte auf das vor ihm liegende Papier und er seufzte so herzzerreißend, dass Simon ihm das Papier unter die Nase hielt und freundlich sagte: „Ich lade dich zum Essen ein, nimm Platz und genieße dieses üppige Mahl, du weißt nicht, wann du wieder mein Gast sein wirst.“
Lachend nahm der alte Mann die Einladung an, setzte sich zu Simon und tat wie der Junge es ihm befahl. Plötzlich stieg eine kleine Dampfwolke auf, der Tropfen seines Speichels schwebte wie eine kleine Nebelwand über dem Papier.
„Es ist ein improvisiertes Gericht, das kann doch gar nicht möglich sein“, stotterte der Mönch.
„Aber nicht meines“, antwortete Simon und inhalierte den Geruch der Speisen mit einer Wonne, das man tatsächlich glaubte, der Tisch stünde voll von all dem Köstlichen.
Kaum hatte Simon dies ausgesprochen, verformte sich der Nebel und nahm eine menschliche Gestalt an, wenn diese auch sehr klein zu sein schien, konnte man aber deutlich die Umrisse eines Körpers erkennen.
Alle Beteuerungen des Mönchs, doch mit dem Unsinn aufzuhören, da er das Böse heraufbeschwor, mit seiner Phantasie und seinen Gelüsten den Teufel zum Essen einlud, und sich in die ewige Verdammnis leiten würde.
Simon lechzte nach Essen, nach Herzhaftem, Süßem, Saurem nach Heißem und nach Kaltem, nach Wein und Bier, und nach köstlich frischem Wasser aus der besten Quelle der Gegend.
Der kleine Geist, lachte quietschend, freute sich, dass er wieder ein Opfer gefunden hatte, mit dem er den Pakt auf Essen schließen konnte.
Für ihn waren die Produkte der Phantasie, die Wirklichkeit des Alltages.
Der Mönch bekreuzigte sich, flehte Gott um Hilfe an, er möge den Jungen doch endlich wecken, aber die Situation schien aussichtslos.
Es war sicherlich ein bedauernswerter Zufall, dass der Mönch anwesend war, und mit ansehen musste, dass der junge Simon sein Leben für ein üppiges Mahl verkaufte, und dass das Kochbuch seiner Träume, die einzige Hinterlassenschaft seines Lebens war.
Auf dem Totenbett flüsterte Simon dem alten Mönch zu: „Schicke nicht nach dem Doktor, bringe mir einen Koch, ich möchte nicht hungrig sterben.“
„Madonna mia“, rief der Mönch, „was tut man nicht alles für eine warme Mahlzeit!“
Die Aufregung packte ihn dermaßen, dass er zitterte. So lief er von dannen und kehrte mit den Bildern zurück, die Simon in seiner bescheidenen Kammer zeichnete. Ein Zaubermittel gegen Hunger, dagegen konnte auch der Teufel nichts ausrichten. Er reichte ihm, was immer Simon sich wünschte. Der Junge fixierte seine Bilder, verschlang die Leckerbissen, die darauf gemalt waren mit halb geöffneten Augen, seine Kiefer bewegten sich, und die Zunge schmeckte die Köstlichkeiten, die er in seiner Phantasie verspeiste.
„Du wirst dieses Steak doch nicht alleine essen wollen“, sagte der alte Mönch. Ein Lächeln formte sich auf Simons Gesicht, und er schüttelte leicht seinen Kopf. Ein leiser krächzender Laut entrann seinem Mund: „Kartoffeln, Erbsen und Spargel sind genug vorhanden, Eier sowieso, aber das Steak ist meines.“
Dann reichte Simon ihm in Gedanken sein Besteck. Der Mönch fasste Simons Hand, atmete tief die Gerüche seiner Erinnerung, reife Tomaten, Basilikum, Käse, olivenölgetränktes Brot und den Duft der Mittelmeerkräuter. Er befand sich wieder im Kreis der Festmahle von einst.
Es war Heimat, und das Herz aß mit. Er ist zurückgekehrt gegen Ende seines Lebens, auf der Flucht vor Hunger und Durst, zurück zu Rosmarin und Salbei, zu Oleander und Thymian, zurück an die göttliche Küste des Lebens.
Eingehüllt in luxuriöse Schlemmerei hauchte Simon und sein alter Freund schmatzend ihr Leben aus.
Als der Höhepunkt dieses Festmahls erreicht war, hatte der Teufel das Gefühl, dass man ringsum erwartete, ihn endlich sein Champagnerglas aufessen zu sehen. Er griff also nach dem dünnwandigen Kristallbecher, biss krachend ein Stück heraus und begann es zu zerkauen. Doch es fielen ihm beinahe die Splitter aus dem Mund, als er sehen musste, dass der Herr ihm gegenüber, ebenfalls zum Glas griff und ein herzhaftes Stück abbiss. Starr saß der Teufel da. Schweigend aß er sein Glas zu Ende. Auch sein Gegenüber kaute fleißig vor sich hin. Nur das Kreischen und Knirschen aus beider Münder war zu hören. Wer war überhaupt der andere Mann? Wer wagte es, ja wer durfte es wagen, außer dem Teufel noch Gläser zu zerbeißen? Der Teufel hatte inzwischen sein Glas intus und wartete ab. Jetzt hatte der schreckliche Nebenbuhler endlich das ganze Champagnerglas aufgegessen und wischte sich selbst zufrieden mit einem Lächeln den Mund an seinem Ärmel ab. Dann ließ er sich, im Beisein von Simon und dem Mönch, mit einer Gondel in den Himmel fahren.
Zurück blieb ein traumatisierter Teufel, getroffen von der Niederlage und der Enttäuschung, die auserkorene gute Seele verloren zu haben.



Impressum

Texte: Coverbild von Fotosearch
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
All den Hungernden dieser Erde

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