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Das Geheimnis

Hohenzollern-Allee 112 – wer hier wohnt, konnte nur ein Superreicher sein. Keine Adresse in dieser Stadt genoss das gleiche Ansehen.
Ob Kindermädchen, Taxifahrer, Lebensmittellieferant oder Monteur, jeder hob die Augenbrauen und die Preise, wenn er zu dieser Adresse gerufen wurde. Nur der Sensemann, der hatte vor dieser hochherrschaftlichen Tür keinen Respekt und trat ohne anzuklopfen in die vornehme Villa.
An einem Spätnachmittag Ende März, die Bäume im Garten und am Straßenrand zeigten schon ihr erstes Grün, betrat die junge, schlanke Frau von Kerneburg mit traurigen Augen das Schlafzimmer ihres Vaters.
Hermann von Kerneburg, der immer ein erfolgreicher, angesehener Fabrikant war, war vor einigen Wochen im Alter von 62 Jahren ganz unerwartet gestorben.
Erst jetzt konnte Carina sich zu dieser schmerzlichen Tätigkeit aufraffen, die Geschäfte ihres Vaters zu übernehmen, denn so allmählich begriff sie, dass ihr geliebter Vater für immer von ihr gegangen war und sie nun in seine Fußstapfen treten musste. Mit ihren dreißig Jahren stand Carina, als diplomierte Betriebswirtin, die unmittelbar nach dem Studium im väterlichen Betrieb eine gehobenen Position im Management angetreten hatte, nun als Präsidentin an der Spitze der Firma.
Dem Hausmädchen hatte Carina freigegeben, weil sie allein und in Ruhe die Sachen ihres Vaters aussortieren wollte.
Das plötzliche Klingeln des Telefons ließ sie zusammenzucken. Sie nahm den Hörer vom Nebenanschluss, der im Schlafzimmer beim Nachttisch angebracht war, ab und meldete sich mit einem freundlichen: „Hallo!“
„Hallo Carina, hier ist Frank.“
„Oh Frank, wie geht es dir?“ „Ganz gut, aber viel wichtiger ist, wie geht es dir?“ Carina schmunzelte. Seit fast einem Jahr traf sie sich gelegentlich mit dem fünfzigjährigem Frank, der als Stadtrat kandidierte, gerade eine schmutzige Scheidung hinter sich hatte und selbst seine Freizeit mit Propagandakampagnen zupflasterte. „Ich bin okay“, sagte sie behutsam. „Soll ich dir Gesellschaft leisten?“, fragte Frank besorgt. „Nein, danke, ich brauche noch etwas Zeit, um mich mit der Tatsache abzufinden.“
Am anderen Ende herrschte für einen Augenblick schweigen. „Ich will über den Toten nichts Schlechtes sagen“, bemerkte Frank, „aber du solltest deinen Vater nicht so verherrlichen. Ich sage es nicht gerne, nur...“ „Dann sag es auch nicht! Fang gar nicht erst an, ihn schlecht zu machen. Du hast meinen Vater nicht richtig gekannt.“ „Das stimmt“, antwortete Frank bedächtig, „doch das, was ich kennen gelernt habe, das hat mir völlig gereicht.“ „Hast du angerufen, um mich über die schlechten Seiten meines Vaters aufzuklären oder um dich nach meinem Befinden zu erkundigen?“ „Entschuldige, ich dachte, ach ist ja auch egal, was ich dachte. Darf ich dich heute zum Essen einladen?“ „Ich bin nicht in der Stimmung, es sei denn, du hältst meinen Vater aus der Unterhaltung heraus“, entgegnete Carina kleinlaut.
„Carina, früher oder später müssen wir aber über einige Angelegenheiten sprechen, es führt kein Weg daran vorbei.“ Energisch redete Frank auf sie ein. „Einverstanden, aber ich werde mich wehren, das weißt du.“ „Dafür bist du bekannt. Also, bis heute Abend, ich hole dich gegen 20.00 Uhr ab.“ „Bis heute Abend“, gab Carina zurück und legte den Hörer auf die Gabel.
Seit sie sich erinnern konnte, hatte ihr Vater viele Verleumder und Kritiker gehabt. Habgier und Unmenschlichkeit wurden ihm von mehreren Seiten der Firma und von außerhalb vorgeworfen.
Aber Carina wusste es besser.
Eigentlich wollte sie Socken, Anzüge und Oberhemden einpacken, um diese einer Wohltätigkeitsorganisation zukommen zu lassen, doch jetzt fühlte sie sich dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen.
Carina verließ das Schlafzimmer, huschte über den langen Flur im oberen Trakt des Hauses, blieb einen Moment vor dem Arbeitszimmer stehen, dann betrat sie den Ort, an dem ihr Vater nachgedacht, geträumt und schöpferisch tätig gewesen war. Der große, antike Mahagonischreibtisch gehörte nur ihr. Langsam schritt Carina durch das Zimmer, atmete die muffige, verstaubte Luft, ihr Blick traf auf das Foto, das auf dem Schreibtisch platziert war. In dem silbernen Rahmen steckte das Lieblingsfoto ihres Vaters. Es zeigte Frau Evelyn von Kerneburg in der Blüte ihrer Jahre und ihre ganze Schönheit. Die Erinnerung an die vor fünf Jahren verstorbene Mutter ließen Tränen in ihre sonst so lustigen blauen Augen schießen. Und ohne ihren Vater erschien ihr die Villa nun kalt, dunkel und furchterregend.
„Das Beste wäre“, spekulierte sie, „dieses Haus zum Verkauf anzubieten.“ Carina wischte sich ihre Tränen von den blassen Wangen, und mit einem tiefen Seufzer zwang sie sich zur Arbeit, seinen Schreibtisch auszuräumen. Die Schubfächer waren fast leer, einige Briefmarken, Briefbögen und dazugehörige Umschläge waren darin zu finden. Das Fach rechts am Schreibtisch war verschlossen. Carina wühlte zuerst in der Ablage, dann durchsuchte sie noch einmal alle Schubläden. Zwischen Heftzwecken und Gummibändern fand sie einen kleinen Schlüssel, der offensichtlich passte. „Typisch Vater“, dachte Carina.
„Das deutlich Sichtbare wird stets übersehen“; seine Worte, die nicht treffender sein konnten, kehrten in ihr Gedächtnis zurück. Der Schlüssel passte tatsächlich.
Eine Anzahl Briefe und Postkarten kamen zum Vorschein. Carina nahm alles vorsichtig aus dem Fach und blätterte den Haufen von gesammelten Erinnerungen durch. Nach den Daten zu schließen, waren einige schon viele Jahre alt. Ein Stapel Briefe war gesondert geordnet. Alle waren mit dem gleichen Absender versehen. In großen geschwungenen Buchstaben hatte jemand lediglich L.J. auf die Umschläge geschrieben. An eine Person mit diesen Anfangsbuchstaben erinnerte sich Carina nicht. Nie hatte ihr Vater davon gesprochen oder irgend etwas erwähnt. Neugierig las sie die alte Post.
Sätze wie, - Schade, dass du nicht hier sein kannst. L, oder: Ich werde dich nicht vergessen. L - ließen Carina stutzig werden. „Merkwürdig“, dachte sie und überlegte, wer diese unbekannte Person sein könnte. Der Gedanke, dass ihr Vater noch zu Lebzeiten ihrer Mutter eine andere Frau hatte, schmerzte Carina immens. Sie sammelte die alte Post ein, überlegte kurz, wen sie nach L.J. befragen konnte und entschied sich für den Anwalt ihres Vaters, der ihm seit Gedenken in allen familiären Angelegenheiten mit Rat und Tat zur Seite stand. Carina wählte die Telefonnummer der Anwaltkanzlei. Eine freundliche Frauenstimme meldete sich: „Rechtsanwalt Dr. Huberty, sie sprechen mit Frau Evers.“ „Guten Tag, Frau Evers“, begrüßte Carina die Sekretärin, „ist Herr Huberty zu sprechen?“ „Einen Augenblick bitte, ich verbinde.“ Es klickte in der Leitung. Nach wenigen Sekunden vernahm sie eine kräftige Männerstimme. „Huberty“, brummte es in dem Hörer. „Hallo, hier ist Carina von Kerneburg, Herr Huberty, ich habe eine Frage, die mir sehr auf der Seele brennt.“ „Dann schieß einmal los, mein Kind“, antwortete der Anwalt fürsorglich. Immerhin kannte er die wohlerzogene junge Dame seit ihrer Geburt. „Kennen sie die Abkürzungen L.J. Ich glaube, es handelt sich hierbei um die Anfangsbuchstaben einer Frau?“ „Diese Frage möchte ich dir nicht am Telefon beantworten, ich komme nach den Sprechzeiten bei dir vorbei. Bis später.“ Bevor Carina protestieren konnte, hatte Dr. Huberty aufgelegt.
Etwas zermürbt verließ sie das Büro, stieg die weiße Marmortreppe hinab, setzte sich ins Wohnzimmer und dachte über die beiden Telefonate nach. „Was wusste Frank? Was ist so mysteriös an dieser L.J.?“
Bald sollte Carina alles erfahren. Einige Zeit saß Carina in Gedanken versunken in dem riesigen Wohnraum, in dem sie sich mehr als verloren vorkam. Dann klingelte es an der schweren Eichenholztür und Herr Dr. Huberty, im noblen Anzug und geputzten Schuhen, grinste freundlich, als sie die Tür öffnete. „Treten sie näher“, sagte Carina höflich zu dem alternden Herrn. „Danke“, erwiderte der Rechtsanwalt, „aber ich habe eigentlich keine Zeit, ich wollte dir nur diese Unterlagen überreichen, damit du dich in aller Ruhe mit dem Inhalt vertraut machen kannst. Alle Fragen werden diese Papiere beantworten. Solltest du dennoch etwas wissen wollen, so rufe mich morgen an. Auf Wiedersehen, Carina, alles Gute.“ „Ihnen auch, alles Gute“, krächzte Carina, „und haben sie vielen Dank für ihre Bemühungen.“ Dann warf sie die Tür ins Schloss, schlich zurück ins Wohnzimmer, setzte sich wieder in die riesigen Polster und stöberte aufgeregt die Unterlagen durch. Carina stieß bei der Suche nach L.J. auf alte Aufzeichnungen ihres Vaters, firmeninterne Anordnungen und einige handschriftliche Notizen, die aussahen wie Erinnerungen aus einem Tagebuch. Unmittelbar las Carina die Worte, die ihr Vater vor langer Zeit, fein säuberlich notiert hatte.
„Zu jener Zeit war ich erst ein Jahr alt“, kam es ihr in den Sinn.


Heute ist Freitag, ich glaube, der 16. Mai 1970
Ich wusste nicht, wie viel Valium nötig war um jemanden zu töten, deswegen goss ich mehr als ein paar Tropfen in ihr Glas. Danach verstaute ich das kleine Fläschchen in der Tasche meiner Anzugjacke. Mir blieb keine andere Lösung. Beim dritten Glas Sekt und nach mehr als 20 Tropfen Valium verzog Luisa Jordan das Gesicht, und hielt sich den hochschwangeren Leib. Kurz darauf sank sie in die Knie und brach zusammen. Dann verließ ich als Liebhaber dieser Frau, Vater ihres ungeborenen Kindes und Mörder von beiden, gelassen die Hotelsuite, in der wir uns immer heimlich trafen und stürmisch liebten. Verdammt, das hatte sie sich selbst zuzuschreiben, diese kleine Idiotin. Warum ließ sie sich auch ausgerechnet von mir schwängern?
Ihre Erpressungen hatte ich satt, so satt. Und einen Hermann von Kerneburg erpresst man nicht. Es ist in keiner Weise zu entschuldigen, aber ich tat es für meine Firma, für meine Familie, für meine kleine Tochter. Die Nebenbuhlerin, die ihr das Erbe hätte streitig machen können, habe ich somit beseitigt.

Gott möge meine Tat bestrafen.


Hermann von Kerneburg


Carina schluckte, während sich ihr ganzer Körper verkrampfte. „Mein Vater ist ein Mörder“, stammelte sie und senkte weinend den Kopf. „Frank hatte es geahnt, vielleicht sogar gewusst. Bestimmt waren keine Beweise vorhanden, sonst wäre mein Vater nicht davongekommen.
Luisa Jordan, Frank seine älteste Schwester, die sich damals angeblich selbst getötet hatte, aus Verzweifelung und aus Scham, so hieß es, nahm sie sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben. Frank berichtete mir davon, als wir uns einmal bei einem Abendessen über unsere Familien unterhielten, insbesondere über meinen Vater. Und jetzt trage ich das schmutziges Geheimnis meines Vaters mit mir herum.“
Wutentbrannt schleuderte Carina die Papiere durch die Luft, rannte zur Haustür und verließ eiligen Schrittes die Villa.

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Tag der Veröffentlichung: 09.02.2009

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