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Das andere Gesicht

Er war allein, saß im Dunkeln an seinem Schreibtisch und starrte mit blindem Blick durch das Kinderzimmerfenster. Kevin wartete, und in seinem Warten lag die Geduld eines Jägers, die entspannte Haltung eines sechsjährigen Kindes, das Geist und Körper unter Kontrolle hatte.
Sein Haar war blond, modern geschnitten, das Gesicht energisch, trotz seines kindlichen Aussehens, die tiefblauen, intelligenten Augen waren zusammengekniffen und erfüllt von Hass. Er hasste sie! Und wie er sie hasste! Beide, Patrick seinen Stiefvater und Timmy, den zweijährigen Stiefbruder, den er so schnell wie möglich loswerden wollte. Blanke Eifersucht stand in seinem hübschen Gesicht, auch wenn er nur an Timmy dachte. Schließlich plante sein junges Kinderhirn eine entsetzliche Tat. Wie konnte seine über alles geliebte Mutter, sein Eigen, ihm das antun? Auf diese Frage würde er wohl nie eine Antwort bekommen, dass wusste Kevin, denn seine Mutter ahnte nichts von seinen schrecklichen Seelenqualen.
Wie konnte sie auch? Momentan schwebte Julia auf rosaroten Wolken, war verliebt und genoss ihr neues Familienleben in vollen Zügen.
Timmy, den sie sofort in ihr Herz geschlossen hatte, erblühte unter der Zuneigung von Julia von Tag zu Tag mehr, und seine herzerweichende, liebenswürdige Art erfreute jeden Menschen.
Der neue Mann, der vor kurzem erst in Julias Leben getreten war, hatte, genau wie sie, einen schweren Schicksalsschlag erlitten. Patrick, der dreißigjährige, gutsituierter Geschäftsmann, verlor seine Frau durch ein Krebsleiden und war heilfroh, als die zwei Jahre jüngere Julia endlich seinen Heiratsantrag annahm.
Nach Kevins Geburt verstarb Julias Ehemann David Jasper, der viele Jahre älter war als sie, abrupt und unerwartet an dem Managersyndrom – Herzinfarkt. Seitdem lebte Julia nur mit ihrem Sohn Kevin auf dem großen Anwesen, das der reiche Gatte ihr nach dem Tod hinterlassen hatte. Das Anwesen, auf dem Kevin bislang alleine aufgewachsen war, wurde von einem wunderschönen Garten mit einer traumhaften Teichanlage und einem leicht abschüssigen Rasen geziert. Kevin, der ein so lebenslustiger kleiner Kerl war, das Spielen in seiner Parklandschaft mehr als genoss, entwickelte nach dem Einzug von Patrick, der zu allem Übel auch noch einen eigenen Sohn mitbrachte, geplagt von Eifersucht und Verlustangst, einen bösen Charakter.
In Gegenwart der heiß geliebten Mutter buhlte Kevin täglich um Liebe und Aufmerksamkeit. Gegenüber seinem Stiefvater verhielt Kevin sich unhöflich, ungeziemt und patzig, und zu Timmy, seinem neuen Bruder war er gemein, jähzornig und oft gewalttätig.
Helles Kinderlachen ertönte.
Dieses Lachen, dass Timmy gehörte, versetzte Kevin einen schmerzhaften Stich, so dass sein kleines Kinderherz blutete, es blutete, ohne Unterlass von Stunde zu Stunde heftiger.
„Jetzt ist Schluss“, schrie Kevin verzweifelt, trommelte mit beiden Fäusten auf die Tischplatte, bis er die verkrampften Hände vor Schmerzen nicht mehr bewegen konnte.
Dicke Tränen tropften aus seinen wütenden Augen auf die Schreibtischunterlage, dessen Papier sofort kleine Wellen schlug. Ein winziger See machte sich nach einiger Zeit des Weinens vor ihm breit. „Genau, das ist es“, beruhigte sich Kevin, er atmete tief, schluchzte noch mehrmals und trocknete sein verweintes Gesicht an seinem Pullover. Seine Idee gefiel ihm prompt, als dieser Geistesblitz sein Hirn erleuchtete. „Nun steigerte sich seine Laune merklich und sein Gesicht bekam freundlich weiche Züge.
Kevin sprang auf, rannte ins Bad, wusch sich, wünschte, ausnahmsweise höflich, seinen Familienmitgliedern an diesem Abend eine gute Nacht und verschwand wieder in seinem Kinderzimmer. Als Kevin in seinem Bett lag, durchdachte er noch einmal sein Vorhaben und freute sich auf den nächsten Morgen. An diesem Abend schlief er grinsend und zufrieden ein.
„Kevin, Kevin, aufstehen das Frühstück ist fertig“, weckte ihn seine Mutter wie jeden Morgen gegen acht Uhr. Verschlafen rieb er sich seine Augen und blinzelte gähnend in die Sonne, die mit ihrem warmen und kräftigen Strahlen in sein Zimmer drang. Es war ein herrlicher Sommermorgen, die Vögel zwitscherten und die Frösche quakten ihr grauenhaftes Lied, das mit dem Wind vom Teich über die Terrasse in den Frühstücksraum getragen wurde. Kevin hatte heute Morgen ein ausgesprochen frohes Gemüt. Singend und hüpfend begrüßte er seine Familie, die bereits am Tisch saß und auf ihn wartete. „Du hast aber gute Laune, mein Schatz“, freute sich Julia und schöpfte endlich Hoffnung. Der vierjährige Timmy wackelte unterdessen auf dem Stuhl hin und her, als Kevin sich neben ihn setzte. So recht vertraute Timmy seinem älteren Stiefbruder nicht, er blickte verstohlen und misstrauisch und wartete voller Spannung auf Kevins Reaktion. Doch Kevin reagierte auf Fragen und Bitten höchst freundlich, obwohl ihn Timmys Geplapper mehr als störte. Das Frühstück neigte sich ohne Kindergeschrei und Schelte dem Ende. Bevor sich Patrick, wie jeden Morgen, verabschiedete, strich er Kevin über seine blonden Haare und meinte: „Na endlich, ich dachte schon, du würdest uns nie akzeptieren.“ Dann verließ er geradewegs das Haus und kurz darauf heulte der Motor seines Wagens auf.
Julia klapperte bereits in der Küche mit dem Geschirr, ohne weiteres auf die Kinder zu achten. Timmy rannte vergnügt hinaus in den Garten, sein Lieblingsspielzeug,
das knallgelbe Tretauto im Visier.
„Warte nur auf mich“, dachte Kevin gehässig, seinen Plan vom Vorabend, den hatte er noch nicht vergessen. Eine Weile lauschte Kevin noch auf die Geräusche, die aus der Küche sein Ohr streiften. Als er feststellte, dass seine Mutter noch immer sehr beschäftigt war, glaubte er sich in Sicherheit, und der momentane Zeitpunkt schien ihm der Beste zu sein.
Fluchtartig hechtete er über die Terrasse hinaus in den Garten. Kevin erspähte Timmy, der in dem Tretauto über den Rasen kurvte. Blitzschnell erwischte er Timmys Schultern und schob ihn in voller Fahrt den Abhang hinunter, in Richtung Gartenteich. Zuerst quiekte und juchzte Timmy vor Vergnügen, doch dann packte ihn die Angst. Der Teich, die große Gefahr, vor dem der Vater ihn so oft gewarnt hatte, näherte sich ihm unaufhörlich.
„Halt! Halt! Anhalten!“ , schrie Timmy verzweifelt, aber Kevin hörte seine Rufe nicht und steuerte geradewegs auf den schmalen Steg zu, der bis zur Mitte der Teichanlage reichte. Timmys kleinen Füße versuchten noch zu bremsen, doch sie konnten das Tempo nicht drosseln und er stürzte kopfüber ins Wasser. Stumm verharrte Kevin am Ende des Steges und schaute mit leeren Augen auf das Wasser. Nichts rührte sich. Timmy blieb von der ersten Sekunde verschwunden. Der Teich mit seinen Seerosen hatte den kleinen Jungen verschlungen und gab ihn nicht mehr her.
Schließlich wandte Kevin sich ab und schlich zurück zum Haus, weiter über die Terrasse bis zur Treppe, er hastete die Stufen empor und verkroch sich in seinem Zimmer. Unterdessen suchte Julia ihre Kinder.
Jäh vernahm Kevin die Stimme seiner Mutter, die besorgt die Namen der beiden Jungen rief, doch er antwortete nicht.
„Kevin, Timmy, wo seid ihr?“ Julia stolperte die Treppe hinauf, stürmte in Kevins Zimmer und sagte erleichtert. „Hier bist du, Gott sei Dank, ich dachte schon, ihr seid weggelaufen. Ist Timmy auch hier?“ „Nein“, gab Kevin zur Antwort, „ich bin allein.“ „Wo ist denn der Kleine?“, hörte er seine Mutter fragen. „Ich weiß es nicht, ich bin direkt nach dem Frühstück auf mein Zimmer gegangen“, log Kevin ohne rot zu werden.
Julia schaute aus dem Fenster, überlegte, wo sie noch suchen sollte, und der grauenvolle Gedanke, der sie ergriff, versetzte sie in Panik. „Der Teich“, schrie Julia, „mein Gott der Teich.“ Sie flog förmlich aus dem Zimmer, die Stufen der Treppe herunter, eilte durch das Haus, über die Terrasse und den Rasen bis hin zum Teich. Ohne Überlegung sprang sie hinein. Bis zur Brust reichte das trübe Wasser, trotzdem kämpfte Julia sich mit Mühe durch die Seerosen, die mehr als behindernd waren, und der Boden unter ihren Füßen war so rutschig, dass sie ständig den Halt verlor. Aber ohne Unterlass durchwühlten ihre Arme und Hände jeden Zentimeter des Teiches. Dann erschrak sie. Julia berührte einen Gegenstand, der sich wie Timmys Tretauto anfühlte. „Nein, bitte lass es nicht wahr sein“, schluchzte sie. Doch ihre Vermutung wurde wahr. Unmittelbar ertastete Julia den leblosen Körper des kleinen Timmy. Sie erwischte ihn am Arm und zerrte das Kind ans Ufer. Er saß noch immer in seinem Auto und sah aus, als würde er schlafen. Noch immer hoffte Julia ihn durch eine Beatmung ins Leben zurückzuholen. Hektisch zog sie Timmy aus dem Auto und legte ihn mit dem Rücken auf den Rasen. Julia kniete nieder, holte tief Luft und presste diese durch die Nase des Kindes. Immer wieder und wieder. Lange war sie bemüht dem Jungen Leben einzuhauchen. Irgendwann verließ sie die Kraft und erschöpft brach Julia über dem toten Timmy zusammen. Ihre Mühe war vergebens, zu lange hatte es gedauert, bis das Kind von ihr gefunden wurde.
„Bitte, lieber Gott, tu uns das nicht an“, flehte sie und ein Weinkrampf schüttelte ihren nassen Körper. Julia wusste sich nicht mehr zu helfen, verzweifelt stammelte sie: „Patrick, was habe ich dir angetan?“ Von Schuldgefühlen geplagt, kauerte Julia noch lange auf dem Rasen und hielt Timmys kalte Hand.
Kevin beobachtete seine Mutter und das Geschehen im Garten, von seinem Fenster im Kinderzimmer aus, sah aber keine Veranlassung zu ihr zu gehen. Gefühllos wandte er sich schließlich ab und spielte, wie Kinder spielen, als wäre nichts geschehen.
Lautes Stimmengewirr erregte Kevins Aufmerksamkeit. Seine kindliche Neugier konnte er nicht mehr länger unterdrücken, öffnete zaghaft die Kinderzimmertür, einen Spalt nur, und lauschte angespannt, um zu verstehen, was da unten vor sich ging. Langsam bewegte Kevin sich durch die Öffnung, schlich über den langen Flur, am Geländer entlang, blieb bei der Treppe stehen, kniete sich hin und steckte seinen Kopf durch die Holzstäbe des Geländers. Hier hatte er einen guten Platz, von dort oben konnte er das unruhige Treiben im Haus bestens verfolgen
Polizei, Sanitäter, Männer mit Kameras, sogar den niedergeschlagenen Patrick mit verweintem Gesicht hatte er ausmachen können. Mit heftig klopfendem Herzen versuchte Kevin, seine Mutter zwischen all den Menschen ausfindig zu machen. Wo war sie?
Julia erholte sich in ihrem Schlafzimmer, die nasse Wäsche kühlte ihren Körper aus und die Anstrengungen des Geschehens erledigten sie vollends. Weil sie sich den polizeilichen Befragungen stellen musste, schweren Gemüts kleidete Julia sich nach einer Weile an, torkelte benommen aus dem Zimmer und erblickte ihren Sohn kniend vor dem Treppengeländer. „Oh Kevin“, dachte sie, „dich habe ich völlig vergessen.“ Julia beugte sich zu ihrem Sohn hinunter und berührte ihn zärtlich an der rechten Schulter.
Erschrocken zuckte Kevin zusammen, starrte in die rotunterlaufenen Augen seiner Mutter, klammerte sich an sie und begann zu weinen, so wie ein Kind weint. Warum er weinte, dass wusste Kevin selbst nicht genau. Vielleicht, weil seine Mutter ihm in dieser Situation so schrecklich leid tat. Sanft umarmte Julia ihren kleinen Sohn und flüsterte: „Ich liebe dich, Kevin.“ „Ich habe dich auch lieb, Mama“, erwiderte Kevin mit Tränen erfüllter Stimme. Julia nahm ihren Sohn auf den Arm, trug ihn in sein Kinderzimmer und im ernsten Ton befahl sie: „Du wartest hier. Ich komme bald zurück. Unten im Haus ist zur Zeit kein Platz für dich. Hast du mich verstanden?“ Kevin nickte, und als Julia die Tür hinter sich schloss, gab er sich zufrieden seinem Spiel hin.
An Timmys Beerdigung nahmen nicht nur trauernde Verwandte, Freunde und Bekannte teil, auch viel Menschen aus der Stadt, die so recht keiner kannte. Alle wollten dem verunglückten kleinen Jungen einen würdevollen Abschied bereiten. Als der weiße Kindersarg in die Erde gelassen wurde, brach Patrick zusammen. Er hatte keine Kraft mehr, sich einem weiteren schweren Schicksalsschlag zu beugen. Gestützt und apathisch verließ der gramgebeugte Vater den Friedhof. Julias tröstende Worte wehten mit dem lauen Wind davon, ohne gehört zu werden.
Ihren Sohn fest an der Hand haltend, kehrte auch Julia dem Ort der Trauer den Rücken, sie spürte ihre Stärke und Standhaftigkeit schwinden. Und Patrick so leiden zu sehen, wurde unerträglich für sie.
Nach der Beerdigung packte Patrick ohne ein Wort der Erklärung seine Koffer. Julias fragenden Blicken wich er aus. Gerne hätte sie ihn noch einmal in die Arme genommen, aber Julia wusste, dass es keinen Sinn hatte. Patrick verließ das Haus ohne Abschied.
Kevin war überglücklich, endlich wieder mit der geliebten Mutter alleine zu sein.
Sein Ziel hatte Kevin erreicht.

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Tag der Veröffentlichung: 09.02.2009

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