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Tod unter dem Hubboden

Henry hatte kein Verlangen, seine langjährige Freundin und Arbeitskollegin umzubringen. Er hätte es bei weitem vorgezogen, sie einfach gegen ein „neues Modell“ einzutauschen. Aber Henry war auch nur ein kleiner Angestellter, der sich dem Schwimmsport widmete. Wie viele seiner Kollegen und Kolleginnen unterlag er den Anweisungen seines Vorgesetzten, und den des leitenden Schwimmmeisters in dem gut besuchten Hallenbad seiner Heimatstadt. Für ihn persönlich, überlegte er, waren diese Feministinnen an allem Schuld. Nun, noch lebte Lilo ja. Und genau da lag das Problem. Er glaubte nicht, dass Lilo einen Verdacht in Hinsicht auf das „neue Modell“ hegte, aber in dem Augenblick, indem sie es tat, würde sie es nicht für sich behalten. Henry hatte beschlossen, das niemand etwas über ihn erfahren sollte, da er nicht die geringste Absicht hatte, Lilos Tod als Mordfall behandeln zu lassen. Jeder weiß doch sofort, wer die Hauptverdächtigen sind, wenn eine Kollegin oder Kollege ermordet wird. Lilo Bach durfte nicht ermordet werden. Sie musste einen Unfall haben, oder Selbstmord begehen. Immerhin würde er dann als Begünstigter, im Falle eines Unfalls, die Gelder aus den Versicherungen kassieren.
Henry ging methodisch vor. Ein Haufen Leute starben bei Unfällen, über die Untersuchungen berichtete das lokale Käseblatt. Henry begann, sie im Geiste in Verkehrsunfälle, häusliche Unfälle und Arbeitsunfälle einzuteilen. Ein häuslicher Unfall kam nicht in Frage, da Lilo nicht mit ihm zusammen lebte. Und je mehr er über die Fortschritte in der kriminalistischen Wissenschaft las, desto weniger neigte er dazu, am Auto seiner Freundin herumzumanipulieren. Henry kam auf einen völlig anderen Dreh, als er eines Morgens am Personalraum vorbeiging, in dem Lilo gerade mit der Schwimmlehrerin, die extra für den Schwimmunterricht der Grundschule engagiert wurde, Kaffee trank, und er sie seufzen hörte: „Ach, diese Wechseljahre! Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich sie je überstehe, vor allem hier in der Halle, bei den Temperaturen. Eine Hitzewelle alleine reicht nicht." Henry war ein großer, kräftiger Mann mit schweren, schlürfenden Schritten, darum konnte er nicht stehen bleiben um mehr zu erfahren. Lilo allerdings fuhr ohne Hemmungen fort, dass sie glücklicherweise das Schlimmste durch gute Medikamente hinter sich hatte. Henry war weiter zum Schwimmmeisterraum gegangen, dann betrat er die Halle und eine Idee formte sich in seinem Kopf. Die Gedanken an Unfälle oder daran, Lilo vor die Bahn zu schubsen, damit war Schluss. Ohne schon einen genauen Plan zu haben, begann er nichts desto weniger am nächsten Tag in der Gemeinde den Boden zu bereiten. „Du bist so nachdenklich, Henry“, sagte der leitende Schwimmmeister zu ihm, als er über seinen zweiten Kaffee saß. Und das war er auch. Es war ganz schön anstrengend, normalerweise war er ein Herz und eine Seele von zweideutigen und schlüpfrigen Witzen, jedoch zur Zeit hielt er inne damit.
„Na ja, Lilo, sie ist ein bisschen von der Rolle!“
„Ach ja?“ fragte Gerry, sein Vorgesetzter, das habe ich noch gar nicht bemerkt. Was ist denn ihr Problem?“
Nach einer Pause, während er in die braunen Abgründe seiner Tasse starrte, fügte Henry hinzu:
„Es sind die Wechseljahre. Saublöd, wenn man dadurch muss. Das richtet schon was an bei einer Frau. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir so etwas nicht haben.“
Es war ein äußerst untypisches Gesprächsthema für Henry. Und Gerry fand es ein bisschen daneben, so etwas überhaupt zu erwähnen, und nicht sehr stilvoll. Er antwortete: „Ja, ja, schlimme Sache“, und änderte das Thema. In der Schwimmhalle und an anderen Orten, die Henry aufsuchte, gewöhnten sie sich in den nächsten Wochen an seinen Gesprächstoff, die „Wechseljahre“.
Ergänzt wurde es durch andere Gründe für Lilos Kummer und Sorgen, denn Henry hatte beschlossen, dass ihr Unfall das Resultat einer Häufung von Elend, einem Schwall von Sorgen und jede Menge Unachtsamkeit sein sollte, die sie nicht mehr ertragen konnte und zunehmend konfuser würde. „Ihre Mutter ist in einem schlechten Zustand“, erzählte er zum Beispiel. „Völlig senil. Es ist eine furchtbare Last für Lilo.“ Lilos Mutter war in einem Altenheim, sie litt an zunehmender Verwirrung. Henry war jetzt schrecklich ernst. Oft sinnierte er nur vor sich hin, wenn er am Rand der Becken seine Kontrollgänge unternahm. Auch blieb er hin und wieder einfach nur stehen und starrte auf das Wasser. Immerhin gab es noch andere Probleme in Lilos Leben, die weitschweifig erörtert wurden. Ihre Versuche, einen weiteren Trainerschein in Punkto Wassergymnastik zu machen, eines der Fächer von ihren vielen Kursen, die sie unterrichtete. Der Dorn in Henrys Augen. Es reichte ihr nicht, jeden Morgen Aqua-Fit Stunden zu geben, nein, sie nahm ihm jegliche Basis seine eigenen Kurse anzubieten. Die ach so tolle Trainerin mit immer neuen Ideen und neuem Programm. Stets ausgebucht, hohe Teilnehmerzahlen und ein gutes Einkommen, auf das Lilo so stolz war, und eben auch der Aufhänger in der Schwimmhalle. Und er? Er musste um jede Stunde buhlen, seine Kurse hatten keinen Zulauf und wurden einfach von der Liste der Angebote gestrichen. Sein Einkommen verminderte sich dadurch und seine Lebensqualität nahm ständig ab. Um jeden Euro kämpfte Henry, damit er überleben konnte.
„Sie sollte wirklich nicht versuchen, die Prüfung jetzt zu machen“, sagte er etwas kleinlaut. „Nicht so lange sie in den Wechseljahren ist.“ Es lief immer alles auf die Wechseljahre hinaus. „Manchen Frauen setzt das schwer zu“, meinte Henry oft. „Ihr könnt es euch nicht vorstellen. Manchmal frage ich mich, ob das noch die selbe Frau ist. Sie erzählte mir, dass sie sich davor fürchtete jeden Morgen aufzuwachen.“ Während Lilo eines Nachmittags beim Einkaufen in der Stadt war, schaute sie kurz in das Stadtcafé und war froh, dass zwei ihrer alten Freundinnen am Fenster saßen. Sie winkten Lilo an ihren Tisch. „Hallo Lilo, wie geht es dir denn?“ rief Heidi Sasse aus. „Gut“, antwortete sie und setzte sich. „Prächtig, danke der Nachfrage!“ „Na da bin ich aber froh, Henry hat Uli neulich abends berichtet, dass dir die liebe Menopause zu schaffen macht.“ „Was der schon davon versteht.“ „Wann machst du deine Prüfung?“ fragte Heidi neugierig. „Nächste Woche“, entgegnete Lilo, „das mache ich mit Links, es ist schon Routine.“ „Wie geht es deiner Mutter?“, fragte Heidi weiter. „Großartig! Total plemplem, sie erkennt mich nicht einmal mehr, wenn ich sie besuche, also besuche ich sie gar nicht mehr. So ist es eine große Erleichterung für mich.“ „Henry meint aber, du bist sehr durcheinander deswegen.“ Lilo zog die Augenbrauen hoch. „So? Was genau erzählt er denn?“
Die Dinge liefen in den nächsten Wochen ziemlich normal weiter. Lilo nahm noch an drei anderen Weiterbildungsmaßnahmen teil, und so sahen Henry und sie sich sehr wenig. Er hingegen war ungewöhnlich oft in der Kneipe anzutreffen.
„Alles scheint sie so anzustrengen“, sagte er, als er sich mit besorgtem Blick auf die Theke stützte und schwer atmete. „Sie kann Nachts nicht einschlafen“, berichtete Henry, „sie hat alles Mögliche schon versucht. Sogar Schlaftabletten würden nicht helfen.“ Der kritische Moment kam knapp sechs Monate, nachdem Henry seinen Entschluss fasste. Lilo kehrte von ihren Aqua-Jogging-Stunden, die sie abends im Hallenbad erteilte, zurück in den Personalraum und war restlos erledigt, wie sie sagte. Lilo setzte sich auf die Liege und lehnte an der Wand. „Am liebsten würde ich jetzt gleich hier auf der Stelle einschlafen.“ „Mach es halt, meinte Henry, reichte ihr ein Glas mit einem Fitnessgetränk, setzte sich zu ihr ans Kopfende und strich mit den Fingern durch ihre aufgewühlten und verschwitzten Haare. Sie leerte das Glas nicht, hielt es aber fest in der Hand, dabei sank ihr Kopf auf seine Schulter, ihre Augen fielen zu und bald vernahm Henry ein leises Schnarchen. Er sprang auf und sah auf seine Uhr. Es war schon kurz nach zehn. Die Wartefrauen werden bald eintreffen, somit blieb ihm nicht viel Zeit. Er steckte eine kleine Flasche mit Wodka und Schlafmittel in seine Tasche, die er vorbereitet hatte. Henry hatte vor, es ihr gewaltsam einzuflößen, falls sie Anstalten machte. Dann kehrte er zurück in den Schwimmmeisterraum und ließ den Boden des Beckens heben, von 2,0 m auf 30 cm Wassertiefe. Danach öffnete er hastig die Einstiegsluke des Bodens. Schließlich eilte Henry zurück in den Personalraum, in dem Lilo ahnungslos auf der Liege schlummerte.
Er schaute erneut auf die Uhr, noch etwa 10 Minuten bis das Reinigungspersonal das Hallenbad betreten würde. Viel Zeit blieb ihm also nicht mehr. Er blickte auf Lilo, sie atmete tief, den Kopf zur Seite gelegt. Henry nahm sie auf die Arme – fast zärtlich – und trug sie die paar Meter dorthin, bis in die Halle zum Becken. Er passierte den Schwimmmeisterraum, denn hier befand sich die Schaltanlage für den beweglichen Boden des Beckens. Er musste ihn in Bewegung setzen, damit Lilo sicher darunter verschwindet. Jedenfalls für eine Weile. Der Hubboden würde sich langsam senken, bis er die maximale Wassertiefe von 2,0 m erreichte, Zeit genug um Lilo durch die Luke zu werfen und diese wieder zu verschließen. Niemand würde sie unter dem Hubboden vermuten. Gott sei Dank hatte er nicht den Inhalt des Fläschchens in sie hineinzwängen müssen. Seine Nerven waren sowieso schon über strapaziert. Behutsam trug er Lilo durch das Wasser, blieb vor der Öffnung stehen und bückte sich, als ihn plötzlich ein harter Schlag ins Gesicht traf. Er taumelte, stürzte und einen Augenblick später war er es, der mit dem Oberkörper bereits über die offene Stelle hing, dabei senkte sich der Boden unaufhörlich weiter. Plötzlich war es Lilo, die zwei starke Hände auf seinen Schultern hatte, seine Freundin, die ihn durch die Luke drückte und drückte. Schwach und nach Luft schnappend hörte er noch leise ihre Stimme. „Das waren Karatekurse, Liebling, Karatekurse.“ Dann stieß sie Henry so wie er es geplant hatte, durch die Öffnung. Der Boden war bereits auf 90 cm gesunken. Lilo stolperte durch das Wasser, klammerte sich an den Beckenrand, hier verharrte sie einen Moment und überlegte was zu tun sei. Nichts unternahm sie. Sie ließ den Boden weiter sinken und wartete. Lilo wartete bis der Boden auf 2,0 m hinabgefahren war, kletterte dann aus dem Becken und rief die Polizei.
Der Beamte war äußerst verständnisvoll. Es war ein Kinderspiel für sie, Henrys Plan in allen Einzelheiten aufzurollen. Sie sprach mit seinen Freunden und den Leuten, die er zwischen Arbeit und Kneipe traf. Sie erfuhr von seiner Charakteränderung, von den Gesprächen, mit denen er die Basis für seinen Plan bereitet hatte. Nur der Inspektor von der Kripo aus Münster hegte Zweifel.
Warum gab es nicht mehr Anzeichen für einen Kampf? Warum machte sie keinen Versuch ihn außer Gefecht zu setzen, anstatt ihn gleich umzubringen? Warum hat sie auf einmal Karatekurse genommen?
Sie musste ihn einfach töten, andernfalls hätte er sie fertig gemacht.
Wir hätten nie eine Verurteilung erreicht, aber sie hat es nett hin bekommen oder?
Er hat sich ihr wirklich auf dem Tablett serviert, verdammt blöd von ihm.“


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.12.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Den stillen Heldinnen

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