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Die weiße Frau



An einem warmen Sommerabend beschlossen Silvia und Andreas Helling, ein bisschen aufs Land zu fahren. Auf ihrem Rückweg bogen sie von der Hauptstraße ab, um eine unbekannte Nebenstraße zu erkunden. Um Mitternacht etwa hatten sie eine Panne. Der Motor starb plötzlich ab und ließ sich nicht mehr starten. Alle Versuche, den Wagen wieder flott zu bekommen, blieben erfolglos. Die Gegend war nur dünn besiedelt. Auf den letzten sieben Kilometern hatten sie nicht mehr als fünf, sechs Häuser gesehen, und auch die waren alle dunkel. Doch sie schienen Glück zu haben. Kaum hundert Meter von der Stelle, an der ihr Wagen stehen geblieben war, erkannten sie die Umrisse eines Hauses auf einem Hügel.
Andreas Helling ließ seine Frau im Auto zurück und machte sich auf den Weg zu dem Haus. Er sah kein erleuchtetes Fenster, hoffte aber dennoch, jemanden dort anzutreffen. Dann konnte er vielleicht eine Werkstatt anrufen, die Nachtdienst hatte.
Silvia schaute ihm nach. Sie konnte ihn aber in der Dunkelheit nicht mehr erkennen, als er den Berg hinaufzusteigen begann. Nach etwa fünf Minuten sah sie dann, wie in dem Haus das Licht anging. Die Tür wurde geöffnet und im Lichtkegel erblickte sie die vertraute Gestalt ihres Mannes. Er sprach mit jemandem an der Tür. Aus seinen Gebärden ging hervor, dass er von seiner Panne berichtete. Silvia sah, wie er das Haus betrat und die Tür sich hinter ihm schloss. Sie wartete. Es erschien ihr sehr lange.
Plötzlich öffnete sich die Tür, und Andreas stürzte heraus. Bald hörte sie seine Schritte im Dunkeln näher kommen. Dann war er da und stieg sofort zu ihr in den Wagen. Er knallte die Autotür zu und verharrte auf dem Fahrersitz.
Im schwachen Licht des Armaturenbretts konnte Silvia erkennen, dass er blass war und seine Hände zitterten. Aufgeregt fragte sie ihn, was passiert sei. Er schwieg, saß einfach mit blutleeren Lippen da und schüttelte den Kopf. Silvia bestürmte ihn zu sagen, was sich in dem Haus abgespielt habe. Endlich beruhigte Andreas sich, und Silvia erfuhr:
„Als ich das Haus betrat und die Türe geschlossen wurde, da bemerkte ich erst den verwirrten Gesichtsausdruck der alten Frau, die mir geöffnet hatte. Auf einmal krallte sie sich fest an meinem Arm und flehte mich an, ihrer toten Tochter, deren Seele keine Ruhe finden würde, zu helfen. Ich versuchte die Alte abzuschütteln, doch ihre runzeligen, verkrampften Finger lösten sich nicht. Schließlich gab ich nach und verlangte eine Erklärung. Mit irren Augen starrte sie mich an und begann zu erzählen.“
Silvia saß angespannt auf dem Beifahrersitz und lauschte gebannt auf die Geschichte, die Andreas ihr berichtete.
„Hinter dem Hügel, am Ende des Waldes sei eine Schlucht, in der die Polizei des winzigen Dorfes vor ungefähr zwei Jahren nach langer, unerträglicher Suche die zerschmetterten Körper ihrer Tochter Katharina und ihres Enkelkindes Elisa gefunden hatte. Nach Auskunft der Ermittler und des Gerichtsmediziners, war ein ungeklärter Sturz in die Tiefe die Todesursache der gefundenen Leichen gewesen. Seitdem kehrt Katharina als Geist jede Nacht zurück, weil ihre arme Seele im Jenseits keine Ruhe finden kann.“
Silvia warf Andreas einen grimmigen Blick zu und meinte schnippisch: „Binde mir keinen Bären auf, dazu bin ich momentan nicht aufgelegt.“
Andreas sah seine Frau aus den Augenwinkeln an und entgegnete: „Zuerst habe ich geglaubt, dass die Alte verrückt sei und mir eine Gruselgeschichte auftischt, aber...“
„Aber was?“ fragte Silvia erbost.
„Ich traute meinen Augen nicht, ich dachte, dass ich träume, aber plötzlich zogen Nebelschwaden durch das Haus, formten sich zu einem menschlich aussehenden Wesen, dann erkannte ich das Gebilde einer Frau. Sie trug ein langes weißes Kleid, und sie hatte lange blonde Haare. Ein eiskalter Hauch streifte mich, als die weiße Frau mit wehendem Gewand und rotgeweinten Augen an mir vorbeihuschte. Und als die alte Dame mit erhobenen Händen Bibelverse brabbelte, den Teufel verfluchte und die Mutter-Gottes um Gnade anflehte, ihrer Tochter doch endlich Frieden zu geben, bin ich panikartig und halb wahnsinnig vor Angst aus dem muffigen Gemäuer geflüchtet.“
„Du spinnst“, erregte sich Silvia, „du willst mir Angst machen, dass finde ich nicht witzig.“
Andreas rechtfertigte sich nicht, zu unglaubwürdig war seine Geschichte, die auch er noch immer nicht verdaut hatte.
„Ich habe genug von dem Quatsch“, fluchte Silvia, „hast du den Pannendienst alarmieren können?“
„Nein, tut mir leid, dass war nicht möglich“, war Andreas Entschuldigung.
„Jetzt werde ich mit dieser merkwürdigen Frau reden, denn ich möchte mich hier nicht verewigen, und deine Hirngespinste habe ich satt“, fauchte Silvia ihren Mann verärgert an.
Andreas appellierte an ihre Vernunft und versuchte sie daran zu hindern, das Geisterhaus zu betreten. Silvia wollte der Wahrheit aber unbedingt auf den Grund gehen, außerdem war ihre Neugier so groß, dass sie seine Warnung beim Verlassen des Autos überhörte.
Wütend stampfte Silvia in die Dunkelheit.
Eine helle Kinderstimme, die auf einmal aus der Ferne auf sie zukam, nahm ihr den Mut, und blitzschnell trat Silvia den Rückweg an. Keuchend setzte sie sich wieder zu Andreas ins Auto.
„Was ist passiert?“ fragte er besorgt.
Bevor sie auch nur ein Wort über ihre Lippen brachte, steuerte eine dicke Nebelwand direkt auf ihren Wagen zu. Erschrocken in die Sitze gepresst, beobachteten beide die Verwandlung des Nebels, der zu einem kleinen hübschen Mädchen wurde, das singend und lachend dem Haus auf dem Hügel entgegenhüpfte. Plötzlich tauchte aus dem Nichts der Dunkelheit ein riesiger schwarzer Schatten auf, der die Gestalt eines Mannes verkörperte.
Mit ausgestreckten Armen verfolgte er das kleine Mädchen, und erfassten seine langen dünnen Finger die Schultern des Kindes, das starr vor Entsetzen stehen blieb. Als sich das hübsche blonde Mädchen umdrehte, rief es sofort hilfesuchend nach seiner Mami. Strampelnd und um sich schlagend versuchte die Kleine, den Angreifer abzuwehren. Doch kraftlos musste es sich den grauenhaften Händen, die sich um ihren Hals legten und die zarte Kinderstimme erstickten, erbarmungslos ergeben. Leblos fiel das Mädchen zu Boden. Die schwarze Gestalt zerrte das Kind zu sich heran, hob die Kleine auf und trug sie auf seinen Armen am Auto der Hellings vorbei. Das Grauen, das Silvia und Andreas erfasste, ließ ihre Herzen heftiger schlagen. Kalter Schweiß trat aus ihren Poren und breitete sich auf der Stirn aus. Ohne ein Wort sprangen beide aus dem Wagen, und mit wackeligen Beinen jagten sie dem Schatten hinterher, der bereits den Wald am anderen Ende des Hügels erreicht hatte.
Nachdem der Wald hinter ihnen lag, tat sich in der Dunkelheit die Schlucht vor ihren Augen auf.
Am Rande dieser Schlucht verharrte die Männergestalt einen Moment lang, dann warf sie das leblose Kind in die Tiefe. Als der Mörder sich vom Tatort abwandte, konnte Silvia für einen Augenblick das Gesicht des Täters wahrnehmen.
„Ich habe sein Gesicht gesehen, ich habe sein Gesicht gesehen“, jammerte Silvia, klammerte sich an Andreas und gab ängstlich bebende Laute von sich.
„Beruhige dich, das sind Trugbilder unserer Angst und Phantasie“, tröstete Andreas seine verstörte Gattin.
Kurz darauf hörten sie die verzweifelten Rufe einer Frau, die unentwegt den Namen Elisa rief.
„Die weiße Frau, die weiße Frau“, stammelte Andreas und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Silvia und Andreas erspähten am Rande der Schlucht die Umrisse einer Frau in einem weißen Gewand.
„Hast du diese Frau im Haus gesehen?“ fragte Silvia mit belegter Stimme. „Ja“, antwortete Andreas leise, „das ist die Frau, die im Haus der Alten umhergeisterte.
Ein greller Schrei durchbohrte die Nacht.
Silvia und Andreas zuckte zusammen und mussten mit Furcht in ihren Knochen zusehen, wie das schöne Gesicht der jungen Frau zu einer entsetzlichen, schmerzverzerrten Grimasse wurde. Dann stürzte sich die gramgebeugte Mutter in die Tiefe.
„Lass uns von hier verschwinden, bitte, ich will nach Hause“, bat Silvia mit Tränen in den Augen.
„Wie sollen wir das anstellen?“ fragte Andreas besorgt, dem die Glieder vor Schrecken steif geworden waren.
„Vielleicht fällt uns etwas ein, wenn wir wieder am Wagen sind“, entgegnete Silvia und setzte sich mühsam in Bewegung. Schweigend streiften sie durch den Wald zurück zu ihrem Wagen. Dort angekommen, wurden sie von zwei Scheinwerfern geblendet, die aus der Ferne unmittelbar ihren Weg kreuzten. In Windeseile rannten beide die Straße entlang und winkten erleichtert dem entgegen kommenden PKW zu. Es war ein klappriger rostiger Lieferwagen, der quietschend vor ihnen zum Stehen kam. Silvia freute sich so sehr über die Hilfe, dass sie dem Fahrer am liebsten um den Hals gesprungen wäre. Doch als der große, hagere Mann aus seinem Lieferwagen kletterte, das grelle Licht der Scheinwerfer seinen Schatten auf den Asphalt malte und Silvia ihm direkt in Augen schaute, lähmte sein Blick ihren Körper. Entsetzt wich sie ein paar Schritte zurück, presste ihre Hände vor den Mund, um ihre stummen Schreie zu unterdrücken. Silvia begegnete dem Mörder der kleinen Elisa. Andreas bemerkte den Sinneswandel seiner Frau und sah sie fragend an. Silvia atmete schwer, nickte zögernd, und Andreas kapierte sofort, was Silvia ihm mitteilen wollte. Mutig stellte er sich der düsteren Gestalt in den Weg. Bevor Andreas auch nur eine drohende Bewegung machen konnte, eilte ihm aus der Finsternis die weiße Frau zur Hilfe. Wie der riesige Schatten im Wald, tauchte sie aus dem Nichts der Dunkelheit am Straßenrand auf, an ihrer Hand die kleine Elisa. Den rechten Arm zum Greifen ausgestreckt, schwebte die weiße Frau hasserfüllt und mit funkelnden Augen auf dem Mörder ihrer Tochter zu. Eine eisige Windböe begleitete sie.
Angst und Schauder packte den mysteriösen Mann. Fluchtartig sprang er in seinen Lieferwagen, startet den Motor und mit quietschenden Reifen und in hohem Tempo raste er davon. Geschockt und voller Angst schauten Silvia und Andreas dem Wagen hinterher.
Plötzlich ertönte ein fürchterlicher Knall, und ein weiterer folgte sogleich. Ein gigantischer Feuerball erhellte die Nacht. Der Lieferwagen war von der Straße abgekommen, gegen einen Baum gefahren und unmittelbar explodiert. Die schwarze Rauchwolke, die zum Himmel emporstieg, zeigte die Konturen der weißen Frau und die ihrer geliebten Tochter, die sie fest in ihren Armen hielt.
„Ruhet in Frieden“, gab Andreas leise von sich und legte behutsam den Arm um Silvias Schultern.
„Gott hab sie selig“, seufzte Silvia erleichtert.
Dann trottete das Ehepaar die einsame Landstraße entlang, bis sie auf eine Hauptstraße trafen.
Nicht weit von der Kreuzung entfernt, entdeckten die Hellings eine Notrufsäule, die ihnen endlich die Rettung bescherte, die beide so sehr benötigten.


Impressum

Texte: Coverbild by Google
Tag der Veröffentlichung: 12.12.2008

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