Denen eine Stunde fehlt
Marie, meine langjährige Freundin, stets leicht nervös und mit sonorer Stimme, jedoch ohne weitere körperliche oder seelische Gebrechen, schien heute völlig verändert zu sein. Ihre sonst so kribbelige Art, immer schnell schnell, war wie verflogen. Marie wirkte ruhig, der Klang ihrer Stimme war belegt, leise und irgendwie bedrückt.
Wir treffen uns einmal in der Woche, meist Donnerstags am Abend, um für gemeinsame Urlaube oder Festlichkeiten zu sparen, und um bei einem Glas Rotwein über erlebtes der Woche zu plaudern. Am heutigen Abend war sie keine so fröhliche Gastgeberin. Ich muss betonen, wir beide sind im Moment Single und genießen unsere Freizeit in vollen Zügen. Meistens gehen wir gemeinsam vor die Türe, doch hin und wieder ergibt sich ein Flirt oder gar ein Treffen ohne Freundin, jedoch nie, ohne der anderen eine Mitteilung zukommen zu lassen, vor allem aus Sicherheitsgründen.
"Hattest du heute einen schlechten Tag", fragte ich besorgt, "wenn du nicht bei Laune bist, verabschiede ich mich gleich wieder, und wir holen unseren gemeinsamen Abend nächste Woche nach."
Marie schaute stumm vor sich hin, schüttelte den Kopf, und schenkte uns nach einem kurzen Augenblick des Schweigens ein Glas Rotwein ein. Schließlich setze sie sich auf die Couch und deutete an, dass auch ich Platz nehmen sollte.
"Na, was ist denn", fragte ich ehrlich neugierig geworden.
"Mir fehlt eine Stunde meines Lebens", endlich erzählte Marie, was sie so sehr bedrückte, "und das finde ich gar nicht so witzig."
"Wie meinst du das?" Mit dieser Information konnte ich so gar nichts anfangen. Marie schwieg wieder, denn offensichtlich fiel es ihr schwer darüber zu reden.
Eine Menge Fragen geisterten in meinem Kopf herum, ich wusste nicht mit welcher ich beginnen sollte, um das Problem aus Marie heraus zu kitzeln.
"Wo bitte hattest du diesen Aussetzer?", endlich brach ich das Eis, denn ohne Fragen würde Marie wohl nichts Preis geben.
"Bei der Arbeit? Zu Hause? Wo warst Du? Was hast du getan?", bohrte ich ohne Unterlass.
Marie zögerte, doch dann platze es aus ihr heraus, und unter Tränen berichtete sie mir, was geschehen war. Gespannt lauschte ich ihren Worten.
"So wie ich es sage", entgegnete Marie ernst, "mir fehlt eine Stunde, sie ist wie ausradiert. Ich kann mich nicht erinnern wie es geschah, nur wo. Nur der Anfang und das Ende meiner Amnesie ist mir bewusst."
"Ich verstehe kein Wort", sagte ich brüsk, "könntest du mir bitte erklären was du meinst."
"Eva, es ist mir so peinlich, die Situation war so unangenehm", stotterte Marie.
"Jetzt muss es dir aber nicht mehr peinlich sein, ich bin deine Freundin und alles wird gut", tröstete ich sie, noch immer unwissend.
Marie holte noch einmal tief Luft, dabei schaute sie mich an, als ob ich eine Antwort auf all die vielen offenen Fragen hätte.
"Also", sie räusperte sich, "gestern war mein freier Nachmittag, eigentlich wollte ich zu Hause meine Wohnung auf Vordermann bringen, doch ich hatte ein "Date".
"Ach", bemerkte ich, "davon hattest du nichts erwähnt, als wir am Dienstag telefonierten."
"Ich weiß", stotterte Marie, "und vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte dir im Vorfeld davon berichtet."
Ich ahnte bereits, was Marie mir dann schweren Herzens anvertraute.
"Es hat sich ganz spontan entwickelt, am Dienstag Abend, er schrieb so schön, und wir schrieben uns schon eine ganze Weile."
Hin und wieder tummelten wir auf Single-Seiten im Internet, um die Langweile an manchen Abenden oder Wochenenden auszumerzen. Komplimente, nette Mails, ein interessanter Chat-Partner und vielleicht sogar ein aufregendes Telefonat, konnten so manch einsame Stunden versüßen.
"Sein Profil gefiel mir, sein Gesicht war mir sofort sympathisch."
"Aber das kennst du doch", unterbrach ich sie, "das ist doch nichts Neues, und Fotos sagen nicht alles."
"Ja, ich weiß", seufzte Marie, "wir haben Dienstag telefoniert, ziemlich lange sogar, nach deinem Anruf und darum konnte ich dich nicht informieren. Seine Stimme hat mich elektrisiert, seine Worte mir imponiert und mich irgendwie verführt."
"Mein Gott Marie, wie leichtgläubig bist du? Und eine SMS hätte mich jederzeit erreicht," ich war entsetzt über ihre Dummheit.
"Ich weiß, dass es falsch war, doch nun ist es zu spät für Vorhaltungen. Ich mache mir selber Vorwürfe, mehr als genug, jede Sekunde erneut", stammelte sie deprimiert.
"Entschuldige, doch wir haben uns geschworen nie ohne Nachricht einen fremden Mann zu treffen", empörte ich mich dennoch. "Was hat er dir angetan?" fragte ich mit erboster Stimme. "Ich weiß es nicht", antwortete Marie ebenfalls erbost.
"Wie? Du weißt es nicht, was ist dies wieder für eine Aussage?"
"Ich kann mich doch nicht erinnern", schrie sie mich an.
"Schon gut", meine Worte klangen jedoch nicht sonderlich freundlich.
"Magst du weitererzählen?" fragte ich vorsichtig nach einer kurzen Pause. Marie nickte, und ich bemühte mich ruhig und sachlich zu bleiben. jedoch innerlich kochte ich vor Wut.
"Wir hatten uns für den gestrigen Nachmittag verabredet, auf einen Kaffee. Der Treffpunkt war der Parkplatz, den ich immer auswähle, zentral und gut besucht. Er war pünktlich, so wie ich, um 15 Uhr an der Einfahrt, jedoch kam er zu Fuß zu diesem Treffpunkt.
"Wie nannte sich der Kerl?", unterbrach Marie.
"Ob es sein realer Name war, weiß ich nicht, er nannte sich Tom, und das reichte mir auch", erklärte sie aufgelöst. "Sein angegebener Wohnort war Dortmund, er wäre ledig, ohne Anhang und Altlasten, wie man so schön sagt. Tom gab 45 Jahre als sein Alter an, dunkelhaarig, groß, schlank und sportlich mit blauen Augen, ganz mein Typ eben, und sein eingestelltes Foto, spiegelte dies auch wider. Doch der Mann, der mich ansprach, war nicht der Tom, der in meinem Kopf war. Ein völlig anderer Mensch stand vor mir. Freundlich lächelnd überreichte er mir eine rote Rose, an seiner charmanten Redensart und der tiefen Stimme wusste ich, dass es der Mann war, mit dem ich telefonierte. Er wollte mir erklären, warum er nicht der sei, den ich erwartet hatte, und bat mich um Verzeihung, und um die Möglichkeit mich aufklären zu dürfen. Ich hätte mich auf der Stelle umdrehen sollen, einfach gehen, doch ich stand wie versteinert da und war bodenlos enttäuscht. Ich freute mich wirklich auf dieses Treffen, auf diesen tollen Mann, das Wetter passte zu meiner Laune, sonnig, nicht kalt, und für diesen Herbsttag war alles einfach nur fabelhaft. Dann diese Enttäuschung, aber höflich wie ich nun einmal bin, gab ich diesem Fremden eine Chance mir erklären zu können, weshalb er sich hinter einem Pseudoprofil versteckte. Somit suchten wir das nächste gemütliche Café auf , trotzdem ich mich sehr unwohl fühlte in seiner Gegenwart, blieb ich bei ihm, und auch meine Neugier hielt mich irgendwie gefangen.
"Marie", forderte ich, "sag mir, dass das erfunden ist, so leichtgläubig kannst du doch nicht wirklich sein."
Marie zuckte mit den Schultern und fuhr mit ihrer Erzählung fort.
"Wir bestellten Cappuccino, ein Mineralwasser für mich, und bevor Tom seine Gründe für diesen Betrug vorbringen sollte, suchte ich zuerst die Toilette auf. Ich musste mich sammeln, die Enttäuschung verursachte Bauchschmerzen, dazu war ich wütend, auch auf mich, denn seine Stimme, in die ich mich anscheinend verliebt hatte, raubte mir den Verstand. Mit geschlossenen Augen war er der Mann, mit dem ich mich Treffen wollte, und dieser Fremde war nun die Realität. Er war nicht unattraktiv, absolut Tageslicht tauglich, aber eben nicht der Tom, den ich von dem Bild auf seinem Profil her kannte.
"Kannst du dich erinnern, an diesen Mann?", unterbrach ich Marie, denn sicher schien sie sich nicht zu sein.
"Es ist alles verschwommen, vor meinen Augen, ich bekomme keine klare Vorstellung von seinem Aussehen."
"Auch das noch", dachte ich, "das musste wohl so sein."
"Als ich von der Toilette kam, da war er nicht mehr da, nur die Tassen mit dem Cappuccino dampften vor sich hin, und mein Glas Wasser, das ich sofort leer trank, da ich einen ziemlichen Durst verspürte. Ich glaubte, er sei gegangen, doch nun kehren Bruchstücke von dem zurück, dass passiert sein musste. Ich rief die Kellnerin, bat um die Rechnung und fragte nach meiner Begleitperson. Die junge Frau meinte, dass der Herr die Rechnung bereits beglichen hätte und er gegangen sei. Komischer Kauz, dachte ich noch, machte mir dann aber keine weiteren Gedanken, trank meinen Cappuccino, und hielt diese stupide Angelegenheit für erledigt.
Plötzlich wurde mir heiß, meine Hände und Füße ganz leicht, alles um mich herum entfernte sich, die Geräusche im Café waren auf einmal dumpf, ganz leise, die Gesichter verzerrt und ich bewegte mich wie im Zeitraffer. Schließlich torkelte ich zum Ausgang, bis dahin erscheint noch alles klar in meinem Kopf. Draußen vor der Türe fasste mich jemand an meinem rechten Arm, meine Beine bewegten sich automatisch. Ohne auf die Richtung zu achten, oder auf die Menschen, die an mir vorbei huschten, ließ ich mich einfach so weg zerren, auch meine Stimme versagte, kein Laut brachte ich über meine Lippen. Den Mann, der mich im Schlepptau hatte, erkannte ich nur schemenhaft, und ob es der Mann war, mit dem ich im Café für einen kurzen Moment zusammen war, kann ich nicht einmal behaupten. Von diesem Moment an setzte mein Gehirn aus."
"Mein Gott, Marie, warst du bei der Polizei?"
Sie schüttelt den Kopf und flüsterte: "Nein, das ist mir zu peinlich. Was soll ich denn zur Anzeige bringen? Meine Dummheit?"
"Hat er dir etwas getan?"
"Das ist es eben", weinte Marie, "ich erinnere mich nicht. Als ich wieder zu mir kam, saß ich im Park auf einer Bank, gegenüber dem Teich. Mir ging es soweit gut, ich hatte keine Blessuren oder Schmerzen, nur ein leichter Schwindel und etwas Kopfweh verspürte ich."
"Hattest du Sex mit ihm?" fragte ich direkt.
Marie errötete und seufzte: "Ich denke schon, nur Spuren von Sperma gab es nicht, meine Kleidung war sauber."
"Warst du beim Arzt?" wollte ich wissen, doch sie verneinte auch diese Frage.
"Na toll, du bist durch KO-Tropfen betäubt und gefügig gemacht worden. Er hatte ein leichtes Spiel mit dir, eine Vergewaltigung ohne Gegenwehr, somit auch keine Spuren. Dennoch musst du dies zur Anzeige bringen."
"Macht das Sinn?" schluchzte Marie.
"Natürlich", ermutigte ich sie, "es wird nicht einfach werden, aber vielleicht hilft es dir, dein Trauma zu überwinden."
Vergeblich suchten wir zusammen im Netz nach seinem Profil, doch Tom war schon längst von der Plattform verschwunden, und sicherlich unter einem neuen Pseudoprofil wieder auf Beutejagd.
Texte: Coverbild by Fotosearch (Lizenfrei Bilder)
Tag der Veröffentlichung: 10.12.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
All denen, die im Nirvana des Internets keine so netten Erfahrungen gesammelt haben.