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Sohn der Wüste - Ibn Sahara

Erzählt wird die Geschichte einer ehrenvollen Begegnung in der Wüste Jordaniens.
In diesem Teil der Erde feiern die Menschen keine Weihnacht, jedoch ereignete sich jene Begebenheit ausgerechnet im Dezember, an dem Tag, an dem auch Jesus das Licht der Welt seinerzeit erblickte. Da ich christlich erzogen wurde, sind alle Ereignisse um den 24. Dezember, der Araber nennt diesen Monat Dhu-al-hijjate, prägnante Merkmale. Ich erinnere mich noch sehr gut an dieses Geschehen, ich war Student damals, in den Anfangsjahren von 1920, es tanzt jedes Jahr zur Weihnachten erneut vor meinem inneren Auge.
Eines Tages folgte ich auf meinem träge dahin schreitenden Kamel meiner Reiseroute, die mich teils durch die Wüste Jordaniens, und teils zu den zauberhaften archäologischen Stätten dieses Landes führen sollte. Ich durchquerte den Orient, meist alleine, doch hin und wieder schloss ich mich einer Karawane an und bewegte mich quasi auf den Spuren von Lawrence von Arabien, der Brite war während der Revolte von 1917 bis 1918 als Soldat in Jordanien stationiert, und so wie ich, fasziniert von all dem, was das Jordanland zu bieten hatte.
Mittlerweile beherrschte ich die arabische Sprache recht gut und konnte von den Menschen, die hier lebten, vieles lernen und über die Maschrek-Staaten (Maschrek - Land der aufgehenden Sonne) in Erfahrung bringen, das für meine Studienreise von Wichtigkeit war.
Schon mehrere Monate bereiste ich den Orient. Aus dem Libanon kommend, durchquerte ich Syrien, an den Golanhöhen vorbei, und betrat dort den Norden Jordaniens um nach Irbid zu gelangen. Hier sollte meine Reise von Nord nach Süd beginnen bis ich Akaba erreichte. Von Akaba aus wollte ich weiter reisen, das Rote Meer überqueren um Ägypten zu erkunden.
Das Land der Pyramiden durfte keinesfalls ausgelassen werden.
Jordanien, ein Land mit hohem Wüstenanteil, aber auch mit hohem Felsmassiv, wie der Dschabal Ram, der höchste Berg des Landes.
Zuerst war mein Ziel die Felsenstadt Petra, danach das Wadi Rum im südlichen Teil Jordaniens.
Die Gegend von Wadi Rum war unwegsames Gebiet, die Sonne brannte unbarmherzig am Tag und ließ mich des Nachts frieren.
Antike Stätten, archäologische Ausgrabungen interessierten mich von je her, weitere Landschaften und Naturdenkmäler sollten folgen.
In meine Heimat, oh, ich vergaß zu erwähnen, dass ich aus dem nördlichen Teil Europas stammte, dort wo es im Dezember bereits sehr kalt war, zog es mich nicht. Nein, ich genoss die Abenteuer und die Sehenswürdigkeiten meiner Reise. Auch wartete niemand auf mich, so dass ich getrost mit Zeit und Muße meiner ausgearbeiteten Route folgen konnte. Weihnachten, ein Fest der Familie, das ich nicht brauchte, denn ich hatte keine Familie. Vater und Mutter waren bereits verstorben, Geschwister gab es nicht und ein Frau, die vielleicht mit Sehnsucht ausharrte, bis ich endlich zurückkehrte, hatte ich noch nicht gefunden. Ich lebte in Deutschland, im Norden dieses Landes, eigentlich ein Stück schöne Natur, doch ich bevorzugte die andere Welt.
Als der Lehrstuhl der Universität, an der ich als Student eingeschrieben war, eine Studienreise als Ausschreibung veröffentlichte, bewarb ich mich sofort, in der Hoffnung genommen zu werden. Geschichte und Archäologie interessierte mich brennend, und ich ging davon aus, dass sich nicht viele Bewerber für diese Aufgabe einfinden würden, und schließlich entschied man sich für mich.
Kurzer Hand verstaute ich meine wenigen Habseligkeiten, und verließ mit viel Freude im Herzen meine Heimat, um mich in die Hände fremder Völker und Kulturen zu begeben.
Die Finanzen interessierten mich weniger, ein geringes Guthaben hatte ich gespart, dass eine Weile ausreichte, aber auch die Universität war nicht geizig, und spendete eine größere Summe für dieses Unterfangen. Es war ausreichend, so dass ich mich nach langer Zeit des Erkundens wieder in Deutschland einfinden konnte.
Ich zog also von Irbid aus, über Sarka nach Amman, die Hauptstadt der Jordanier. Von Amman führte mein Weg weiter über Madaba nach Karak, hier hatte ich etwa die Mitte meiner Route erreicht. Weitere Städte folgten bis ich schließlich die Felsenformation der Stadt Petra erblickte. So wie Thomas Edward Lawrence, nahm mich dieser Anblick ebenso gefangen, er beschrieb Petra als unermesslich und göttlich. Petra, die mit Tempeln geschmückte Felsenstadt der Nabatäer, entstand vor mehr als 2000 Jahren, und zog mich in ihren Bann.
In Karawansereien pflegte ich Nachts auf meinen langen Wegen durch das Morgenland zu rasten, um mich von den Strapazen des Tages zu erholen und unter Umständen das Kamel gegen ein anderes einzutauschen. Das Land war von vielen Festungen und Karawansereien durchzogen, welche Römer und Byzantiner und arabische Dynastien hinterlassen haben.
Amman ward durch eine 5000 alte Straße mit Petra und dem Wadi Rum verbunden.
Wadi Rum (arabisch Felsenwände) sollte meine letzte Station sein, bevor ich von Akaba nach Ägypten aufbrach. Die Wüstenlandschaft Wadi Rum lag im Süden des Landes, nahe der Grenze zu Saudi Arabien, hier bildeten sich innere zerklüftete Felsenschluchten mit Felsbögen und dazwischen das Wadi mit hohen Dünen aus rotem Sand. Wegen seiner Kraterlandschaft ward es auch das "Tal des Mondes" genannt.
Gastfreundliche Beduinen fanden hier ihre Heimat und passten sich den charakteristischem Wüstenklima an. Wasser, dass als Schnee oder Regen auf die Berge fiel, rann durch Sand und Fels, traf auf Granit und trat als Quelle wieder ans Tageslicht.
In blühenden Oasen lebten stolze Reiter, die auf heißblütigen Pferden (Araber) die Landschaft durchquerten.
Ich dagegen schaukelte auf meinem Wüstenschiff träge und langsam durch die roten Dünen.
Der heiße Wind trieb mir den feinen Sand in die Augen, so dass ich ungewollt rasten musste, um den Samun (Giftwind - trockener, heißer Wüstensturm) unbeschadet zu überstehen. Dabei kauerte ich eingehüllt in meinem Kaftan, den ich als Kleidung bevorzugte, neben meinem Kamel, dass mir ein bisschen Schutz gewährte.
Auch an diesem besagten 24. Dezember blies wieder ein heftiger Sturm in der Wüste. Ich musste nach einem geeigneten Platz Ausschau halten, dabei erblickte ich weiter abgelegen ein paar Zelte, und ich war sichtlich erleichtert darüber, dass es keine Fata Morgana war.
Die Beduinen waren freundlich gesinnte Menschen und ich wusste, dass ich bei ihnen den nötigen Schutz finden würde.
Das Übernachten unter dem Sternenhimmel war eines meiner liebsten und schönsten Beschäftigungen, während meines Aufenthaltes im fernen Osten. Das Wadi ließ die Sterne über mir in einem besonderen Licht und Glanz erstrahlen. Hin und wieder heulte ein Wolf, jedoch verhallte sein Gesang irgendwo zwischen Sandstein und Granit.
Ein in schwarzem Kaftan und mit der traditionellen Kopfbedeckung gekleideter Beduine hockte vor seinem Zelt. Bevor ich den unbekannten Mann mit dem üblichen "Salam Aleikum" (Frieden sei mit Euch) begrüßen konnte, sah ich zu meiner Überraschung, wie er aufstand und langsamen Schrittes auf mich zu kam.
Er verbeugte sich in der so typischen Art der Araber und sagte freundlich: "Uallah!" (Allah segne dich) Ich antwortet so, wie diese Menschen es zu tun pflegten: "Allahur Akbar!" (Allah ist der Allergrößte)
Dann ließ er sich vor einen Felsbrocken nieder und saß ganz still, den Kopf in die Hände gestützt, wie in tiefer Meditation versunken. Ich blieb in geringer Entfernung stehen und begann, ihn zu betrachten, wie ich es mit einem historischen Denkmal aus legendären Zeiten getan hätte.
Nach einer Weile erhob sich der Mann wieder und sprach mit ruhiger, klarer Stimme: "Fremder, ich tadle nicht deine Neugier, die dich veranlasst meine Ruhe und Gedanken zu stören, doch deine Blicke sind mir nicht willkommen."
Ich entschuldigte mich für meine Aufdringlichkeit und bat um Obhut, da ich die nächste Karawanserei, bevor die Sonne unterging, nicht mehr erreichen würde.
"Da du so zurückhaltend und höflich bittest, will ich dir deine Bitte erfüllen", entgegnete der Beduine. "Ich bin ein Bruder der Araber", betonte ich, nochmals höflich, "und möchte den Emir für seine Gastfreundlichkeit danken." Dabei senkte ich meinen Kopf, und hoffte den Stammesführer vor mir zu haben.
"Iah Allah", rief der Mann und deutete mit seiner Hand an, dass ich mich niederlassen sollte.
Wie erlaubt, veranlasste ich, dass mein Kamel sich an Ort und Stelle niederkniete, dann kletterte ich von seinem Rücken und schritt auf den Beduinen zu. Nochmals verbeugte ich mich und sagte: "Mein Name ist Jonathan, Jonathan Lehmann mein gütiger Herr."
Der fremde Mann musterte mich mit seinen großen dunklen Augen und erwiderte: "Ich bin Scheich Tarik Nassir el Haschem ibn Said el Haschem." Dann küsste er mich auf beide Wangen.
"Sei mein Gast", sagte Tarik zu mir, und beendete den Satz mit "Insch Allah!" (So Allah will). Ich band Jamal (Kosewort für Kamel) fest, legte mein Gepäck in die Nähe der Feuerstelle vor seinem Zelt und setzte mich daneben. Der Scheich wies mich in das Vorzelt seiner Bleibe und reichte mir frisches Wasser, Brot und getrocknete Früchte.
Ich war sichtlich überrascht, dass Tarik mich persönlich bewirtete, normaler Weise servierten die Frauen seines Gemach die Speisen und Getränke. Scheich Tarik Nassir erkannte sofort, dass ich nicht wagen würden zu fragen, jedoch konnte er von meinem Gesicht die Frage nach dem Warum deutlich lesen. Der Beduine nahm Platz zu meiner Rechten und berichtete mir, dass Schemessa (die Sonnige), seine junge Frau hochschwanger sei und beide zu jeder Stunde die Geburt des ersten Kindes erwarteten. Sie fühlte sich schwach und benötigte ihre Kräfte für die bevorstehende Niederkunft. Seine Stammesleute seien weiter gezogen, und er würde, sobald Schemessa und das Kind wohlauf sind, ebenfalls weiter ziehen. Dann blickte Tarik mir, mit zusammengekniffenen Augen, in die meinen und fragte ernst: "Kafir (Ungläubiger) was verschlägt dich so alleine in das Land meiner Väter? Hast du keine Angst, als einsamer Reiter auf einem müden Kamel durch die Wüste zu reisen?"
"Nun", begann ich zu erzählen, "es kommt vor, dass ich manchmal allein des Weges bin, geheuer ist mir dieses Abenteuer natürlich nicht, doch wage ich mich des öfteren den Gegebenheiten des allein Reisen zu unterwerfen. Faszination und Besichtigungen halten mich dann in Städte, Oasen oder an wundervollen Orten gefangen, so dass ich die Karawane, für ein paar Dinar ließ゚ der Schamir (Anführer der Karawane) mich einreihen, verlassen muss. Oder andere Reisegruppen, denen ich mich anschloss, warteten nicht, da ihnen die Zeit zu kostbar erschien."
"Was führt Rumis (Christen) in das gelobte Land Mohammeds?" fragte Tarik neugierig.
"Eure wundervollen Bauten, die Geheimnisse eurer Ahnen, die Märchen aus 1001 Nacht und der Zauber der Menschen und deren Kultur", antwortete ich mit einem Lächeln auf den Lippen. Der Scheich nickte, sprach: "Allah Badik Iah Sidi" (Gott möge Euch auf den rechten Pfaden leiten, mein Herr), und verließ mich um nach seiner Frau zu sehen.
Der Sturm legte sich und der Tag neigte sich langsam dem Ende. Um weitere Punkte der Reise und Abenteuer festzuhalten, bereitete ich mir einen halbwegs bequemen Schlafplatz, kramte in meinem Gepäck, nach Stift und Notizblock, aber auch nach dem Rest Tabak, den ich nun zu rauchen wünschte. Während dessen vernahm ich die Stimmen El Haschems und seiner Frau aus dem hinteren Teil seines Zeltes, deren Zugang mit einem Tuch abgetrennt war. Schemessa schien bald ihr Kind zu gebären, denn lautes Wehgeschrei und Tariks beruhigende Worte folgten unaufhörlich in der darauf folgende Stunde. Ich fühlte mich unwohl, wusste nichts zu tun. Was konnte ich auch tun? Dieses Bürde muss jede Frau ertragen, und wir Männer können nur warten und mit heftig klopfendem Herzen dabei sein.
El Haschem stand plötzlich vor mir, seine blutverschmierten Hände verrieten mir, dass Schemessa die Geburt hinter sich hatte, auch war es für einen Moment totenstill! Dann ein Schrei, der mich jäh durchfuhr, darauf folgte leidvolles Schluchzen und Weinen.
"Oh Gott", sagte ich in Gedanken zu mir, "lass es nicht wahr sein." Mit fragendem Blick suchte ich in Tariks Gesicht nach einer Antwort. Mit leeren Augen starrte er auf den sandigen Boden und regte sich nicht. Schemessas weinende Laute wurden leiser, sie hatte anscheinend keine Kraft mehr und beugte sich ihrem Schicksal. Ich verließ das Vorzelt und setzte mich auf den Felsbrocken, der in der Nähe des Lagers aus dem Sand ragte. Die Sonne hing schon am westlichen Himmel und sollte bald untergehen. Der blaue Horizont färbte sich langsam Rot und ward bald eins mit dem roten Sand der jordanischen Sahara (arabisch für Wüste).
Irgendwer trat aus dem Rot des Firmaments und steuerte geradewegs auf mich zu.
Zuerst dachte ich, es handelte sich um El Haschems Leute, die zurückkehrten, doch die Kleidung der Person, die ich ausmachte, war eine andere. Auch zog sein Kamel einen Karren, der nicht viel Gepäck zu befördern schien. Immer deutlicher erkannte ich, dass ein einsamer Reiter, so wie ich einer war, die Wüste durchquerte und offenbar nach einer Herberge suchte.
Tarik trat vor das Zelt und in seinen Armen hielt er ein Bündel aus weißem Leinen. Nun war es offensichtlich, dass das Kind nicht lebte und er schweren Herzens Abschied nehmen musste. Ich stand auf, ging zu ihm, klopfte Tarik auf die Schulter und bekundete mein Beileid. Er sah mich an, seine Augen füllten sich mit Tränen und sprach mit bebender Stimme: "Mein Sohn ist tot, Allah hat ihn nicht leben lassen. Was habe ich getan, so bestraft zu werden?" "Nichts", entgegnete ich, "Menschen sterben manchmal zu früh ohne je gelebt zu haben. Ein Platz im Paradies ist ihm Gewiss." "Danke, Samir (Geselle, Vertrauter)", sagte El Haschem leise, "doch vermögen mich deine Worte nicht zu trösten, zu groß ist die Enttäuschung und Schmerz meines Verlustes." Er senkte den Kopf, legte das tote Neugeborene in den Sand und kniete sich davor.
Tarik betete, leise Gesänge drangen in mein Ohr. Schemessa hatte ich noch immer nicht zu Gesicht bekommen. Ohne zu wissen wer sie war, tat mir die junge Frau endlos Leid. Ein schweres Leben schien nun vor ihr zu liegen, da eine erneute Schwangerschaft unmittelbar gefordert würde, in der Hoffnung auf einen Sohn, den der Stammesführer sehnlichst erwartete.
Ohne auf den einfach gekleideten Wanderer zu achten, der auf einmal vor uns stand, betete Tarik Nassir in Richtung Osten und betrauerte seinen toten Sohn.
"Schalom", eine tiefe Männerstimme begrüßte uns mit jüdischen Worten. Ich erschrak und hoffte, dass seine Worte Anklang finden würden.
Tarik war ein höflicher Beduine und wahrlich friedlich gestimmt. Er stand auf, verbeugte sich und erwiderte den Gruß mit einem "We Aleikum Es - Salam" (Und Friede sei mit Euch). Der Jude verbeugte sich ebenfalls und bat um Wasser. Tarik wies ihm den Weg zum Brunnen und sagte: "Trinke so viel du willst, auch dein Kamel soll trinken, doch dann ziehe weiter, für einen erneuten Gast in meinem Behausung ist kein Platz." Der Mann stand still, sein Blick hing an dem kleinen weißen Bündel im Sand, sprach ein paar unverständliche Worte, wendete sich ab, watete durch den weichen Sand und kletterte auf den alten Karren. Gespannt verfolgte ich diese Situation. Ich traute meinen Augen nicht und war fassungslos, als der Jude ebenfalls mit einem weißen Bündel im Arm erneut zu uns kam. Vor El Haschem hielt er inne, musterte mich und erzählte: "Ich bin Simon Uri Aleichen, Jude, wie ihr bereits bemerkt haben dürft. Dort auf den Karren liegt meine Frau Lydia Lavi, sie hat mir heute in den frühen Morgenstunden einen Sohn geboren. Doch Gott hat sie zu sich gerufen. Sie hat die schwere Geburt unseres ersten Kindes nicht verkraftet. Jetzt ziehe ich mit ihr und dem Tod geweihten Kind, von Mudawwarah kommend, durch die Wüste, um nach Palästina zu gelangen, und um Lydia dort ihrer Familie zu übergeben."
Gespannt lauschte ich auf das, was der Jude berichtete und auch Tarik schenkte ihm seine Aufmerksamkeit.
Simons Blick wurde ernst, seine müden Augen erwachten für einen kurzen Moment. "Freund", sagte Simon an Tarik gewandt, "ich bitte dich im Namen Gottes, den wir alle verehren, nimm dieses bedauernswerte Kind an deiner statt an, ich vermag es nicht zu nähren, somit wird es ebenfalls bald sterben. Deine Frau, voller Leid und Schmerz wird es stillen und lieben."
Mir stockte der Atem, welch eine Bitte dieses doch war. Der Araber schwieg zunächst, blinzelte in die untergehende Sonne, dann betrachtete er das Baby in Simons Armen. "Einen Juden soll ich, Scheich Tarik Nassir, ein Moslem, groß ziehen? Im Namen Allahs?"
"Verzeiht, wenn ich mich einmische", unterbrach ich die angespannte Lage, "ehrwürdiger Scheich Tarik, doch niemand wird als Jude, Christ oder Moslem geboren. Was aus den Kindern wird bestimmen die, die sie führen und begleiten. Führe du dieses Kind auf den rechten Weg deines Glaubens, im Namen des Herrn, der für alle Menschen der alleinige Herrscher ist. Dieser Junge wird ein Gläubiger nach deinem Vorbild sein."
El Haschems wütende Gesichtszüge veränderten sich, und genau in diesem Moment bewegte sich das Kind in Simons Armen, gab schmatzende Geräusche von sich, dann ein leises gequältes Weinen, das stetig lauter wurde, bis es schließlich erbarmungslos schrie. Ich war besorgt und hoffte auf Tariks Sinneswandel.
Schemessa, noch erschöpft von den Strapazen des Tages, hinter dem Vorhang des Hauptzeltes, konnte dieses kindliche Geschrei nicht überhören. Mit letzter Kraft und voller Hoffnung ihr Kind endlich an sich nehmen zu dürfen, es zu liebkosen, zu streicheln und zu stillen, bäumte sich auf, schleppte sich hinaus in den Sand, dort, wo drei Männer unterschiedlichen Glaubens ausharrten.
Die Frau in ihrem Gewand wirkte wie ein Gespenst auf mich, als sie plötzlich so da stand. Ihre dunklen Augen blitzten, füllten sie sich mit Tränen und Schemessa rief: "Was macht der Fremde mit meinem Kind? Ist es wohlauf? Konnte er es retten?"
Dann fiel die junge Frau auf die Knie, starrte zum Himmel, hob beiden Arme, streckte sie Simon entgegen und dankte ihrem Gott für die Gnade, ihr Kind verschont zu haben.
Simon trat zu ihr hin, legte das noch immer schreiende Baby in ihre Arme. Schemessas Blick hing an dem Neugeborenen und ein Lächeln überzog ihr trauriges Gesicht. Die Augen strahlten als sie den Jungen liebevoll auf die Stirn küsste. In ihren Armen liegend, verschwand Schemessa mit dem Kind wieder in den Schutz des Zeltes. Eine friedvolle Ruhe kehrte ein. Die Sonne erhellte mit letzter Kraft die Wüste, spendete noch wohltuende Wärme und keine Brise bewegte den roten Sand.
Scheich Tarik starrte auf seinen toten Sohn, der als kleines Paket noch immer im Sand lag.
"Hat er einen Namen?", fragte Tarik den Juden. Dieser schüttelte verneinend seinen Kopf und antwortete: "Nein, Freund, ich vergaß vor lauter Kummer ihn zu benennen. Gib du ihm den deinen und möge er in diesem Namen ein ehrwürdiger Mann werden, so wie du einer geworden bist." El Haschem hob seinen toten Sohn auf, überreichte ihn Simon und sprach leise: "Nimm ihn an, als deinen Sohn, so wie ich deinen angenommen habe. Gib ihm einen Namen und begrabe dieses Kind in deinem Glauben. Simon nickte stumm, nahm den toten Jungen an sich, lief durch den Sand zu seinem Karren, legte es seiner toten Frau in die Arme und kletterte anschließend auf sein Kamel. Simon hob die Hand, verabschiedete sich, und seine letzten Worten waren: "Er wird dir ein guter Sohn sein, und die Liebe zu seiner Mutter ungebrochen." Simon zog von dannen, so wie er gekommen war.
El Haschem atmete tief, eine schwere Last ruhte auf seinem Herzen, die er nun alleine ertragen sollte. Niemand durfte erfahren, was wirklich an jenem 24. Dezember in der Wüste geschehen war, als aus Scheich Tarik, Abu Tarik Nassir el Haschem wurde, und aus dem Sohn des Simon Uri Aleichen, Sinan Nassir el Haschem, Ibn Sahara (Sohn der Wüste).


Nachwort

In Palästina begrub Simon den Sohn des Arabers als David Uri Aleichen in den Armen seiner Frau Lydia Lavi, in seinem Glauben, welches er ohne weitere Vorkommnisse erreichte.

Zur damaligen Zeit war es den Juden noch gestattet, in den arabischen Ländern zu weilen, sie zu bereisen und auch sesshaft zu werden, auch durfte ein Araber durchaus eine Jüdin heiraten.
Nach der Gründung Israels, im Jahre 1948, erlaubte Jordanien und auch Saudi Arabien dieses den Juden nicht mehr.
Zur heutigen Zeit leben keine Juden in den beiden Ländern, und es besteht ein absolutes Einreiseverbot!

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Tag der Veröffentlichung: 10.12.2008

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