Cover

Drachentanz

Man schrieb das Jahr unwahrscheinlich. Alles, was geschehen konnte war geschehen. Die Tasse war zerbrochen und hatte sich zusammengefügt. Nur um wieder zu bersten.

Die Welt befand sich an dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr geben konnte. Das Universum hatte sich selbst verschlungen. Die Mächte der Götter waren an die Menschen gefallen. Und die Menschen hatten Götter erschaffen, die sich selbst und die Menschheit ins Verderben gestürzt hatten, in den unbeschreiblichen Abgrund des Nichts. Alles war gebunden und frei zugleich. Jede Form von Ordnung war dem Chaos gewichen. Die Dinge existierten und vergingen im ständigen willkürlichen Wechsel, ohne Sinn, ohne Zweck, ohne jegliches erkennbares Muster. Die Zeit war aus den Fesseln ihres ewigen Voranschreitens gerissen und lief nun mal vorwärts, mal rückwärts, mal sprang sie hin und her, mal stand sie still. Alles erschien ziellos zu geschehen in steter Bewegung und doch im ständigen Stillstand.

 

An diesem Ort, welcher doch überall sein konnte, an diesem Punkt, der Linie und Kreis, Welle und Gerade gleichzeitig darstellte, fand ich mich wieder. Am Anfang und Ende allen Seins stand ich vor dem schwarzen Turm und sah sie thronen! Sie hatte mich ebenfalls bemerkt. Zwar war meine Gestalt nicht von ihrer beeindruckenden Schönheit mit dem ebenmäßigen Schuppenkleid, welches das diffuse Licht des Chaos um sie herum in den wundervollsten Farben des Regenbogens reflektierte. Dennoch glänzten meine grauen Schuppen metallisch, in Silber-, Messing- und Kupfertönen. Und auch wenn ich nicht zu den Größten unserer Art gehörte, so strahlte mein Äußeres doch eine gewisse Dominanz aus, was nicht zuletzt der Tatsache geschuldet war, dass es außer mir keinen weiteren Schattendrachen gab. Eine Tatsache, die mich zugleich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und an den Rand der Drachengesellschaft rückte. Nun waren auch die schwarzen Drachen Raritäten unter ihresgleichen. Mir wurde bewusst, welche außerordentliche Ironie in der Tatsache lag, dass zwei der seltensten Drachen am Ende der Zeit noch übriggeblieben waren. Was hatte das zu bedeuten?

 

Mein Weg durch die Äonen hatte mich hierhergeführt, hierher zu ihr, die sie die Zeitalter ewig durchwanderte, genau wie ich. Oft hatte ich ihre Spuren bemerkt und zweifelsohne sie die meinen. Doch nie haben sich unsere Wege gekreuzt. Unserer gegenseitigen Existenz bewusst, ohne jedoch jemals aufeinander zu treffen, ließen wir wir Imperien aufsteigen und fallen. Sahen Sterne entstehen und verglühen. Zivilisationen wurden gegründet und gingen wieder unter. Mal mit mal ohne unser Zutun. Immer wieder fand ich die Zeichen ihres Wirkens und zweifelsohne sie die Zeichen meines Tuns, doch nie war es uns bestimmt einander zu begegnen.

 

Und nun, da alles endet und alles beginnt, wieder endet, existiert und zugleich nicht existiert, stehe ich vor dem schwarzen Turm und kann sie sehen. Die Herrin, die Königin, die Göttin, Anfang und Ende von so vielem - die schwarze Drachin. Die mächtigen Flügel ausgebreitet verkörpert sie alles, was unsere Umgebung nicht mehr kann. Eine unglaubliche Ordnung im ganzen Chaos geht von ihr aus, als wäre sie unangreifbar. Den Blick zu ihr erhebend fühle ich es. Sie ist das Ziel meiner Reise. Einer Reise, die mich durch die Zeitalter geführt hat. Vom Anbeginn der Zeit zu diesem Punkt an dem nichts mehr ist und dennoch alles.

 

Ich richte meinen Blick auf sie. Augen von unbeschreiblicher Farbvielfalt sehen mich an und direkt ins Zentrum meines Seins. Ohne dass ein Wort fällt, verstehe ich sie und nehme ihre Einladung an. Ich breite meine Flügel aus und erhebe mich. Flügelschlag um Flügelschlag gleite ich an dem mächtigen schwarzen Turm, in dem sie so lange allein geherrscht hat, empor. Immer weiter auf sie zu, den Blick nicht von ihr abwendend. Auch sie scheint mich nicht aus den Augen zu lassen. Eine Verbindung von unsagbarer Kraft manifestiert sich. Ob mein Aufstieg nur Sekunden oder Äonen dauert vermag ich nicht zu sagen. Es ist auch nicht wichtig. Alles was wichtig ist, ist sie. Je näher ich ihr komme, umso fester wirkt das Band, dass uns verbindet. Jenes Band, welches vor Zeitaltern gewoben wurde, als ihr und mein Weg sich das erste Mal gekreuzt hatten, als mir ihre Existenz bewusstgeworden war, ohne dass ich wirklich von ihr wusste.

 

Nur noch wenige Flügelschläge und ich war an der Spitze des Turms angekommen. Unsere Blicke hatten sich keine Sekunde lang verloren. Tief sah ich in dieses Farbenmeer, welches mir so viel Wärme, so viel Sicherheit gab. Ich landete sanft vor ihr. Unsere Gesichter kaum noch voneinander entfernt, wirkte sie so majestätisch, so beeindruckend, so wunderbar, so kraftvoll, so magisch. Behutsam näherten wir uns einander und schlossen erst in dem Moment die Augen, da wir Stirn an Stirn verharrten. Blitze zuckten, Feuer durchzog meinen Körper von der Stelle ausgehend, wo wir uns berührten. Um uns herum schien alles zu verblassen, zu verschwinden. All das Chaos schien gewichen. Ich spürte ihre Wärme, ihren Atem, nahm ihren Duft in mich auf. Es schien als berührten sich nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Seelen. Ich fühlte eine Geborgenheit, eine endgültige Ruhe, die ich in der Unrast meiner ganzen Existenz nie zu spüren bekam. Sie atmete tief, ich tat es ihr gleich und wir beide erhoben uns in die Höhen. Im Aufstieg umkreisten wir uns, streiften uns beinahe zufällig und jede dieser Berührungen löste erneut jene angenehm kribbelnden Blitze unter der Haut und in der Seele aus, gefolgt von einer unbeschreiblichen Wärme, die wie flüssiges Feuer wärmte ohne zu verbrennen und sich ganz ausbreitete. Immer schneller wirbelten wir umeinander herum, umgeben von der leidenschaftlichen Hitze, die uns wie ein Feuerball einschloss. Mal kamen wir einander näher, mal entfernten wir uns, aber nicht zu weit. Und wieder diese Blicke, so intensiv, so tief, so unglaublich machtvoll. Unsere Bewegungen umeinander fanden nun auf allen Achsen statt, sodass wir scheinbar eine Kugel aus zwei einander annähernden Hälften bildeten, die sich mehr und mehr ineinander verschlungen. Mittlerweile gab es kaum einen Punkt, an dem wir uns nicht berührten und dennoch näherten wir uns einander immer mehr. In rasender, leidenschaftlicher Geschwindigkeit drehten wir uns schneller und schneller, bis wir einander so nah waren, dass absolut nichts mehr zwischen uns hätte existieren können. In diesem Moment war es, als verschmolzen wir zu einer unzertrennlichen Einheit.

 

Die Blitze, die unsere Leiber und Seelen erregten, zuckten nun nach außen. Der Feuerball unseres Tanzes begann unsere Umgebung in gleißendes Licht zu tauchen. Jede Faser meines Körpers spürte Sie. Jede noch so kleine Bewegung ihrerseits fühlte ich, so deutlich, so real, so intensiv. Meine Seele schien die ihre zu durchfließen, sich mit ihr zu mischen. Ihr Sein war mir so bewusst, wie nie zuvor und ich war nicht gewillt, sie jemals wieder loszulassen. Alles, was wir geschaffen hatten, alles, was durch unser Werk verging, schien im Vortex der Energie, die zwischen uns, in uns und um uns herum pulsierte, zu verschmelzen. Die personifizierte Dunkelheit und der Schatten verschmolzen miteinander und es entstanden, Bahnen, Formen, Strukturen, schlussendlich eine allumfassende Ordnung. Es schien, als setzte sich das Universum um uns herum, ausgehend von uns wieder zusammen, oder entstand es neu? Formten wir mit dem, was wir füreinander empfanden, mit der Verbindung, die zwischen uns herrschte, neue Dimensionen des Seins?

 

Um uns herum veränderte sich Chaos, von unserer Kraft und Leidenschaft geführt, und begann immer weiter in die Ordnung überzugehen. Es bildeten sich Gestirne, Welten erwuchsen. Die Zeit kehrte in ihren Rhythmus von Entstehen und Verfallen und Neuentstehen zurück. Leben und Tod bildeten wieder eine feste Struktur. Lebensformen erschienen, einige von ihnen bildeten Zivilisationen, Imperien, die aufstiegen und fielen und den Weg für Neues ebneten. Himmelskörper bewegten sich auf vorbestimmten Bahnen. Ursache und Wirkung folgten aufeinander und die Elemente des Seins folgten wieder den Gesetzmäßigkeiten eben des Universums, welches Sie und ich geschaffen hatten.

 

Welche Macht, vermochte dies zu bewirken? Welche Kraft hatte von uns Besitz ergriffen und uns zu diesem Schöpfungsakt befähigt? Welches unbändige Gefühl hat uns diese Stärke geschenkt? War es tatsächlich Liebe?

 

Ich erwachte aus dem Tagtraum. Ihre Hände in den meinen. Wir tanzten. Ich sah ihr noch immer in die Augen und musste unweigerlich lächeln. Sie erwiderte das Lächeln. Und wir tanzten!

 

 

 

 

Impressum

Texte: Falco - Orcus aves
Cover: Marco Gahrig
Lektorat: Billie Przegendza & Christian Cramer
Korrektorat: Billie Przegendza & Christian Cramer
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2021

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
In tiefster Verbundenheit meiner Venus gewidmet. Dieses Werk und dessen kostenlose Bereitstellung wären nicht möglich gewesen, ohne die großartige Hilfe, meiner fantastischen Lektoren Billie und Christian und ohne die atemberaubende Aufnahme des Orionnebels, meines liebsten "Linsenkünstlers" Marco. Euch gebührt mein tiefster Dank!

Nächste Seite
Seite 1 /