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Episode I - Ablegen

 

Den Blick nach Backbord, statt wie sonst üblich nach Mittschiffs gerichtet, stand er auf dem Poopdeck. Die Hände wie gewohnt hinter dem Rücken verschränkt. Der aufkommende Westwind ließ die Fahnen flatternde Geräusche erzeugen. Noch war das Luftschiff am Ankermast vertäut, doch es würde nicht mehr lange dauern, bis die Wasserstoffdivision genug Auftrieb erzeugt hatte, um starten zu können.

 

Das monotone Stampfen der anlaufenden Dampfmaschinen und das geschäftige Treiben der Matrosen an Deck, gepaart mit den gebellten Befehlen der Deckoffiziere standen im Kontrast zum Anblick der Stadt, die von den Strahlen der Morgendämmerung noch nahezu unberührt war. Friedlich schmiegte sie sich an die steilen Hänge des Berges. Gelegentlich stiegen dünne weiße Rauchschwaden aus den Schornsteinen der Häuser, deren Bewohner bereits erwacht waren, doch die meisten Schlote gaben noch nichts von sich.

 

Er jedoch sah zur Waldgrenze am oberen Rand der Stadt, wo ein einzelnes Haus mit einem schwach beleuchteten Fenster stand. Er konnte auf diese Entfernung nur ihre Silhouette im schwachen Licht einer Öllampe erkennen, doch er wusste, dass Tränen über ihre zarten rosigen Wangen rannen.

 

Noch vor Anbruch der vierten Stunde des Tages hatte er sie verlassen, denn die Pflicht hatte ihn gerufen, er musste zurück, zurück an Deck. Nach seinem liebevollen Abschiedskuss hatte er ihre Augen glänzen sehen und hätte er in seinem Leben nicht schon so viel Leid ertragen müssen, er hätte ebenfalls Tränen vergossen.

Er spürte ihren Blick, er schmeckte ihre Tränen, er fühlte ihren Schmerz. Das Gefühl ihrer samtweichen Haut brannte unter seinen Fingerspitzen. Noch immer konnte er sie riechen, sie fühlen, ihre Lippen schmecken...

 

„Bevor der Alltag wieder beginnt und die Hierarchie unsere Worte und Wege vorgibt, möchte ich euch einen Rat geben, mein Freund.“ Hassan al Fahid war hinter ihn getreten. Der Bootsmann und Offizier der Reeperdivision diente ebenso lang wie er an Bord der Draco. Kapitän Lloyd wandte sich seinem alten Weggefährten, der ihm so manches Mal das Leben gerettet und die eine oder andere Meuterei vereitelt hatte, zu. In den stahlblauen Augen, die in absolutem Widerspruch zu der arabischen Gesichtsform und der braun gebrannten Haut seines Freundes und Stellvertreters an Deck stand, sah er Mitgefühl und Sorge.

 

„Es wäre das Beste, wenn ihr sie frei gäbet und wir die nächsten Jahre andere Heimathäfen anlaufen. So hat sie die Zeit euch zu vergessen und ihr könnt euch wieder ganz eurem Leben als Luftfahrer widmen.“

Ohne ein Wort zu sagen, wandte er sich ab und blickte erneut nach Norden zu dem einsamen Haus am Stadtrand, zu dem einsamen, erleuchteten Fenster und der einsamen Schönen, die dort ihre Tränen vergoss.

 

Al Fahid hatte nicht Unrecht. Jedes Mal, wenn er von ihr Abschied nahm, schmerzte es sie und ihn. Würde er es über sich bringen können, sich ein für alle Mal von ihr zu verabschieden, sie endgültig zu verlassen? Es würde ihr und ihm unermessliche Qualen bereiten, doch die Zeit würde die Wunden verheilen und die Narben verblassen lassen. NEIN! Er wollte sie nicht hergeben. Er wollte sie nicht für immer verlassen. Er wollte sie niemals verlassen.

Dennoch musste er dies tun, zwar nicht für immer, doch für lange Zeit. Er hatte sich selbst einst geschworen sein Leben der Freiheit zu widmen. Er hatte dem Kaiserreich geschworen es zu verteidigen, als Freibeuter der Lüfte. Er hatte diese zwei Verpflichtungen und die ließen ihn nicht los.

 

Würde man ihn offen fragen, ob er die Freiheit aufgeben und den Schwur seines Kaperbriefs brechen würde, müsste er das verneinen. Er konnte es nicht. Er liebte die Lüfte, er liebte die Reisen durch schwindelerregende Höhen. Er liebte das Gefecht mit den Feinden der Kaiserin. Doch er liebte auch diese Frau, die da einsam Fenster stand, weinend.

 

Seine Gedanken wurden vom Ruf des deutschen Ingenieurs und Leutnants der Wasserstoffdivision zerrissen. „Kapitän, alles bereit zum Ablegen! Wasserstoffdichte im Tragkörper bei 0,09! Navigator meldet, Gyroskope klar!“

Aus seinen Gedanken gerissen, wandte er sich Bootsmann Al Fahid zu, der umgehend salutierte. „Mannschaft vollzählig an Bord! Reeperdivision klar zum Ablegen!“

Er warf einen Blick über die Schulter zu der Silhouette im Fenster, atmete tief durch und drehte sich zurück zu Al Fahid, erwiderte den Salut und nickte: „Ablegen.“

„Ablegen!“ Der Ruf des Bootsmanns hallte über das Deck gefolgt von unzähligen Echos der Mannschaften, die den Befehl weitergaben.

 

Noch bevor die Taue vom Ankermast gelöst worden waren, hatte sich Kapitän Lloyd wieder nach Backbord gedreht und sprach: „Ich werde zu dir zurückkehren, Liebste und auch wenn ich dich dann wieder verlassen muss, will ich diesen Schmerz ertragen, weil ich weiß, dass ich immer wieder zu dir zurückkehren werde.“ Die Draco hatte sich derweil in die Lüfte erhoben und die einsame Geliebte in dem einsamen Fenster in dem einsamen Haus am Stadtrand verschwand unter den Planken des Poopdecks. „Ich komme zurück zu dir“, flüsterte der Kapitän, bevor er dem Steuermann den Kurs angab. Auch wenn er das Haus nicht mehr sah, er spürte noch ihren Blick, ihre Liebe und alles, was er sich wünschte, war, dass sie seine Liebe ebenso spüren konnte.

Impressum

Texte: Falco- Orcus aves
Bildmaterialien: Falco- Orcus aves
Lektorat: Stefanie Biesianczyk
Tag der Veröffentlichung: 22.01.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für jene schönen Helenen, die einzigen Gründe für einen Seemann Heimweh zu empfinden.

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