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Die Traumtänzerin

Die Traumtänzerin

 

Ich sah sie vor mir. Sie wiegte sich zu Musik, die meinen Ohren verborgen blieb. Sie tanzte zu einer Symphonie, die ich nicht hören konnte. Ihr schneeweißes Haar flog durch die Luft und verhüllte ihr Gesicht, wie ein weißer Schleier. Mit grazilen Bewegungen schwebte ihr schlanker Körper, zu einem Rhythmus den ich nicht wahrnahm, durch einen schwarzen Raum aus Nichts.

 

Ich sah ihr gern zu. Um genau zu sein, sah ich sie oft und jedes Mal kam ich ihr näher. Ich fühlte Leichtigkeit, Unbeschwertheit und ein Gefühl, dass sich wie Liebe anfühlte. Und dabei hatte ich noch nicht einmal ihr Gesicht zu sehen bekommen. Irgendetwas jedoch, zog mich zu ihr hin.

 

Das Verlangen ihr nahe zu sein wuchs mit jedem Mal, dass ich sie sah. Immer tanzte sie. Immer trug sie dieses lange, reich verzierte, weiße Kleid. Auch ihre Bewegungen schienen sich von Mal zu Mal zu wiederholen. Nie konnte ich die Musik wahrnehmen, die sie zum tanzen brachte und genauso wenig konnte ich ihr Gesicht erblicken.

 

Meine Augen waren wie auf sie geheftet. Ich war unfähig meinen Kopf zu drehen, meinen Blick abzuwenden. Ich sah sie immer. Tanzend und durch den Raum aus Nichts gleitend.

 

Bei dem Gedanken an sie wurde mir jedes Mal unheimlich warm. Ich vergaß all meine Ängste, Sorgen, Nöte. Jeder Kummer war wie weggeblasen, wenn ich an sie, an ihren Tanz dachte.

 

Wie schon so oft zuvor schlossen sich meine Augen. Ohne, dass ich auch nur etwas dagegen tun konnte vielen meine Lider wie Vorhänge zu und sie war verschwunden.

 

Ich erwachte mit einem leichten und unbeschreiblich warmen wohligen Gefühl. Wieder war ich ihr näher gekommen, als das letzte Mal. Doch noch immer konnte ich keine Musik vernehmen, obwohl ich nur noch drei Schritte von ihr entfernt war. Auch der Anblick ihres Gesichts blieb mir verwehrt. Nur die Konturen ihres schlanken Körpers hatten sich unter dem hauchdünnen weißen Kleid abgezeichnet.

 

Das warme Gefühl schwand langsam und zugleich verstärkte sich das Bewusstsein, dass es wieder nur ein Traum war. Dass die Musik, der Tanz, der schwarze Raum aus Nichts und auch sie nur eine Phantasie waren. Mir wurde kalt. Jene eisige Kälte, die ich jeden Tag, jede Stunde und Minute und sogar jede Sekunde fühlte breitete sich erneut in meinem Körper und meiner Seele aus. Die Träume von ihr waren die einzigen Momente in meinem Leben, die sich nicht kalt anfühlten.

 

Ich beschloss mein Bett zu verlassen und mich anzuziehen. Obwohl es noch finsterste Nacht war, hatte ich beschlossen meine Mentorin aufzusuchen. Sie war der weitsichtigste und begabteste Mensch, den ich je kennengelernt hatte. Mir war klar, dass sie in dem Moment, in dem ich meinen Entschluss gefasst hatte, schon davon wusste und mich erwarten würde. Ich zog mich an und machte mich auf den Weg durch die kalte klare Herbstnacht.

 

Ein heftiger kalter Wind blies mir ins Gesicht und lies meinen Mantel wehen. Jeder Schritt war ein Kraftakt, ein Aufbäumen meines Körpers gegen die Kraft der Natur. Der Herbstwind war kalt und die Luft feucht. Das störte mich jedoch wenig, denn ich war es ja gewohnt stets Kälte zu fühlen.

 

Mein Weg führte mich vor das Tor ihres Anwesens und wie ich es geahnt hatte, stand sie bereits davor und erwartete mich. „Du bist auch schon mal schneller gegen den Ostwind angekommen. Bevor du dich in Erklärungsnot bringst. Ich weiß worum es geht. Deine Träume von dem tanzenden Engel.“

 

Mir verschlug es die Sprache. Ich wusste, dass meine Mentorin enorme hellseherische Fähigkeiten besaß, doch die Tatsache, dass sie wusste, dass die Tänzerin in meinem Traum ein Engel war, lies mich erschaudern. Ein Engel natürlich! Darauf hätte ich selbst kommen müssen.

 

„Los, ich will dir etwas zeigen, doch dazu müssen wir bis zum Morgengrauen auf dem Berg sein.“ Noch bevor ich mich aus der Starre der Erkenntnis lösen konnte, hatte sie bereits mehr als hundert Meter zurückgelegt und ich musste mich sputen sie einzuholen. Auch wenn sie einiges älter war als ich, hatte sie ein Schritttempo vorgegeben, bei dem ich Mühe hatte mitzukommen.

 

Auf unserem Weg den Berg hinauf gingen mir immer wieder die Bilder von meinem Engel durch den Kopf. Wie konnte ich diese Aura übersehen? Wie konnte mir entgangen sein, dass die Tänzerin eine so starke Macht in sich trug? Die Macht eines Engels, eines Kindes der weißen Drachen, der einst mächtigsten Geschöpfe in unserer Welt.

 

Die Drachen hatten unsere Welt schon vor hunderten von Jahren verlassen. Doch nicht ohne der Menschheit etwas zurückzulassen. Sie spalteten Teile ihrer Seelen ab und pflanzten sie in menschliche Körper. Die Geburt der Engel, die an Stelle der Drachen, die Welt und die Menschheit schützen sollten.

 

Während ich in meine Gedanken über Engel, Drachen und die Mächte, die unsere Welt regieren, vertieft war, hatten wir unser Ziel bereits erreicht. Die Ostwinde waren verschwunden. Kein Lüftchen regte sich mehr und unsere Blicke schweiften über das Tal.

 

Vom Fluss stiegen Nebelschwaden auf und legten sich über die Stadt und das gesamte Tal. Die Sonne war im Begriff im Osten aufzugehen. Die Nebel verdichteten sich immer mehr und näherten sich dem Berg.

 

Vor uns im Nebel erschien das Gesicht einer Frau. Sie lächelte uns freundlich zu. „Sei gegrüßt, alte Freundin.“ Die Worte, die an meine Mentorin gerichtet waren, klangen herzlich und freundlich. Meine Mentorin lächelte und wandte sich an die Erscheinung im Nebel: „Wie du siehst, habe ich ihn hergebracht. Leider müssen wir uns beeilen, bevor die Sonne vollständig aufgegangen ist.“

 

Das Gesicht im Nebel wurde ernster. Die Frau nickte und wandte sich an mich. „Ich habe dir diese Träume geschickt. Die Tänzerin, die du gesehen hast ist meine Tochter. Sie ist der letzte Engel in dieser Welt und du hast die Fähigkeiten und als Einziger die Kraft sie zu beschützen. Ich spüre, dass dein Herz unbeschreibliche Kräfte birgt. Du hast deine Gefühle über viele Jahre hinweg verborgen, weswegen du ständig von Kälte umgeben warst. Dein Herz hat die Kraft, die es eigentlich verbrauchen sollte, sparen können und nun hast du mehr emotionale Kräfte, als jeder Andere auf der Welt.“

 

Ich konnte kaum fassen, was ich da hörte, doch es erschien mir logisch und nachvollziehbar. Einst wurde ich von einem geliebten Menschen zutiefst verletzt und beschloss von diesem Zeitpunkt an meine Gefühle zu verbergen. Mit diesem Entschluss kam die Kälte in mein Leben. Und nun, sollte ich die Kräfte, die ich jahrelang nicht eingesetzt hatte nutzen um den letzten Engel unserer Welt zu beschützen.

 

„Du liebst sie. Sie liebt dich. Das wisst ihr beide. Ihr kennt euch nicht, doch seid ihr seelenverwandt und das schafft ein unzertrennliches Band. Ich bitte dich nimm dich ihrer an und beschütze sie mit allen Kräften, die dir zur Verfügung stehen.“ Langsam verschwand das Gesicht im sich auflösenden Nebel. „Ich danke dir, meine Freundin.“ Der Klang der Frauenstimmer war nur noch ein Flüstern. „Wenn du mich brauchst, ruf nach mir und ich bin da.“ Meine Mentorin hatte Tränen in den Augen und ihre Stimme zitterte. „Wo werde ich sie finden?“ Die Frage rutschte mir über die Lippen, bevor ich darüber nachdenken konnte. „Ihr werdet euch finden. Dort wo....“ Das Flüstern war verklungen und das Gesicht den Strahlen der Sonne gewichen.

 

Meine Mentorin berührte kurz meine Schulter. „Geh jetzt. Lebe dein Leben und finde sie.“ Ich wollte Antworten, doch jedes Wort schien mir eines zu viel. So ging ich.

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Tag der Veröffentlichung: 16.10.2013

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