Rundherum war nur Schnee zu sehen.
Schnee, der sich auf die Spitzen der Tannen gelegt hatte, Schnee, der auf den Dächern der kleinen Holzhütten lag, Schnee, der alle Autos unter sich begrub und doch war es wohl der schönste Fleck auf Erden.
Zumindest für Nick.
Er genoss die Ruhe um sich, keinen Stress, keine Motorengeräusche, keine laute Musik, keine Familie.
Sein Leben war die letzte Zeit ziemlich aus den Fugen geraten, obwohl er es eigentlich nicht für all zu schlimm fand.
Den Streit mit seinen Eltern hatte er ganz gut verkraftet, den Neustart seiner Firma ebenfalls und doch brauchte er im Moment einfach nur Ruhe, wollte keinen sehen, oder sprechen.
Dafür war diese Gegend einfach perfekt.
In den Bergen in Kanada, abgelegener ging es wohl kaum und doch hielten sich hier noch ein paar Menschen außer ihm auf.
Ein älteres Ehepaar, die, wie er erfahren hatte, hier ihren 50 Hochzeitstag feierten. Eine junge Familie mit zwei Kindern und noch jemand, doch um wen es sich da handelte, wusste er nicht. Die Person ließ sich nie draußen sehen, war wie er, vor zwei Tagen hier angereist, aber kam bisher noch nicht aus der Blockhütte raus.
Tief atmete Nick die frische Luft ein und betrachtete sich die Hügel, irgendwann wollte er noch einen besteigen, das hatte er sich fest vorgenommen.
Doch im Moment kämpfte er doch etwas mit der Einsamkeit, in kaum einer Woche stand Weihnachten bevor, was er hier verbringen wollte, aber jetzt war er sich nicht mehr so sicher.
Kevin, sein Geschäftspartner und dessen Frau Kristin hatten ihn eingeladen, doch er hatte dankend abgelehnt.
Er stapfte durch den Schnee und wie immer, als er an der Holzhütte des unbekannten Gastes vorbei kam, versuchte er was durch die Fenster zu sehen.
„Mist, wenn es nur nicht so kalt wäre.“ Die Fenster waren beschlagen und somit war jeder Versuch umsonst.
„Wollen sie zu mir?“
Mit einer Hand an seiner Brust und geschocktem Gesicht drehte sich Nick um: „Bitte?“
Ein leichtes Lachen kam ihm entgegen: „Hat ihnen ihre Mutter nicht beigebracht, das sich es nicht gehört, bei fremden zu gucken?“
„Doch eigentlich schon.“ Verlegen senkte Nick seinen Blick. „Es war nur ... ich habe mich gefragt ...“
„Wer hier wohnt? Na dann, mein Name ist Samantha Dover.“ Freundlich reichte sie ihm die Hand.
„Nickolas Parker, erfreut und entschuldigen sie bitte ...“
„Ist schon in Ordnung. Ich kann auch nie an einem Haus vorbei gehen, ohne zu versuchen hinein zu schauen. Obwohl die Aussicht einem eigentlich andere Dinge in den Kopf setzt“, Samantha drehte sich leicht nach rechts, wo der Berg, auf dem sie waren, ein Ende hatte und es tief in eine Schlucht hinunter ging.
„Wie meinen sie das denn?“
„Na zum Träumen. Es ist so wunderschön hier und dazu noch so ruhig“, seufzte sie und drehte sich wieder zu Nick. „Na dann, einen schönen Tag noch.“
Bevor er überhaupt reagieren konnte, war Samantha schon in ihrer Hütte verschwunden.
Tief seufzend, machte er kehrt und entschied sich auch in seine zu gehen. Die Kälte machte ihm langsam zu schaffen und ein warmer Kakao würde dem schon eine Linderung bescheren.
Schon am nächsten Morgen hatte er wieder das Vergnügen auf Samantha zu treffen, die, wie er, wohl einen Spaziergang machen wollte.
„Guten Morgen“, begrüßte sie ihn leicht lächelnd, ihre Nase war von der Kälte schon rosa geworden.
„Guten Morgen, na eine Runde spazieren?“
„Ja, man sollte doch jeden Moment hier auskosten.“
„Darf ich mich vielleicht anschließen?“
„Sehr gerne. Ruhe ist zwar schön, aber ein nettes Gespräch, wäre wirklich mal wieder nett.“
Mit den Händen tief in die Jacken vergraben, die Köpfe leicht gesenkt, damit die Luft nicht vollkommen auf ihre Gesichter schlug, stapften sie durch den knöchelhohen Schnee.
„Wenn man überlegt das der Hausmeister vor einer Stunde erst den Weg frei gemacht hat“, meinte Nick und schüttelte ungläubig den Kopf.
„Ach sind wir empfindlich?“, ihr Lachen war kaum zu überhören, auch wenn gerade eine Windbö ihnen um die Ohren peitschte.
„Ich bin doch nicht empfindlich, also bitte. Schließlich bin ich ein ...“
„Mann?“, Samantha sah ihn unverwandt an.
„Ja“, kam es ernst von Nick und kurz darauf fing Samantha an zu lachen.
„So so, ein Mann, na dann“, ehe er sich versah, hatte sie sich eine Hand voll Schnee geholt und ließ diese in seine Jacke rieseln.
„Oh Gott ... oh Mann, verdammt ist das Kalt“, sprang Nick umher und versuchte irgendwie den Schnee wieder aus der Jacke zu bekommen.
Die nächsten vier Tage gingen fast gleich vonstatten, sie trafen sich, gingen spazieren und genossen die Zeit zu Zweit.
Nick hatte seine Gedanken wieder heim zu fliegen ganz vergessen, zu sehr genoss er Samanthas Anwesenheit und er hätte auch im Moment keinen gewusst mit dem er lieber zusammen gewesen wäre.
Ihre Nähe, tat ihm einfach gut und besonders schön fand er, die langsamen Annäherungsversuche.
Immer wieder wenn sie spazieren gingen, artete es in einer Schneeballschlacht aus, danach lagen sie meist nebeneinander im Schnee und ihre Hände berührten sich „versehentlich“.
Doch heute schien alles etwas anders, die Sonne strahlte ungewöhnlich intensiv, als sie durch den Wald schlenderten.
Plötzlich spürte er ihre Hand, die sanft an seiner vorbeistreifte und er nahm die Chance wahr, umschloss ihre Hand und hielt sie fest in seiner.
Samantha sah nur kurz zu ihm, eine leichte Röte zierte ihre Wangen, die sicher nicht von der Kälte kam.
Ein Kribbeln machte sich in Nicks Bauch breit, ein Gefühl der Schwerelosigkeit überkam ihn und der Tag schien noch schöner, als er eh schon war.
Das Gefühl ihrer zarten Hand in seiner, ihre Haut an seiner zu spüren, ihre Wärme die zu ihm strömte, ja er merkte es, dass war das Gefühl was er seit langer Zeit vermisst hatte.
„Was machst du eigentlich Weihnachten, oder fliegst du dann Heim?“, brachte Samanthas zarte Stimme, ihn wieder ins hier und jetzt.
„Ich hatte nicht vor heim zu fliegen, eigentlich wollte ich es dieses Jahr ausfallen lassen, warum? Was machst du denn?“
„Mich mit einem warmen Kakao und Marshmallows vor den Kamin setzen und hoffen das ich artig genug war und der Weihnachtsmann auch hierher kommt“, lächelte sie und ihre Hand verschränkte sich mit seiner.
„Hoffen? Warum solltest du denn nicht artig genug gewesen sein?“
„Wer weiß?“, kam es schmunzelnd.
„Erzähl mir jetzt nicht, das du auch Leichen im Keller hast, das glaube ich dir nicht.“
„Ach nein? Du unterschätzt mich.“
Nick blieb stehen, zog Samantha an sich ran: „Dann erzähl mal.“
„Meine dunklen Geheimnisse? Vergiss es, ich müsste dir danach was antun und das lassen wir doch besser, oder?“, ihr Lächeln wechselte zu einem Lachen.
Langsam drückte Nick sie rückwärts bis sie an einem Baum zu stehen kam, doch er trat noch einen Schritt näher an sie ran. Indem Moment verfluchte er diese Kälte, die beide zwang sich dick anzuziehen. „Und wenn ich das riskiere, erzählst du es mir dann?“, fragte er leise, bevor sein Verstand sich eine Auszeit nahm und seine Lippen ihre trafen.
Eine kleine Ewigkeit schien dieser Moment zu dauern, bis sich Samantha geschockt von Nick trennte und mit schnellen Schritten zu ihrer Hütte verschwand.
Nick blieb zurück, verwirrt sah er ihr nach, überlegte ob er jetzt zu forsch herangegangen war, doch sie hatte seinen Kuss erwidert.
Den Rest des Tages und auch den darauffolgenden verbrachte er damit darüber nachzudenken was geschehen war, aber einen Fehler seinerseits fand er einfach nicht.
Heute war Weihnachten, eben hatte Kevin angerufen und ihn nochmals versucht zu überreden doch noch zu kommen.
Nick meinte er meldet sich noch einmal, zog sich warm an und ging vor die Tür. Es dämmerte schon leicht, die ersten Sterne waren am Himmel zu sehen und kleine Schneeflocken suchten sich die schönsten Stellen zum Landen.
Einige beendeten ihre Reise in seinem Gesicht, schmolzen gleich um dann als ein kleiner Tropfen an seiner Wange hinunter zu rollen.
Er sah zu Samanthas Hütte, die hell erleuchtet war. „Mich mit einem warmen Kakao und Marshmallows vor den Kamin setzen und hoffen das ich artig genug war und der Weihnachtsmann auch hierher kommt“, hörte Nick ihre Stimme und sah förmlich ihr Lächeln.
Wie von alleine gingen seine Beine los und machten erst vor ihrer Hütte halt.
Sollte er reingehen?
Sein Verstand schaltete auf stur, meinte dass sie doch einfach weggegangen war und er nun nicht zu ihr gehen sollte, doch sein Herz überhörte dies. Es schlug doppelt so schnell. In seinem Bauch machten sich wieder mal Schmetterlinge breit, die gleich zu verstehen gaben, nicht allzu schnell wieder fortzugehen und schon war seine Hand an die Tür geraten.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis Nick ein Geräusch von innen vernahm. Ein wenig klang es wie ein Wimmern, doch wieso sollte Samantha solche Laute von sich geben?
Ein Geräusch verkündete das die Tür aufgeschlossen wurde, dann ging die Klinke runter: „Einfach ... reinkommen“, kam gepresst.
Zögernd öffnete Nick die Tür, sah um sie rum und schluckte.
Schweißgebadet lehnte Samantha an der Wand, keuchte: „Nick?“
„Ja, was ist los? ... Ähm ...“, ihm verschlug es die Sprache, sein Blick war von ihrem Gesicht runter gewandert zu ihrem Bauch. Ein runder gewölbter Bauch streckte sich ihm entgegen: „Was ... hast ... du?“
„Zuviel gegessen? Ich bin schwanger“, zischte sie und krümmte sich etwas.
„Schwanger? Du bekommst ein Kind?“
„Ja und scheinbar hat es sich gerade überlegt heute zu kommen. Nick bitte hol Hilfe, bitte.“
„Okay, erst mal solltest du dich aber hinsetzen, oh man ... wieso hast du nichts gesagt?“ Hilfsbereit nahm er sie in den Arm und brachte sie zum Sofa.
„Woher sollte ich wissen, das du es nicht siehst? So ein acht Monats Bauch ist eigentlich nicht zu übersehen, oder?“
„Hallo, du warst ziemlich winterfest angezogen, wenn man danach geht wären hier wohl alle schwanger. Bist du deshalb weg?“
Samantha sah in seine blauen Augen: „Ja, ich ahnte das du es noch nicht bemerkt hast, sonst hättest du mich wohl kaum geküsst. Vergessen wir den Tag einfach, hol bitte Hilfe.“
Nick griff zu seinem Handy, wählte den Notruf: „Guten Tag, sie haben den Notruf gewählt, was können wir für sie tun?“
„Hallo, mein Name ist Parker, hm ich bin hier in den Bergen, bei den Blockhütten und hier bekommt gerade, oder also ...“
Kopfschüttelnd nahm Samantha ihm das Handy aus der Hand, erläuterte der Frau am anderen Ende, wo genau sie waren und was los war. Man versprach ihr gleich jemanden zu schicken, sie sollte das Handy wieder an Nick geben.
„Ja?“
„Mister Parker, wir wissen nicht wie schnell der Notarzt bei ihnen sein kann, bitte bewahren sie Ruhe. In welchen Abständen kommen die Wehen?“
„Woher soll ich denn das wissen?“
„Fragen sie nach!“
„Okay ... Samantha welche Abstände haben deine Wehen?“ Samantha gestikulierte es ihm, da wieder eine Wehe kam und er gab es an die Notrufzentrale weiter, „... so ca. alle sechs Minuten, was heißt das?“
„Hmmm, gut es kann noch dauern bis das Kind auf die Welt kommt.“
„Kann?“, warf Nick entsetzt ein, irgendwie gefiel ihm das Wort so gar nicht.
„Nun ja, es kommt eben darauf an, wie eilig es das Baby hat. Ich rufe sie in ein paar Minuten noch einmal an, okay?“
„Sie wollen mich jetzt hier so alleine lassen? Ich weiß doch gar nicht was ich machen soll.“
„Bei ihr bleiben, bis gleich.“
Bei ihr bleiben, das gefiel Nick noch weniger. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass das hier nicht seinen Weihnachtsvorstellungen entsprach, auch wenn er nicht wirklich welche hatte.
„Vielleicht sollte ich noch jemanden her holen, also da ist doch die Familie ...“
„Meinetwegen, wann kommt denn der Arzt?“
„Ich weiß es nicht.“ Nick ging zur Tür, öffnete sie einen spalt und traute seinen Augen nicht, die eben noch kleinen Schneeflocken, waren ziemlich groß geworden und dazu stürmte es nun heftig. „Na toll“, schnell schloss er die Tür wieder.
„Was?“, beängstigt sah Samantha zu ihm.
„Ein Schneesturm.“
„Das ist doch jetzt ein Scherz, bitte nicht.“ Die ersten Tränen rannen über ihre Wangen.
Nick setzte sich zu ihr, zog sie in seine Arme: „Es wird alles gut. Hey heute ist Weihnachten, der Weihnachtsmann wird’s schon richten, dafür gebe ich allzugerne meine Geschenke weg.“
Nach einer halben Stunde versuchte Nick abermals den Notruf zu wählen, doch sein Handy gab nichts von sich, alles war still.
„Mist, oh Gott“, fluchte er vor sich her, wobei er durch die kleine Hütte lief.
„Nick?“
„Was denn?“
„Ich glaube ... da hat es jemand eilig“, Samantha deutete auf ihren Bauch und atmete schwer. Ihre Augen verrieten was für Schmerzen sie haben musste, doch es kam kein Schrei.
„Bitte nicht, hey du da drin, hier ist keiner der euch beiden helfen kann, bitte hab Geduld“, wie automatisch streichelte Nick über den Bauch und sprach immer weiter auf den kleinen Wurm ein. Doch so lieb er auch sprach und egal welche Versprechungen er machte, das Kind hatte es sich wohl in den Kopf gesetzt jetzt zu kommen und nicht erst später.
Nervös drückte Nick abermals die Knöpfe seines Handys und wirklich ein Freizeichen.
„Guten Abend sie haben den Notruf gewählt, was kann ich für sie tun?“, meldete sich die Frau von eben wieder.
„Parker hier!“
„Oh gut, entschuldigen sie, aber ich kam nicht mehr zu ihnen durch. Wie sieht es aus?“
„Da will jemand nicht länger warten, wann kommt der Arzt?“
Die Frau atmete tief durch: „Durch den Sturm dauert es noch etwas. Was heißt genau will nicht warten?“
„Na ja, ich denke, also Samantha meint es kommt gleich. Bitte tun sie etwas, ...“
„Ganz ruhig, ich leite sie jetzt zu dem Arzt durch, der wird ihnen weiter helfen.“
„Na toll, der würde mir helfen, wenn er hier wäre“, seufzte Nick und wartete bis sich eine Männerstimme meldete.
„Hallo?“
„Hey, wo bleiben sie?“
„Wir sind auf dem Weg, ca. eine Stunde noch.“
„BITTE? Hallo, was verstehen sie nicht? Hier kommt gleich ein Kind auf die Welt und es ist keiner da, der Samantha helfen kann“, außer Fassung rang Nick nach Luft.
„Sie sind doch da“, kam ganz ruhig als Antwort.
„Ich? Vergessen sie es, ich ... ich kann doch nicht ... ich bin kein Arzt, oder auch nur annähernd so was ähnliches.“
„Sondern?“
„Im Management!“
„Sie schaffen das schon. In welchem Abstand kommen die Wehen?“
„Zwei Minuten.“
„Gut, wo ist Samantha?“
„Auf dem Sofa.“
„Schön, bringen sie sie ins Bett, sie soll es bequem haben, dann sollte sie die Beine etwas anwinkeln.“
„Okay, Sekunde“, so half Nick Samantha in ihr Zimmer.
„Was hat sie an?“
„Eine Jogginghose und ein T-Shirt, warum?“
„Die Hose muss aus, holen sie ihr ein Laken, oder irgendwas, was sauber ist.“
„Geht klar, können sie nicht schneller kommen?“
„Wir geben alles, versprochen“, sagte der Arzt und Nick meinte ein schmunzeln heraus zu hören. „Legen sie ihr das Laken über die Beine und wenn sie dabei sind, könnten sie mal schauen, ob man schon was sieht.“
„Bitte? Wie schauen?“
„Ihr Name war?“
„Nick.“
„Gut, ich bin Gregor. Nick liegt Samantha vor dir?“
„Ja.“
„Super, schau zwischen ihren Beinen, auf ihre ...“
„Hallo? Ich kann doch nicht ... also ... also das ist nicht mein Kind was da auf die Welt kommt.“
„Trotzdem, oder wenn Samantha es kann, soll sie fühlen.“
Nick gab es weiter, was ihm einen schiefen Blick von ihr einbrachte: „Was soll ich?“
„Fühlen ob schon was da ist, was normal nicht da ist.“
Langsam tastete sich ihre Hand zwischen ihre Beine, dann schüttelte sie den Kopf.
„Und?“
„Nein, nichts.“
„Perfekt und das soll bitte auch so bleiben. Sag ihr, sie soll nicht pressen.“
„Du sollst nicht pressen.“
„Sehr witzig“, raunte sie.
Gregor lachte bei ihrer Antwort: „Hilf ihr die Wehen weg zu atmen, tief ein und ausatmen. Ich rufe gleich noch einmal an.“
„Lasst mich nur allein, super“, sauer legte Nick das Handy aufs Bett und setzte sich zu Samantha: „Ganz tief einatmen und ausatmen“, dabei atmete er mit, nahm ihre Hand in seine und versuchte sie etwas zu beruhigen. Sein Blick ging aus dem Fenster, wo sich langsam die Wolken lichteten: „Lieber Gott, hilf uns, oder du Weihnachtsmann, irgendjemand, aber bitte schnell.“
Samantha kicherte: „Du glaubst an den Weihnachtsmann?“
„Eigentlich nicht mehr, aber im Moment glaube ich an alles was mir helfen könnte.“
„Verstehe ... oh Gott ...“
Nun hatte es jemand ziemlich eilig: „Nick es kommt, JETZT!“
Erschrocken sprang er auf, seine Hände zitterten, sein Atem beschleunigte sich: „Versuch es noch aufzuhalten, oder so.“
„Sehr ... witzig ...“
Das Handy ging los, hastig hob Nick ab, wobei es ihm beinahe aus der Hand fiel: „Hallo? Der Kopf kommt.“
„Bitte? Was für ein Kopf?“
„Kevin? Oh Gott, jetzt nicht, nachher“, schnell drückte Nick ihn weg und schon klingelte es wieder. „Gregor?“
„Ja.“
„Super, der Kopf ist fast da, sagt Samantha.“
„Oh je, jetzt wird es ernst. Bleib ruhig ...“
„Ich lache später okay?“
„Meinetwegen. Wasch dir schnell die Hände, heb das Laken an und stütz den Kopf mit einer Hand. Keine Diskussion!“, stumm befolgte Nick die Anweisungen. „Und?“
„Oh ja, also, oh man und jetzt?“
„Presst sie?“
„Im Moment nicht.“
„Bei der nächsten Wehe soll sie pressen, mach dich auf was gefasst, sehr wahrscheinlich kommt das Baby ganz. Lass es sanft auf das Bett gleiten, schaffst du das?“
„Bleibt mir was anderes übrig?“
„Nein.“
Ein Schrei unterbrach beide, ja, Samantha presste und Nick sah mit großen Augen zu, wie ein kleiner Mensch aus ihr hervorkam. Erst der Kopf, dann die linke Schulter, rechte Schulter und dann der Rest. Sein Atem stockte, sein Blick schwankte zwischen Samantha und dem kleinen Wesen vor ihm, bis Gregors Stimme wieder zu ihm durchdrang. „Nick ... Nick?“
„Es ist da, müsste es nicht schreien?“
„Hol das Laken und wisch es dem Baby durchs Gesicht, dann heb es hoch und leg es Samantha auf den Bauch“
Fast schon zärtlich streifte Nick über das kleine Babygesicht, dass ihn mit weit aufgerissenen Augen ansah um sie dann schnell zu schließen. Zögernd hob er es an und übergab es Samantha. „Atmet es?“
„Ich weiß nicht ...“
Ein schriller Schrei unterbrach abermals, doch dieses mal kam er nicht von Samantha. „Ja, es atmet.“ Erleichterung auf allen Seiten.
„Toll, nun musst du die Nabelschnur abbinden. Ist irgendwo eine Schnur? Sie sollte aber nicht benutzt sein, am besten eingepackt.“
„Hier ist so eine Nähtasche, da ist noch alles verpackt drinnen.“
„Einwandfrei, schau das die Schnur reißfest ist und wickle sie fest um die Nabelschnur, zweimal, mit einem Abstand von fünf Zentimetern.“
„Ja, habe ich.“
„Gut, ist da auch eine Schere dabei?“
„Ja.“
„Schneide zwischen beiden Schnüren durch. Dann muss nur noch die Nachgeburt kommen.“
Die kam nach ca. drei Minuten, was Nick nicht wirklich schön fand, er kämpfte leicht gegen seine Übelkeit.
„Wie geht es Samantha?“
„Sie lächelt und hat ihr Kind in den Armen, sie sagt gerade ihr ginge es gut, sie sei nur erschöpft.“
„Ich darf dir gratulieren Nick, gerade hast du den Geburtshelfer scheinbar mit Bravour gemeistert.“
„Ähm, wow, ja danke.“
„Was ist es?“
„Bitte?“
„Na was hat sie, einen Jungen oder ein Mädchen?“
„Oh, Moment bitte.“ Nick setzte sich wieder zu Samantha: „Was haben wir denn da für ein Christkind?“
„Ein Junge.“
„Gregor?“
„Ich habe es gehört. Pass auf, wir sind in knapp zwanzig Minuten da.“
„Okay, bis gleich.“
Wirklich zugehört hatte Nick Gregor nicht mehr. Er bewunderte gerade den kleinen Jungen, der immer noch aus vollem Hals schrie und Samantha die vor Glück nur so strahlte.
„Danke“, ging ihre Aufmerksamkeit nun zu ihm.
„Wofür, das warst du schon ganz alleine. Herzlichen Glückwunsch, Mama.“
„Danke das du nicht weggegangen bist“, ihr Blick senkte sich.
Sachte hob Nick ihr Kinn an: „Mich wird man nicht so leicht los, nur wenn man es ausdrücklich wünscht. Wünschst du es?“
„Nein“, ganz zart berührten sich ihre Lippen.
Kaum war Gregor da, ging Nick erst mal vor die Tür, machte sich eine Zigarette an und atmete durch.
Gerade als er zu seinem Handy greifen wollte um Kevin anzurufen, hörte er ein sanftes klingeln. Sein Blick ging nach oben: „Was ... danke, mehr konnte ich mir wirklich nicht wünschen“, lächelte Nick.
Ob es nun eine Sternschnuppe war, oder wirklich der Weihnachtsmann, darüber könnte man wohl streiten, doch zumindest hatten sich für Samantha und Nick an diesen Weihnachten alle Wünsche erfüllt.
„Wer braucht schon Weihnachten?“, fragte Simone sich am 1. Dezember beim morgendlichen Blick in den Spiegel. Als sie etwas näher hinschaute, erblickte sie ein widerspenstiges winziges Haar am Kinn. Sie griff nach der Pinzette und machte ihm den Garaus. Genau, Weihnachten brauchte man ebenso wenig, wie überflüssige Haare als Wegbegleiter der Wechseljahre. Simone nickte sich selbst zu.
Nur konnte man Weihnachten nicht so schnell zur Seite schieben, wie ein überflüssiges Kinnbärtchen. Dafür kam es allerdings auch nicht so schnell wieder… Für heute jedenfalls war Simone im Zweikampf Sieger geblieben. Mal sehen, inwieweit sich das im Rahmen der leidigen Festvorbereitungen umsetzen ließ.
Sie sprang unter die Dusche und ließ sich das heiße Wasser über den Körper laufen. Dabei reckte sie sich wohlig und genoss es, dass ihr niemand sagte, sie würde kostbares Trinkwasser verschwenden. Oder, dass sie längst krebsrot sein müsse, bei der gewählten Temperatur. Das Singledasein hatte auch Vorteile.
Simone warf sich in Schale. Heute war Samstag und sie wollte bummeln gehen. Endlich mal ein paar neue Klamotten kaufen, im Cafe sitzen und die Leute beobachten, an der Ecke einen Imbiss genießen und genüsslich den kleinen Buchladen durchstöbern. Es war seit langem der erste Samstag, an dem sie nicht arbeiten musste. Sie zog die hippen Overknees weit den Oberschenkel hinauf. Sie saßen perfekt. Simone drehte sich vor dem Garderobenspiegel und fand, dass einzig die Kinnhaare erkennen ließen, dass sie den Zenit schon überschritten hatte.
Sie schloss die Wohnungstür und rief den Aufzug. Als sie einstieg stand die Kleine von Meier schon drin. „Hallo du, Frau Schröder, weißt du, was heute in meinem Adventskalender war?“, das Gör grinste. Simone mochte keine Kinder. Und sie mochte es nicht, wenn jemand sie grundlos duzte. Also strafte sie das vorlaute Kind mit Nichtachtung. Sie drehte ihm den Rücken zu und drückte auf den Erdgeschoss-Knopf. „Du, Frau Schröder, ich will aber eins höher und komme nicht an den Knopf. Kannst du nicht mal für mich drücken?“
„Ich fahre ins Erdgeschoss. Da musst du eben nochmal rauffahren. Und wenn du nicht bis oben kommst, musst du laufen.“ Simone genoss ihre billige Rache für die unerwünschten Vertraulichkeiten des Mädchens. Das zog auch sofort einen Schmollmund und holte zum Gegenschlag aus – Reden bis der Arzt kommt.
„In meinem Kalender war ein Ball. Hast du auch einen Kalender? Meine Oma hat noch einen zweiten für mich. Da darf ich heute Nachmittag das Türchen öffnen. Und bald kommt der Nikolaus und bringt mir was Süßes. Und bis das Christkind kommt, muss man auch nur noch dreiundzwanzigmal schlafen. Wie findest du das, Frau Schröder?“
Uff, endlich erreichte der Aufzug das Erdgeschoss und sie konnte dem Redefluss des kleinen Monsters entkommen. Hinter ihr glitt die Tür gleich wieder zu und das Display zeigte an, in welches Stockwerk der Aufzug fuhr. Simone grinste böse. Das Mädchen würde noch drei Etagen laufen müssen…
Simone schlenderte entspannt aus dem Parkhaus in Richtung Fußgängerzone. Es war voll. Brechend voll, um genau zu sein. Unterwegs waren ihr schon Unmengen von Autos aufgefallen, die Richtung Zentrum fuhren. Klar, es war der erste verkaufsoffene Samstag im Advent. Doch sprach man in den Nachrichten nicht dauernd davon, dass die deutsche Kaufkraft nachgelassen hatte? Davon spürte Simone nichts.
In der ersten Boutique, die sie zielstrebig ansteuerte, standen mehrere Pärchen vor den Kleiderständern und suchten offensichtlich ein passendes Outfit für die Weihnachtsfeiertage. Mindestens eine der Damen war hier in einer völlig falschen Gewichtsklasse, konstatierte Simone. Da konnte sie den Ständer noch so oft Karussell fahren lassen, sie würde nichts Geeignetes finden, es sei denn, sie wollte als rotkarierte Presswurst auftreten.
„Ich komme später nochmal rein“, zwinkerte Simone der Verkäuferin zu, die bereits verzweifelt den Kopf schüttelte, als die Kundin nach weiteren Größen fragte. Irgendwann mussten die ja aufgeben und zu Happy Size wechseln. Also erst mal ins Schuhgeschäft.
Vor dem Regal mit den Topmodellen lungerte ein genervter Teenie herum.
„Nein Mama, entweder die High Heels oder ich geh barfuß“, fast hätte das Mädel mit dem Fuß aufgestampft, befürchtete Simone.
„Kommt gar nicht in Frage“, die Nerven der Mutter lagen ebenfalls blank. „Schau doch mal, die hier sind mit Lammfell gefüttert...“
„…und sind so uncool wie noch was!“, beendete die Tochter den Satz. „Die kannste ja selber kaufen, diese langweiligen Biolatschen. Und später kannst du sie kompostieren!“ Mit dem Mädchen war nicht zu reden. Simone mischte sich ein:
„Sicher sind die besser für deine Füße. Frag mal beim Orthopäden, da kann man prima Einlagen reinpacken!“ Mutter und Tochter drehten sich um und bildeten eine gemeinsame Phalanx gegen die unerwünschte Einmischung.
„Ok, Louisa-Marie, welche wolltest du nochmal haben?“, die Mutter griff fragend nach dem schönsten Paar High Heels in Größe 38, genau das Paar, auf das auch Simone scharf war. Louisa-Marie lächelte hoheitsvoll.
„Ja, die waren es. Nur 129,- Tacken.“ Die beiden wandten sich ab und eilten zur Kasse. Die ungeliebten Biolatschen ließen sie vor dem Regal stehen. Simone zog ein langes Gesicht. Jetzt gab es die High Heels nur noch in dunkelblau. Sie hasste dunkelblaue Schuhe… Da ging sie lieber in die Buchhandlung und suchte nach den neuesten Bestsellern der Spiegel-Liste.
Ein dunstiger Geruch nach zu warm gekleideten Menschen schlug Simone entgegen. Um die Tische gruppierten sich zahllose Kaufinteressenten. Die Kinderecke war voller tobender Kinder, denen vor lauter Wärme fast der Kopf platzte. Sie kreischten, wenn sie die kleine Rutsche herunter polterten, bewarfen sich mit Legosteinen, stellten einander im Vorübergehen Beinchen – kurzum, die Zwerge waren genervt, weil ihre Erziehungsberechtigten so lange vor den Regalen abhingen.
Ein Kinderfuß traf schmerzhaft Simones Overknee. Sie packte das Kerlchen am Kragen und blickte sich um. Die Frau dort vorne, ein wenig abgehetzt und den Arm voller Bücher, schien zu dem Jungen zu passen.
„Ist das Ihrer? Können Sie den nicht mal ruhigstellen?“ Zwar hatte Simone einen Treffer in Menschenkenntnis gelandet, aber beliebt machte sie sich damit nicht.
„Lassen Sie meinen Jungen los“, zischte die Frau. „Komm, Paul-Gustav, wir gehen.“ Und dort wo sie stand, ließ sie den mühsam organisierten Bücherstapel auf einen Tisch fallen und verschwand.
„Eine Nervensäge weniger“, murmelte Simone, während ein unbekannter Aushilfsverkäufer zu ihr trat und aggressiv fragte:
„Haben Sie das hier abgelegt? Wollen Sie die Bücher nun kaufen, oder nicht? Hier kann doch nicht jeder machen, was er will.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten begann er, die Bücher wieder einzusortieren. Dabei schimpfte er leise vor sich hin, über Kunden, die sich für königliche Hoheiten hielten.
Jetzt reichte es Simone langsam. Sie würde in die Parfümerie gehen und das besorgen, was sie dringend brauchte, dann würde sie nach Hause fahren. Die Freude an einem Cafebesuch war ihr vergangen.
In der Kaufhausparfümerie war die Lage nicht besser. Das hilflose Weihnachtsgeschenk vieler Männer blieb eben doch das Parfüm für die Angetraute. Das ging schnell, man konnte es einwickeln lassen und es sah teuer genug aus, um den Grad der Zuneigung zur Liebsten zu bezeugen. Gerade säuselte ein Mittvierziger der Bedienung, einer attraktiven Blondine, zu: „Welchen Duft bevorzugen Sie denn?“ Aufdringlich schnuppernd näherte sich seine Nase dem Hals der Frau. Die wich ein Stück zurück und antwortete betont freundlich:
„Les Jeux sont faites“.
Das Spiel ist gelaufen, grinste Simone anerkennend, doch der Mann sprach offensichtlich kein Französisch. Das würde bei der Herzallerliebsten nicht gut ankommen, es war ein absoluter Herrenduft, aber der Blödmann würde es vermutlich kaufen.
Simone drehte sich zu einem Regal mit den Produkten um, nach denen sie suchte. Davor stand ein Mädchen, etwa 10 Jahre alt. Sie blickte sich verstohlen um und erkannte, dass sie beobachtet wurde. Möglichst unauffällig wechselte sie auf die andere Regalseite. Simone nahm, was sie brauchte und beschloss, das Mädchen ihrerseits im Auge zu behalten. Sie tat, als hätte sie alles und betrachtete die Auslagen. Aus dem Augenwinkel erkannte sie, dass die Kleine soeben eine Flasche „Baiser Volé“ eingesteckt hatte. Das war mehr als ein gestohlener Kuss. Etwa 150,- Euro musste man für diese geringe Menge des Eau de Parfüm berappen.
Simone trat von hinten an das Mädchen heran.
„Stell es wieder weg“, zischte sie. „Dann sag ich nichts.“
Die Kleine zuckte ängstlich zusammen. Tränen traten ihr in die Augen. Vermutlich war sie abgewichst genug, sie wie einen Wasserhahn aufdrehen zu können. Sie zog die Hand aus der Tasche, als die blonde Bedienung wie aus dem Nichts erschien. Das Mädchen ließ die Flasche zurückgleiten.
„Was hast du denn da gerade eingesteckt? Komm mal mit und leer deine Taschen aus, mein Fräulein.“ Nun war es aus. Die Kleine zitterte am ganzen Leib.
„Ich…“, mehr brachte sie nicht hinaus.
„Meine Tochter hat die Flasche nur für mich festgehalten. Wir waren gerade auf dem Weg zur Kasse.“
Simone hatte sich eingemischt, ohne zu überlegen. Da sie so selbstbewusst auftrat erhob die Verkäuferin keinen Widerspruch. Sie schob das Kind Richtung Kasse, zückte ihre EC-Karte und bezahlte den stolzen Preis.
„Packen Sie es bitte hübsch ein. Es soll ein Weihnachtsgeschenk sein!“ Simone setzte einen blasierten Gesichtsausdruck auf und nahm das eingewickelte Päckchen entgegen.
„Komm Liebling, wir sind hier fertig.“ Die Kleine realisierte kaum, wie ihr geschah und war schon draußen auf der Straße.
„Danke“, stammelte sie.
„Dafür nicht“, erwiderte Simone. Aber beim nächsten Mal solltest du dein Glück nicht herausfordern.
„Das sollte das Weihnachtsgeschenk für meine Mutter sein. Die hat Depressionen und ich hab im Fernsehen gehört, ein schöner Duft soll dagegen helfen“, versuchte das Mädchen zu erklären.
„Dann solltest du es ihr auch geben.“
„Aber das kann ich nicht annehmen.“ Ganz rot vor Verlegenheit wand die Kleine sich.
„Ich mache sonst keine Weihnachtsgeschenke“, erklärte Simone. „Du bist eine Ausnahme. Und nun verschwinde, ehe ich es mir anders überlege.“ „Und lass die Parfümerieprospekte zuhause verschwinden, damit deine Mutter nicht sieht, was es gekostet hat.“
Mit diesen Worten drehte Simone sich um und schritt durch die Fußgängerzone zum Parkhaus. Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass das Mädchen in die andere Richtung verschwand. Schenken konnte tatsächlich Spaß machen. Dafür musste sie nicht bis Weihnachten warten.
So so, ihr wollt also eine Geschichte hören? Eine Weihnachtsgeschichte? Von mir? Na die könnt ihr haben - da seid ihr bei mir genau an der richtigen Adresse! Was ich mit Weihnachten am Hut habe? Gar nichts! Wieso sollte ich auch; ich bin ja der Osterhase - womit wohl klar wäre, welches das einzig wahre Fest für mich ist! Ja, genau - Ostern!
Und doch erzähle ich euch heute die Geschichte, wie ich das Weihnachtsfest gerettet habe. Es liegt schon ein paar Jahre zurück, vielleicht auch Jahrzehnte; um ehrlich zu sein, ich hab es nicht so mit dem Zählen. Da geschah nämlich genau das, was ich immer befürchtet und prophezeit hatte: Der Weihnachtsmann war verschwunden - einfach so.
Es war dieselbe Jahreszeit wie heute: Winter. Ich hasse Winter; es ist kalt und feucht, und man hat ständig diese Eisklumpen im Fell. Deshalb habe ich es mir irgendwann zur Gewohnheit gemacht, in dieser Jahreszeit mein Quartier auf der Osterinsel aufzuschlagen: dort ist es angenehm warm, und wie schon der Name verrät, wissen die da das einzig wahre Fest der Feste richtig zu würdigen.
Es war also Anfang Dezember und ich lag bequem am Strand und schlürfte einen Eierlikör on the Rock, als ich plötzlich eine Bewegung am Himmel wahrnahm.
Zuerst dachte ich, ein Satellit stürzte ab, aber dann erkannte ich eine rote Nase mit einem Geweih darüber.
Elegant konnte man die Landung von Rudolf nicht nennen, aber Fakt ist, dass er genau vor mir zum Stehen kam und beim Abbremsen meinen schönen Eierlikör unter einem Berg von Sand begrub. Ich kann Rentiere nicht sonderlich gut leiden, und die vom Weihnachtsmann hab ich erst recht gefressen. Ich frage euch: Kennt ihr einen meiner Helfer mit Namen? Osterhase Manni, der für den Eiertransport zuständig ist? Oder Paul, Fred, Erwin? Nein?
Aber die Rentiere vom Weihnachtsmann - deren Namen kann jedes Kind im Schlaf aufzählen! Merkt ihr was? Diese Unausgeglichenheit zwischen den Festen? Soll ich euch verraten warum das so ist? Dieses ganze Tohuwabohu um das sogenannte Fest der Liebe ist einzig und allein dafür da, um die dilettantische Arbeitsweise des Weihnachtsmannes zu kompensieren.
Aber lassen wir das Thema. Ihr wollt ja die Geschichte hören.
Rudolf war also den weiten Weg vom Nordpol zu mir geflogen, um mich zu bitten, den Weihnachtsmann zu retten. Er berichtete mir aufgeregt, dass der Weihnachtsmann von militanten Hobbits entführt worden sei, und dass nur ich seine Freilassung erwirken könne. Sie hätten einen Erpresserbrief hinterlassen, indem sie ausdrücklich von mir persönlich 10 kg Ostergras im Tausch gegen den Weihnachtsmann verlangten. Mit dem Ostergras planten sie angeblich ihr wohl bekanntes Pfeiffenkraut zu verfeinern.
Wollt ihr wissen, wie ich da reagiert habe?
Ich kugelte mich vor Lachen im Sand!
Militante Hobbits?! Pfeiffenkraut? Da hatte wohl jemand zu oft "Herr der Ringe" gekuckt und Fiktion mit Realität verwechselt. Ich gebe ja zu, dass auch ich das Ostergras schon gelegentlich als Genussmittel genutzt habe, aber das möchte ich hier jetzt nicht weiter ausführen.
Und überhaupt - wer würde schon den Weihnachtsmann entführen? Habt ihr eine Ahnung, wie viel Kilo Kekse und wie viel Liter Milch der Dicke in einer einzigen Nacht vertilgt? Kein Entführer kann sich so ein Opfer leisten.
Mir war also sofort klar, dass die Sache nicht koscher war, weshalb ich dem verwirrten Rudolf freundlich klar machte, dass ich keineswegs vor hatte, diese lächerlichen Forderungen zu erfüllen. Mir war egal, was der Weihnachtsmann da für ein krankes Spiel spielte, ich wusste nur, dass ich, der Osterhase, da nicht mitpielen würde - dazu war ich zu schlau!
Womit ich aber nicht gerechnet hatte, war, dass Rudolf noch einen Joker in seinem Geschirr stecken hatte, eine Schriftrolle mit einem roten mächtigen Wachssiegel.
Ehrfürchtig und mit einem mulmigen Gefühl nahm ich diese entgegen, brach das Siegel und las den Text. Wie ich schon befürchtet hatte, war es eine Anordnung von gaaaanz oben, und wenn ich nicht sowieso schon ein weißes Fell hätte, dann wäre ich beim Lesen sicher erblasst. Unser aller oberster Chef verlangte doch tatsächlich von mir, den Weihnachtsmann auszuspüren, oder aber an seine Stelle zu treten. Mir brach der Angstschweiß aus, bei dem Gedanken, mit dem Rentierschlitten durch die Lüfte zu rasen und meinen Körper durch schmutzige Kamine zu zwängen. Diesen Dreck würde ich wochenlang nicht mehr aus dem Fell bekommen!
Mir blieb also gar nichts anderes übrig, als den Dicken aufzuspüren.
Über meinen Transfer zum Nordpol möchte ich jetzt nicht reden, schließlich habe ich ja schon erwähnt, wie ich zu Rentieren und der weißen Jahreszeit stehe.
Dort angekommen machte ich mich jedenfalls sofort daran, den "Tatort" zu inspizieren - und siehe da, der vermeintliche Erpresserbrief war voll mit Kekskrümeln; und daneben stand ein leeres Milchglas. Für mich war sofort klar,
der Weihnachtsmann hatte sich selbst entführt. Aber warum? Und was mich noch viel mehr interessierte: Wohin?
Ich beschloss systematisch vorzugehen. Mein Blick glitt noch einmal bewusst über das Arbeitszimmer des Weihnachtsmannes; mein dicker Freund hatte sich wirklich Mühe gegeben: Der Schreibtischstuhl war umgeworfen, und überall im Raum lagen verstreut Wunschzettel auf dem Boden. Zuletzt besah ich mir noch einmal den Brief:
"Wenn ihr euren Weihnachtsmann zurück haben wollt,
sorgt dafür, dass der Osterhase persönlich binnen
drei Tagen ZEHN Kilogramm Ostergras unter dem Tannenbaum
auf dem Gipfel des Weihnachtsberges deponiert.
Wir mischen das Ostergras unter unser Pfeiffenkraut
und verpassen uns damit voll die Dröhnung!
.....gezeichnet - Die militanten Hobbits"
Schmunzelnd legte ich den Brief zurück und schüttelte mir die Kekskrümel von den Pfoten. Dann beschloss ich, diesem ersten Hinweis zu folgen und in der Weihnachtsbäckerei mit meinen Ermittlungen zu beginnen. Wie ich schon vermutet hatte, bestätigte man mir dort, dass vor zwei Tagen zusammen mit dem Weihnachtsmann auch vier große Truhen köstlicher Weihnachtsplätzchen verschwunden waren; außerdem wurden zwei Paletten volle Milchflaschen vermisst. Ab da war mir klar, dass der Gefräßige einen Komplizen haben musste; wie sonst sollte er diesen Proviant fortgeschafft haben? Die kleinen Helferwichtel schloss ich gleich mal aus. Sie waren viel zu schwach. Der Weihnachtmann hätte dutzende von ihnen gebraucht, und das wären zu viele Mitwisser gewesen. Also fiel mein Verdacht automatisch auf die größten, stärksten und flinkesten Helfer des Weißbartes: seine Rentiere.
Da es schon langsam dämmerte, traf ich Rudolf und seine acht Kollegen im Stall an der Krippe an. Ich bat als erstes Dasher mit vor die Tür, um ihm unter vier Augen ein paar Fragen zu stellen; er hatte allerdings ein wasserdichtes Alibi: Er und Vixen seien diese Woche für den Winterdienst eingeteilt und räumten täglich mit dem Schneepflug die Wege im Weihnachtsdorf. Da es hier ja ca. 24 Stunden am Tag schneite, war mir klar, dass die beiden bei dieser Arbeit nicht die Möglichkeit hatten, abzuhauen. Als nächstes nahm ich mir den überheblichen Blitzen vor; aber auch er war mit wichtigen Aufgaben betraut. Zusammen mit Dancer sei er diese Woche zuständig, die Backstube mit Brennholz zu versorgen. Blieben also nur noch vier Verdächtige: Donner, Comet, Cupid und Prancer. Und siehe da, Donner war verdächtig nervös, als er mir berichtete, mit Comet ein paar Probeflüge mit dem Schlitten unternommen zu haben; aber nicht weit; nur südlich vom Weihnachtsdorf ein paar Runden. Sofort nahm ich Comet ins Kreuzverhör. Dieser scharrte nervös mit den Hufen, als er ebenfalls von Probeflügen berichtete, allerdings nördlich vom Dorf.
Mir war klar, ich hatte meine Komplizen des Abtrünnigen gefunden, aber mir war auch bewusst, dass diese dickköpfigen Wesen ihren Boss niemals verraten würden: aber das war auch gar nicht nötig. Ich behielt meine Erkenntnisse für mich, befragte noch schnell die zwei übrigen Huftiere, die in dieser Woche im Postdienst tätig waren und machte mich dann unauffällig auf den Weg zum Weihnachtsschlitten.
Schnell hatte ich den Flugschreiber ausfindig gemacht, und nachdem ich ihn mit meinem O-Phone gekoppelt hatte, war die letzte Route im Nu rekonstruiert.
Früh am nächsten Tag schnappte ich mir Dancer, Cupid und natürlich Rudolf, um mich mit dem Schlitten auf den Weg zu machen; Rudolfs Nase glühte vor Vorfreude endlich seinen Herrn und Meister wieder zu sehen.
Nach kürzester Zeit flogen wir auch schon über Island hinweg. Ich ließ die drei Geweihträger langsam gleiten und erforschte die Gegend. Laut Fahrtenschreiber musste es hier irgendwo sein, doch ich sah überall nur nackten kargen Fels und kleine runde Wasserlöcher. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wieso sich der Weihnachtsmann hierher zurückgezogen haben sollte. Meine Hoffnung begann zu schwinden, und ich sah mich schon die rußigen Kamine runterklettern, als ich plötzlich etwas Rotes in dieser trostlosen Gegend sah. Ich lenkte das Gefährt in diese Richtung, und beim Näherkommen erkannte ich ihn. Der Weihnachtsmann saß entspannt in einer heißen Quelle, die rote Zipfelmütze auf dem Kopf und ein Cocktailglas in der Hand. Ich wollte zur Landung ansetzen, doch die drei Rentiere stoppten mitten in der Luft und legten die Ohren an. Ich sah, wie das Wasser nicht mehr nur dampfte, sondern zu blubbern anfing; der Freund aller Kinder stellte sein mit einer weißen Flüssigkeit gefülltes Glas zur Seite und positionierte sich in der Mitte der Wasserlochs. Und dann geschah es: Eine gewaltige Wasserfontäne schoss hoch in die Luft und oben drauf saß der Weihnachtsmann. Dieses Bild wollte ich eindeutig nicht sehen. Den Weihnachtsmann in einem knallroten eng anliegendem Männerbadeanzug mit freiem Blick auf die behaarte Männerbrust, und der Bauch zeichnete sich ab wie eine halbe Wassermelone. Aber es war wie bei einem Verkehrsunfall - man will es nicht sehen, aber man kann auch nicht wegschauen. Dann vernahm ich über dem Wasserrauschen seine Stimme. Er grölte und jauchzte und freute sich wie ein Kind auf der Schaukel. Dann war es mit einem Schlag vorbei, als wenn jemand den Hahn abgedreht hätte war das Wasser weg, und mit einem gewaltigem Platsch landete der Dicke wieder in dem qualmendem Geysir.
Wir landeten mit etwas Sicherheitsabstand und ich schritt energisch auf das angebliche Entführungsopfer zu. Ich war sowas von geladen. Ein ganzes Dorf machte sich Sorgen um ihn, und ich wurde aus meinem Winterdomizil abberufen, weil ER Lust auf ein kleines Blubberbad hatte. Doch dann sah ich seinen Blick. Er sah mich an, wie ein kleines Kind, dass beim Naschen erwischt wurde. Also schluckte ich meinen Zorn herunter und setzte mich an den Rand des natürlichen Beckens. Da mir vom Fliegen in frostiger Höhe eiskalt war, streckte ich meine Hinterläufe ins dampfende Wasser und genoss, wie die Wärme langsam durch meine Glieder kroch. Mit einem Kopfnicken bedeutete ich dem Weihnachtsmann seine Erklärung vorzubringen.
Er schilderte mir dann auch ziemlich ausführlich seine Beweggründe, die ihn zu diesem Schritt gedrängt hatten, aber euch will ich mit Details verschonen. Die Gemütsverfassung des Weihnachtmannes lässt sich kurz und knapp mit zwei Worten erklären:
burn out.
In der heutigen Zeit kennt jeder diesen Begriff, ist burn-out doch quasi zur Volkskrankheit Nummer eins mutiert. Der ein oder andere unter euch schüttelt nun vielleicht verständnislos den Kopf und denkt, wie kann man überlastet und ausgebrannt sein, wenn man nur einen Tag im Jahr richtig arbeiten muss. Aber ich sage euch, gerade deswegen ist es verständlich! Ein Arbeiter, der täglich unter Stress und Hektik seine Arbeit erledigt, kommt oft besser damit zurecht als ein Arbeiter, der täglich vor sich hin trödelt und plötzlich mit einem riesen Projekt gefordert wird.
Der Weihnachtsmann sah mich nun mit einem herzerweichenden Hundeblick an, und ich wusste, ich musste ihm helfen.
Eine Woche später liefen im Weihnachtsdorf die Vorbereitungen für das große Fest auf Hochtouren. Plätzchen wurden gebacken, Briefe gelesen und Geschenke verpackt. Eine ganze Kolonne Osterhasen sorgte gemeinsam mit den Weihnachtswichteln, dass der weihnachtliche Zeitplan eingehalten werden konnte, und an Weihnachten wurden wie gewohnt sämtliche Geschenke termingerecht ausgeliefert.
Dem Weihnachtsmann ist wieder bewusst geworden, wie wichtig sein Job für die Kinder dieser Welt ist, und da uns diese Geschichte doch irgendwie zu Freunden hat werden lassen, feiern wir seither jedes Jahr gemeinsam an einem geheimen Ort Silvester, und lassen es richtig krachen.
Tja, das war also die Geschichte, wie ich das Weihnachtsfest gerettet habe.
Und es wäre ja keine kluge Geschichte, wenn sie keine Moral hätte...
Die Moral von meiner Geschichte ist:
Wenn ein Kollege mal deine Hilfe braucht, dann sorge entweder dafür, dass er dich nicht findet, und wenn doch dann bestehe darauf, hinterher so richtig die Sau raus zu lassen.
In diesem Sinne wünsche ich euch frohe Weihnachten. Man sieht sich dann zu Ostern.
Texte: morire, webmaus und khan0407
Bildmaterialien: DerRigorMortis
Tag der Veröffentlichung: 21.12.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Die drei Gewinner-Beiträge des anonymen Weihnachtswettbewerbs 2012