Wie spät es wohl war? In den letzten Minuten, Stunden, Tage, habe ich wohl mein Zeitgefühl verloren. Mein Gehirn ist schon ein komischer Organismus. Gerade einmal nach so kurzer Zeit, oder doch etwas länger, keinem äußerlichen Reiz ausgesetzt, und schon wird man verrückt. Obwohl ich es doch lieber als verwirrt und vergesslich ausdrücken will. Der Kopf schaltet einfach ab, und dann sitzt man hier, verloren in seinem dunklen, leeren Geist. Als sie mich holten, hatte ich noch große Angst, und ich zitterte am ganzen Körper wie ein Erdbeben der oberen Stärkeskala. Ich wusste nicht, was sie von mir wollten. Wollten sie mich töten? Wollten sie meinem erfüllten Leben ein Ende bereiten? Ich lache innerlich. Zuerst hielt ich an so vielen Erinnerungen fest, und jetzt waren sie einfach weg. Ich weiß nicht mehr, ob ich ein erfülltes Leben habe und meine Angst wurde ebenso von der Dunkelheit verschlungen. Jede Minute, die verstrich, in der mich der Tod doch nicht ereilte, stumpfte mich weiter ab. Was hab ich bloß gemacht, bevor sie mich in den schwarzen Van zogen? Wo wollte ich hin - und zur Hölle, wieviel Zeit war seitdem vergangen? Keiner verhört mich, keiner spricht mit mir, und keiner sagt mir die Uhrzeit. Durch die Augenbinde sehe ich nicht einmal ob gerade Tag, oder Nacht ist. Meine Lippen sind trocken. Ich versuche sie mit meiner Zunge zu befeuchten. Erfolglos! Mein ganzer Mund ist zu trocken. Meine Zunge reibt, wie Sandpapier, nur einige Hautfetzen ab. Langsam sollten sie mir wieder etwas zu trinken bringen. Es kam immer mal jemand rein, der nichts sagte, aber mir irgendetwas Essbares in den Mund schob, oder Flüssigkeit über eine metallische Röhre gab. Meistens leider nur Wasser. Ich denke ich hasse Wasser, danach grummelt mein Magen immer so. Wären wir in einem Hotel, würde ich mich beschweren, aber leider hab ich wohl irgendwo falsch eingecheckt. Ich lache laut. Nur kurz, bis mich ein trockener Husten überfällt. War das meine Stimme? Hörte sie sich wirklich so an? Zur Überprüfung sage ich das Alphabet einmal auf.
>> A.. B.. C.. D.. E.. F.. G.. I.. J.. L ... <<
Moment, das hört sich irgendwie falsch an. Ich glaube der Teil meines Denkapparats ist auch schon abgeschaltet. Glücklicherweise fällt mir eine Werbemelodie ein, vielleicht war ich eine große Sängerin. Ich presse meine Lippen zusammen und summe die Melodie vor mich her.
>> Summ, Summ, Summ, … Waschmaschinen leben länger mit Calgon! <<
schießt es aus mir heraus. Wie komme ich jetzt bloß darauf? Ich rutsche ein wenig auf dem Stuhl herunter. Die Stricke, um meine Handgelenke und Beine, ziehen sich stramm. Meine Gliedmaßen geben mir sofort das Signal nicht weiter zu rutschen, indem sie mir unendliche Schmerzen bereiten. Meine Fesseln schneiden mir nicht mehr in die Haut, sie schneiden mir direkt ins Fleisch. Ich wünschte, ich würde wissen, wo ich bin. Manchmal höre ich wie Holz knarrt, eine Tür zufällt, oder ein leises Klopfen. Diese Geräusche sind aber so selten zu vernehmen. Es ist, als wenn man die ganze Woche auf die Ausstrahlung seiner Lieblingsserie wartet und dann ist sie auch schon wieder vorbei. Ich seufze mit meiner inneren Stimme. Ein anderes wundervolles Geräusch kommt näher, und zwar Schritte. Ihr dumpfes Auftreten kommt näher und näher. Eine Tür schwingt auf, ein Luftzug streift mein Gesicht und jetzt kann ich sie ganz klar vernehmen. Der Boden vibriert unter ihrem Druck und wird freudig von mir wahrgenommen. Ein metallisches Rohr wird unsanft in meinen Mund geführt und ich sauge daran. Wasser dringt in meinen Mundraum und befeuchtet auch meine trockenen Lippen. Nach einer viel zu kurzen Erfrischung erhalte ich nur noch Luft durch meinen Strohhalm. Er wird meinem Mund entrissen. Ein leises Stöhnen erklingt und mein wasserbringender Besucher entfernt sich wieder von mir. Ich zähle seine Schritte: "Eins, zwo, drei, vier, …"
>> Danke … <<
Der Unbekannte unterbricht seinen Gang, aber es bleibt seine einzige Reaktion, bevor er seinen Weg wieder aufnimmt. Ich führe meine Zählung fort: "fünf, sechs …!" Die sechs Schritte entfernte Tür schwingt erneut auf, und ein Windzug trifft mich im Gesicht. Ich höre noch zehn weitere Schritte, bevor die beständige Stille den Raum wieder einnimmt. Ich kann nicht mehr. Ich bin erschöpft. Ich bin müde. Ich bin gezwungen zu schlafen.
Es ist ein komisches Gefühl zu erwachen, die Augen zu öffnen und man sieht nur Dunkelheit. Nach dem Schlaf fühle ich mich nie sehr erholt. Wie auch? Ich merke kaum den Unterschied zwischen den beiden Zuständen. Ich bin so schwach, meine Arme baumeln leblos an mir herunter. Ich schwinge sie ein wenig, um wieder Gefühl in meinen Fingern zu bekommen. Moment - sie sind frei! Die Fesseln waren verschwunden. Meine Hände reißen mir abrupt die Binde vom Kopf. Grelles Licht blendet mich. Ich drücke die Augenglieder zusammen und wage erst nach mehreren Minuten sie ganz zu öffnen. Langsam und zaghaft. Zum ersten Mal offenbart sich mir mein Gefängnis. Ich sitze auf einem alten braun lackierten Stuhl, vor mir liegen lange Stricke, die wohl vor Kurzem noch meine Füße fesselten. Sie sind durchgeschnitten. Ich möchte aufstehen und mich umsehen. Meine Beine richten mich auf. Sie zittern. Habe ich sie jemals benutzt? Sie fühlen sich so fremd an. Ich schaue mich um. Mein Gefängnis besteht aus zwei Fenstern, einem Spiegel und einem alten Schreibtisch in der Ecke. Die Fenster sind durchzogen mit metallischen Streben und das Glas wurde mit schwarzer Farbe überstrichen. Sie erinnern mich an Fenster einer Fabrik. An ihren Rändern kann ich Licht erkennen, aber ich kann nicht durch sie hindurchsehen. Der Schreibtisch scheint aus massiver Eiche zu sein. Er ist mit einer dicken Staubschicht überzogen. Ich öffne seine Schubladen. Suche nach irgendwas, aber sie sind fast alle leer, nur in einer einzigen liegt eine Zeitung vom 24. Oktober 1986. Ihr Papier fühlt sich trocken und spröde an. Die Titelstory der Zeitung ist: „Jessica Stutebäcker(18) - immer noch vermisst!", daneben ein vergilbtes Bild mit der besagten Person. Sie hatte lange schwarze Haare, eine kleine Nase und eine zu hohe Stirn. Sie kam mir vertraut vor. Ich lese mir den Artikel durch und laufe dabei im Raum auf und ab.
Jessica Stutebäcker(18), die Tochter von Henry Stutebäcker, ist am 18. Oktober 1986 in der Nähe vom väterlichen Fabrikgelände verschwunden. Inzwischen sind über 500 Polizisten und 200 Freiwillige damit beschäftigt, die junge Dame im umliegenden Gelände zu suchen. Neben der Möglichkeit eines Gewaltverbrechens hat die Polizei das Szenario einer Entführung noch nicht komplett ausgeschlossen. Wenn sie Hinweise zum Verbleib von Jessica Stutebäcker haben, wenden sie sich bitte an die zuständige Dienststelle. Aktenzeichen „AZ9342“
Ich wende meinen Blick von der Zeitung ab und sehe eine junge Dame, die mich anschaut. Sie hat eine kleine Nase, eine zu hohe Stirn und lange schwarze Haare. Ihre braunen Augen scheinen mich zu durchbohren. Sie wirken so leblos. Ich gehe auf Sie zu und sie tut es mir gleich. Es ist keine andere Frau im Raum. Sie ist nur mein Spiegelbild, und ich stelle fest: „Ich bin Jessica." Mir wird schwarz vor Augen, und neue Erinnerungen schießen mir wie Blitze in den Kopf. Ich war … Nein, ich bin Jessica Stutebäcker. Henry Stutebäcker ist mein Vater und wir leben in einem großem weißem Fachwerkhaus in der Nähe von unserer Fabrik. Mein Vater …, ich meine …, wir stellen Kunststoff her und ich bin kurz vor meinem Abitur. Während meiner Euphorie über die neu gewonnenen Erinnerungen trifft mich ein altbekannter Freund. Ein Windzug streift mein Gesicht. Die Tür zu meinem Gefängnis ist einen Spalt geöffnet, durch den Licht in den Raum dringt. Jetzt kommt auch ein anderer alter Bekannter zu Besuch. Meine Angst ist wieder da. Sie kriecht wie eine gefrorene Schnecke an meinem Bein hoch. Ich reiße mich am Riemen. Angst kann ich mir jetzt nicht leisten. Ich schleiche zur Tür und blicke durch den Spalt. Hinter ihm liegt ein langer Flur an dessen Decken viele Trichterlampen hängen. Einige sind erleuchtet, andere flackern beängstigend und der überwiegende Teil ist einfach nur schwarz. Ich lausche nach Geräuschen. Die Luft scheint rein zu sein. Ich drücke die Tür auf und trete hindurch. Der lange Gang scheint in beide Richtungen kein Ende zu haben. Doch, da! Am einen Ende flackerte gerade eine Deckenlampe und erhellt damit kurz eine Tür. Ich gehe vorsichtig den Flur entlang. Bedächtig darauf, keine unnötigen Geräusche zu erzeugen. Ich passiere dabei einige Büros, die anscheinend schon seit Jahren leer stehen. Sie sind spärlich möbliert und die Tapeten hängen nur noch als Fetzen an ihren Wänden. Ein Windstoß versetzt die Tapetenreste in gespenstige Schwingung. Mein Rücken wird von einem kalten Schauer heimgesucht. Ich höre einen lauten Knall und drehe mich um. Am anderen Ende des Flurs steht plötzlich der Schatten eines Mannes. Er trägt einen langen dunklen Trenchcoat und eine Kopfbedeckung, die ich nicht genau erkennen kann. Obwohl er direkt unter einer flackernden Lampe steht, kann ich sein Gesicht nicht sehen. Ich spüre aber seinen Blick auf meinem Körper. Er setzt zum Sprint an. Ich wende mich von ihm ab und renne den Flur entlang. Ich habe keine Zeit mich umzudrehen, aber ich spüre ihn in meinem Nacken. Er kommt mir näher. Es ist, als würde er mich zu sich ziehen, als wenn sein Atem an mir saugt und ich keine Chance mehr habe von der Stelle zu kommen. Die Tür - ich erreiche die Tür und drücke sie auf. Es ist das Treppenhaus. So ein Glück. Ich springe die Stufen hinunter und höre, wie die Tür über mir zuschlägt. Ich befinde mich im siebten Stock, sechster Stock, fünfter Stock, die Tür öffnet sich und schlägt wieder zu. Scheiße, er hat das Treppenhaus auch erreicht. Ich keuche schwer und stoße die Tür im Erdgeschoss auf. Ich bleibe für eine Sekunde erschrocken stehen. Vor mir tut sich eine große leere Fabrikhalle auf, vereinzelt stehen noch Regale an den Wänden, die überwiegend aber leer sind. Ich erkenne ein großes Tor, es ist zur Hälfte geöffnet und ich sehe Sterne durch die Öffnung. Da geht es nach draußen. Ich mobilisiere meine Kräfte und lege erneut einen Schnellstart hin. Als ich die Mitte der Halle erreiche, wage ich einen Blick über meine Schulter. Der Schatten ist schon hier. Er hat den Abstand zu mir halbiert. Ohne es zu wollen, weine ich. Ich möchte nicht wieder in den Raum. Ich möchte nicht wieder gefesselt sein. Mein Tempo zieht an. Ich durchlaufe das Tor und über mir erstrahlt der Sternenhimmel. Es ist Vollmond. Ich renne ziellos weiter geradeaus, bis ich das Zugangstor zum Hof erkennen kann. Eine rot-weiße Schranke lässt ihn mich erkennen. Ich fixiere mein neues Ziel. Es muss vor Kurzem geregnet haben, der Boden ist schlammig und zieht an meinen Schuhen. Ein Blick zurück lässt mich erschaudern. Die Gestalt ist noch näher gekommen, nur noch wenige Meter trennen uns voneinander. Mir fehlt die Kraft. Ich kann nicht mehr ... Nein! Ich will nicht. Ich muss es schaffen. Ich spüre seine Hand an meinem Arm, höre seinen keuchenden Atem hinter mir. Ich stürze durch das Zugangstor. Bitte, bitte tun sie mir nichts. Ich liege schluchzend auf dem Boden und es passiert nichts. Hinter mir war kein Verfolger mehr. Er war einfach verschwunden. Ich sammle meine Gedanken und stehe auf. Wo war er nur hin? Ich blicke zurück aufs Fabrikgebäude. Alle Fenster sind verdunkelt und nur vereinzelt kann ich das Flackern der Flurlichter wahrnehmen, durch den ich gerade noch geflohen war. Ich glaube in einem Büro, am rechten Ende des Gebäudes, hat sich gerade etwas bewegt. Ich kneife meine Augen zusammen und versuche in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Für den Bruchteil einer Sekunde erhellt sich das Büro und gibt die Silhouette einer Person wieder. Ich falle vor Schreck über meine eigenen Beine nach hinten. Durch den Sturz fällt mein Blick genau auf das Eingangsschild der Fabrik, auf dem mein Nachname geschrieben steht. Dies ist die Fabrik meines Vaters. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich weiß ganz genau, wo ich bin. In der Nähe wohnen ich und meine Eltern. Ich laufe den mir bekannten Weg nach Hause. Weinend vor Glück, meine Eltern wiederzusehen, frei zu sein, aus dem Albtraum endlich raus zu sein. Ich biege in unsere Straße ein, sehe unser Haus, stelle mich auf unsere Veranda und drücke die Klingel. Das Verandalicht geht an und mein Vater öffnet die Türe einen Spalt breit. Er sieht schrecklich aus, wahrscheinlich weil er sich so viele Sorgen um mich gemacht hat. Seine blassen Augen schauen kurz in die Dunkelheit, und bevor ich reagieren kann, schließt er den Spalt wieder. Ich schreie die geschlossene Tür an, aber erhalte keine Reaktion. Das Verandalicht erlischt. Hat er mich vergessen, liebt er mich nicht mehr? Ich weine und senke den Blick. Auf der Fußmatte liegt eine Zeitung und ein kleiner Artikel fällt mir direkt ins Auge:
„Nach einer gescheiterten Lösegeldübergabe, auf dem Stutebäcker Fabrikgelände, versuchte ein Tatverdächtiger in einem schwarzen Van zu fliehen. Nach wenigen Metern verlor er die Kontrolle über sein Fahrzeug und kollidierte mit einer Absperrung auf dem Fabrikgelände. Der Treibstofftank des Fahrzeugs entzündete sich aus unerklärlichen Gründen und verbrannte ihn und eine weibliche Person bis zur Unkenntlichkeit. Der pathologische Befund der weiblichen Insassin wies darauf hin, dass es sich bei ihr um die vermisste Jessica Stutebäcker handelte. Heute gedenken wir an diesen tragischen Tag, der sich vor …“
Mein Atem stockt. Ich versuche die Zeitung aufzuheben, aber meine Hände gleiten nur durch sie hindurch. Das kann nicht sein. Meine Haut fühlt sich an, als wenn sie brennt. Ich verbrenne bei lebendigem Leib … Der Schmerz ist zu intensiv. Ich falle auf meine Knie und stütze mich mit meinen Händen vom Boden ab. Mit meiner letzten Kraft starre ich auf das Datum der Tageszeitung:
„31. Oktober 2011"
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Tag der Veröffentlichung: 02.09.2012
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