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Der Tag begann früher als gewöhnlich. Nebenan röhrte eine altersschwache Bohrmaschine. In Carolas Träumen entsprach dieser Lärm einem röhrenden Hirsch mitten in der Brunftzeit.

Sie saß auf einem Hochsitz, das Jagdgewehr im Anschlag. Aufmerksam war ihr traumferner Blick auf die Linie des Waldes gerichtet. Von dort kam das Geräusch, da war Carola sicher.

Suchend starrte sie durch das Zielfernrohr, bemüht, jede noch so kleine Bewegung am Waldrand wahrzunehmen. Da – sie konnte ihn sehen. In ihrem Fadenkreuz erschien ein wunderschöner Hirsch, ein Vierzehnender, der seinen Hals gen Himmel streckte und dieses unheimliche Geräusch ausstieß, das Carola im Traum verfolgte. Sie würde ihm den Garaus machen, hatte sie beschlossen. Der Zeigefinger schwebte über dem Abzug. Er war das einzige Körperteil Carolas, das sich jetzt Millimeter um Millimeter bewegte. Kaum hatte sie die Rundung berührt, hörte sie den Schuss, der wie von einem tausendfachen Echo multipliziert, durch den Wald schallte.
Der Hirsch verharrte einen Augenblick stumm. Zuerst brachen seine Vorderbeine ein, bevor er schwer zur Seite fiel und mit einem letzten, vernehmbaren Laut verstummte.

Jetzt hatte sie ihre Ruhe. Nachdem Carola den Traumhirschen per Blattschuss in einen ewigen Schlaf geschickt hatte, tauchte sie aus ihrer schläfrigen Trance auf und stellte fest, dass sie im Bett hockte, statt unter den Kissen zu liegen. Ihre Arme waren in einem 90° Winkel erhoben, als wenn sie eine Waffe hielten, die zur Wand der Nachbarwohnung ausgerichtet war.
Von dort war kein Laut mehr zu hören. Der Bohrer, der in Carolas Träume eingedrungen war, war verstummt. Verstummt für immer, aber davon konnte Carola nichts wissen. Es folgte ein unterdrückter Ausruf, den sie ebenso in ihre Träume eingeordnete hatte, wie den vorangegangenen Schuss. Dann war es wieder totenstill.

Sie ließ langsam die steif gewordenen Arme sinken und betrachtete sich im Spiegel ihres Kleiderschranks. Was sie sah, war zu der frühen Uhrzeit Normalität. Zerzaustes blondes Haar, durchzogen mit grauen Strähnen, stand von ihrem Kopf ab. Ihre im Ansatz schlaffe Gesichtsmuskulatur wirkte bei dem Licht der Morgendämmerung ebenso grau. Ihr geblümtes Baumwollnachthemd hing locker um ihren Oberkörper und verbarg all die Kurven, die ihr das Leben schwer machten. Langweilig – konstatierte sie das, was sie sah, ließ sich
auf den Po niedersinken und kletterte umständlich aus dem Bett.

Die ungewohnte Haltung während des Traumes machte ihre ersten Schritte schwerfällig und es war, als schleppte sich Carola, gezogen von einem imaginären Schwerlaster, in ihr Bad.
Im Vorübergehen fiel ihr Blick auf den Wecker. 6:05 Uhr. Viel zu früh. Sie musste erst um 8:00 Uhr am Schreibtisch im Finanzamt sitzen. Missmutig schleuderte sie die Pantoffeln von den Füßen, dass sie im hohen Bogen gegen die geflieste Badezimmerwand prallten.

So viel Temperament war für Carola untypisch. Sie war die nüchterne und stets gelassene Beobachterin des eigenen Lebens. Sie sah von außen auf ihre Umgebung, wie bei einem langweiligen Film, bei dem man zu faul war, endlich nach der Fernbedienung zu greifen und umzuschalten. Der Duschvorhang verbarg Carolas nackte und ungeliebte Üppigkeit vor ihren eigenen Blicken im Spiegel über dem Waschbecken. Mit dem herabrinnenden Wasser aus der Dusche vertrieb sie die letzten Spuren der unfreiwillig unterbrochenen Nacht.

Carola wickelt sich das Handtuch um die Hüften und tapste mit nassen Füßen zurück ins Schlafzimmer. Sie öffnete den Kleiderschrank und wählte ein mausgraues Ensemble aus Tweed. Dazu nahm sie eine schwarze Bluse. Schwarz machte schlank. Das einzige, was an Carola außergewöhnlich war, war die seidene Spitzenunterwäsche, die sie trug.
Das veränderte weder ihren Weltblick, noch den Blick, den die Welt für sie erübrigen konnte.
Seit sie das Bett verlassen hatte, waren wenige Minuten vergangen. Der Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es erst 6:20 Uhr war. Immer noch viel zu früh, wenn man mit sich nichts anzufangen wusste.

Jetzt horchte Carola auf. In der Ferne vernahm sie das Martinshorn eines Rettungswagens, der sich mit hoher Geschwindigkeit zu nähern schien. „Wo der so früh hin will?“, fragte sie sich. „Ein armer Teufel mehr, dahingerafft von einem unerwarteten Infarkt“, vermutete sie. Das Geräusch wurde lauter und sie trat ans Fenster. Auf dem Parkstreifen kamen ein Rettungswagen und ein Streifenwagen gleichzeitig mit quietschenden Reifen zum Stehen. „Polizei?“

Trappelnde Füße im Hausflur rannten die Treppen hinauf und kamen in ihrer Etage zum Stillstand. Carola stand halbnackt in der Diele, das rechte Ohr an die Wohnungstür gepresst. Der BH baumelte ihr unverschlossen auf den Schultern.
Ein Klopfen hörte Carola nicht, lediglich die Stimme von Frau Kaminski und einen tieftönenden Bass, dessen Besitzer sich als Kripobeamter vorstellte. Was hatten Kaminskis angestellt? fragte sie sich. Der Kontakt zu den Nachbarn war von Unverständnis geprägt und man gönnte sich keinen Gruß, wenn man im Hausflur aufeinanderstieß.

Carola war sicher, dass auch die Eheleute nicht miteinander sprachen. Aus der Wohnung nebenan drang selten ein Laut, trotz der dünnen Wände aus Rigips.
Sie gehörte zu den Menschen, die Kaminski gerne als Zielscheibe missbrauchte.
„Finanzbeamtin. Steuern eintreiben und dann selbst aus dem großen Topf kassieren.“, schimpfte er, wenn er über Carola sprach. „Alles Blutsauger, einer wie der andere, und die Alte gehört dazu.“ Kaminski legte Wert darauf, dass Carola in Hörweite war, wenn er seine Bosheiten von sich gab. Kein Wunder, dass sie ihn nicht mochte. Und die Frau war kein Deut besser. Stets lief sie mit niedergeschlagenem Blick herum. Wer weiß, wie es um die Ehe der beiden stand. Vielleicht hatte der Mann sie tätlich angegriffen und die Frau hatte die Polizei gerufen. Auf Kaminskis aggressives Geschrei wartete Carola vergebens.

Carola hatte keine Lust mehr zu lauschen. Lieber wollte sie sich jetzt langsam ankleiden und das Haus verlassen. Sie wollte nicht in irgendwelche Dinge hineingezogen werden. All die Überlegungen, was nebenan geschehen sein mochte, ließen sich nicht gleich abstellen. Sie belagerten ihre Gedanken, während sie langsam die Strümpfe hochrollte und in Bluse, Rock und Tweedblazer schlüpfte.

Carola schüttelte die Kissen auf.
Einen Moment lang hielt sie inne. Da war etwas mit einem metallischen Klicken auf den Boden gefallen. Carola ließ sich auf die Knie herabsinken und tastete mit den flachen Händen über das Laminat. Mit den Fingerspitzen erfühlte sie einen kleinen Gegenstand, den sie zu sich heranzog. Eine Patronenhülse, stellte sie erstaunt fest. Sie hockte dort am Boden und umschloss sie fest mit der rechten Hand. Ihr Blick fiel auf die Wand zur Nachbarwohnung. Darin waren zwei kleine Löcher, direkt unter dem Bild von ihrem Heimatdorf in der Eifel, das dort hing. Und während sie erstarrte, klopfte es an ihre Wohnungstür.

„Frau Gellingsdorf, machen Sie bitte auf? Hier ist die Kriminalpolizei. Wir hätten da ein paar Fragen an Sie.“
Stöhnend erhob sich Carola und ging zur Tür. Mit der Hand umschloss sie fest die leere Patronenhülse. Sie öffnete und sah sich zwei Männern gegenüber, die ihr ihre Ausweise entgegenstreckten.
„Wir müssen mit Ihnen reden. Ihr Nachbar, der Herr Kaminski ist vor einer guten halben Stunde zu Tode gekommen. In seiner Wand befinden sich zwei Löcher, direkt dort, wo er niedergesunken ist, nachdem er die Bohrmaschine benutzt hat um eines dieser Löcher zu bohren. Er wurde erschossen. Seine Frau fand ihn leblos am Boden liegend. Das Werkzeug hielt er noch in der Hand. Haben Sie eine Erklärung?“

Carola blieb stumm. Sie streckte lediglich ihre Hand aus, auf der die Patronenhülse ruhte.
Einer der Polizisten sprang zu ihr und drehte ihr die Hand auf den Rücken. Er schleuderte sie herum und tastete sie ab. Fast fühlte sie seine fordernden Hände bis hinab zu ihrer spitzenbesetzten Seidenunterwäsche. Sie konnte nicht sagen, dass ihr diese Berührung unangenehm war. Dass er gleichzeitig ihre rechte Wange gegen die Wand der Diele presste, hielt sie für übertrieben.
„Sie ist unbewaffnet!“, erklärte er. Der Beamte drehte sie zu sich herum. „Wo haben Sie die Waffe, mit der Sie Ihren Nachbarn getötet haben?“

„Ich“, fragte Carola entsetzt.
„Wer sonst. Der Schuss muss aus ihrer Wohnung gekommen sein, warum hätten Sie sonst die Patronenhülse in der Hand. Wollten Sie die Beweismittel verstecken?“
„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden“, mehr brachte Carola nicht heraus.
„Frau Gellingsdorf, ich nehme Sie fest, wegen des Verdachts der Tötung an Ihrem Nachbarn, Herrn Kaminski. In der Wohnung befindet sich ein Kugeleinschlag in der Wand, in die Ihr Nachbar das Loch gebohrt hat. Das Projektil hat die Wand durchschlagen und traf Kaminski in der Brust, direkt ins Herz. Sie fühlten sich wegen der frühen Uhrzeit gestört und haben ihn erschossen. Ihre Waffe werden wir finden. Sie können die Aussage verweigern. Was Sie sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Abführen“, sagte der Mann.

Die Spurensicherung durchwühlte Carolas Wohnung bis in den hintersten Winkel. Der Tatort war gesichert und der Leichnam Kaminskis abtransportiert. In Kaminskis Wohnung wurde nicht mehr nach einer Waffe gesucht. Man hatte ja die Hülse bei Carola gefunden.
In dem Durcheinander bemerkte niemand die verhuschte Frau Kaminski, als sie in Carolas Bad ging und eine Pistole in den Revisionsschacht der Wanne legte. Die winzige Rouladennadel, mit der Frau Kaminski die leere Hülse durch die Wand in die Nachbarwohnung geschoben hatte, lag in der Küchenschublade. Das Bild, das Kaminski morgens um Sechs anbringen wollte, lag neben der Bohrmaschine auf dem Boden.

Es dauerte nicht lange, bis die Spurensicherung die Waffe im Bad fand. Es handelte sich nicht um ein einfallsreiches Versteck. Carolas Unschuldsbeteuerungen glaubte niemand und sie wurde Opfer eines Indizienprozesses. Und unter der Gefängniskleidung trug sie noch Jahre später die alte, verschlissene Seidenunterwäsche.


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Tag der Veröffentlichung: 19.08.2012

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