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Trotz meiner Müdigkeit bin ich erwacht und blicke zum großen Wecker auf dem Nachttisch. Seine großen roten Zahlen bringen meine Pupillen zum schrumpfen und erhellen den Raum um mich ein wenig. Nicht genug um viel zu erkennen, aber genug um die kleine Box mit Briefen neben dem Wecker zu sehen. Es ist genau drei Uhr und zweiundvierzig Minuten und ich stelle mir dieselbe Frage wie bereits schon vor sieben Stunden und zweiunddreißig Minuten.
„Wann passiert es?“
Vor diesen sieben Stunden und zweiunddreißig Minuten ist es einfach passiert. Mein letzter Funke Hoffnung war erloschen. Ich wurde aufgegeben! Der Kampf war für mich zu Ende! Die Weißkittel standen um mein Bett und wünschten Sie könnten mehr für mich tun, aber sie wussten nicht wie. Sie haben ihr Bestes getan, mit ihren teuren Gerätschaften und ihren wichtig aussehenden „Dr. Prof.“-Namensschilder. Dabei fällt mir ein, dass ich mir keinen einzigen Namen von ihnen gemerkt habe. Wahrscheinlich war es besser so, vielleicht würde ich sonst einen von ihnen mit meinem letzten Atemzug verfluchen und das würde mich sehr unglücklich machen. Natürlich auch nur, wenn mich auf der anderen Seite irgendetwas erwartete.
Hier wartet keiner mehr auf mich, denn ich bin ein Feigling. Ich verbringe lieber die letzten Stunden meines Lebens alleine, als mit den Menschen die mich lieben. Das alles hat den Hintergedanken, dass ich es nicht erleben will. Ich möchte nicht erleben wie sie mein Leben bereits jetzt betrauern, obwohl ich noch lebendig bin. Sie sollen an meinem Sterbebett trauern, wenn ich schon lange weg bin, an einem Ort, wo ich vielleicht verstehen lerne und vielleicht endlich erfahre, warum ich so früh gehen musste. Meine Oma hatte mir immer gesagt, dass die liebsten Menschen früher zu Gott geholt werden, weil er sie als Engel braucht. Dieser Gedanke tröstet mich leider nicht in dieser einsamen Nacht. Ich habe immer gedacht, dass wenn das Ende kommt, man automatisch eine Art innere Ruhe spürt. In der man sich so fühlt, als wenn man was geschafft hat und zwar das Leben an sich. Man erreicht das nächste Level, die nächste Stufe, aber stattdessen fühle ich mich so, als wenn ich viel verpassen würde. Dabei hatte ich ein erfülltes Leben, ein schönes Leben, bis jetzt. Die Erinnerungen daran kann mir keiner mehr nehmen, auch wenn es traurig ist, dass keine Neuen mehr dazu kommen. Für alle anderen, die noch Erinnerungen sammeln können, habe ich Briefe geschrieben. Die Stationsschwester hat mir jede menge Papier besorgt und Kulis. Sie war sehr lieb. Ich glaube sie hat den Wunsch nach Papier und Kulis als meinen Letzten aufgefasst. Das Letzte, was sie für mich tun konnte. Sie versuchte es zu verbergen, doch ich sah, dass ihre Augen heute etwas feuchter waren als sonst. Man sollte denken dass Krankenschwestern jeden Tag jemanden sterben sehen und deshalb mehr Akzeptanz für den Tod haben als andere. Aber anscheinend war es manchmal doch etwas anderes und nicht ganz so einfach für sie. Ich habe sicherlich an die 30 Seiten geschrieben und dabei einen Liter Flüssigkeit geheult. Obwohl ich soviel geschrieben hatte, waren meine Worte nicht vielfältig, sondern wiederholten sich oft. Mit ihnen versuchte ich in jedem Brief die Trauer des Empfängers zu lindern. Ob es nun meine Mutter, Vater, Freund, Geschwisterchen, Oma, Opa, Onkel, oder Tante war, alle erhielten nahezu den gleichen Abschiedsbrief. Allesamt waren sie blumig, obwohl ich dem einen, oder anderen Freund noch einmal richtig die Leviten hätte lesen können, ließ ich es bleiben. Anscheinen können nicht nur Lebende kein schlechtes Wort mehr auf einen Toten, sondern auch ein fast Toter kein schlechtes Wort mehr auf einen Lebenden kommen lassen. Damit kann ich gut leben, immerhin noch ein wenig. Während ich über meinen zukünftigen tot sinniere, springt der Wecker immer wieder eine Minute weiter. Nicht einmal mein ewiges Starren kann ihn davon abhalten und plötzlich wird mir klar.
„Ich werde hier alleine sterben, ganz alleine … So wie eine Schildkröte alleine geboren wird, werde ich einfach hier alleine in der Nacht sterben.“
Der Gedanke war vorher nie da, nie so klar in meinem Kopf. Warum quält er mich jetzt?
Ein schwarzes Loch tut sich in mir auf. Ich schmeiß die Decke vom Bett hinunter und will aufstehen, aber mein Körper reagiert nicht mehr so, wie mein Kopf es von ihm verlangt. Mir wird übel und es fällt mir schwer zu atmen. Ich kann mich nicht bewegen. Ich war gefangen in meinem eigenen Körper, als das Licht im Zimmer anging.

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Sehr geehrte/r Herr und Frau Tibbet,
ich möchte mein Bedauern über ihren Verlust ausdrücken. Wie die Ärzte ihnen wahrscheinlich schon hundertmal erklärt haben, wussten wir, dass ihr Sohn die Nacht nicht überstehen würde und es war sein ausdrücklicher Wunsch, dass die Familie über diesen Zustand nicht informiert wird.
Ich war die diensthabende Schwester in dieser tragischen Nacht und jenes auf eigenen Wunsch. Als ich davon erfuhr, dass die Ärzte Ihrem Sohn nicht mehr helfen konnten, habe ich um die Nachtschicht gebeten. Ihr Sohn wurde von uns allen sehr gemocht und ich persönlich habe ihn auch bewundert. Er war immer so voller Freude und Optimismus, egal wie schlecht es für ihn aussah.
Wir durften ihnen vielleicht nichts über seinen Zustand sagen, aber ich würde Ihnen gerne erzählen was ich mit ihren Sohn noch erlebt habe. Es ist nicht einfach, aber ich möchte Ihnen erzählen, wie ihr Sohn von uns gegangen ist.
Um drei Uhr und 55 Minuten löste ihr Sohn den Alarm in seinen Zimmers aus und ich eilte von unserem Schwesternzimmer sofort den Gang hinunter. An seiner Tür atmete ich noch einmal durch, bevor ich eintrat. Ich schaltete das Licht an und sah wie ihr Sohn mit seinem schnell versagenden Körper kämpfte. Es war mir sehr wichtig die Fassung zu bewahren und Sicherheit auszustrahlen, auch wenn mir schon die Tränen in den Augen standen. Ich schob einen Stuhl an das Bett ihres Sohnes. Seine Augen starrten mich an, während sich seine Hände verkrampft in das Laken vergruben. Er versuchte mit mir zu sprechen, aber es kam nur noch ein wispern über seine Lippen. Ich ergriff instinktiv seine Hand und hatte das Gefühl sein Körper würde sich dadurch entspannen. Seine Pupillen hörten auf wild zu zittern. Ich legte ihm auch noch meine andere Hand auf die Brust. Er war jetzt ganz ruhig und sein Herz schlug langsam. Ich konnte es ganz genau spüren und als er noch einmal versuchte ein Wort über seine Lippen zu bringen war ich mir sicher ihn zu verstehen. Er sagte Danke zu mir.
Ich weiß, dass Sie bedauern nicht bei Ihrem Sohn gewesen zu sein, als er starb, deshalb schreibe ich Ihnen diesen Brief. Ich möchte Ihnen einfach sagen, dass er nicht alleine war. Bei ihm war ein Mensch, der ihn auch liebte. Vielleicht nicht wie eine Mutter, oder einen Vater, aber das Wichtigste war, dass er sich in diesem Moment geliebt fühlte.
Vielleicht ist dieser Brief ein Trost für Sie. Ihr Sohn war nicht alleine!
Nicht so wie die Schildkröten, die alleine am Strand geboren werden.

Das ist übrigens eine kleine Anekdote von Ihrem Sohn und mit dieser wird er immer in meinen Erinnerungen bleiben.
Alles Gute wünscht
Angela Bongartz

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Tag der Veröffentlichung: 26.08.2012

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