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Ich sitze in meinem Auto und trinke grünen Eistee. Ich hatte einen harten Arbeitstag und fühle mich irgendwie leer und verbraucht, als hätte man mich bis aufs Knochenmark ausgesaugt. Aufgeraucht und ausgetreten. Die Sonne blendet mich, aber das mag ich eigentlich ganz gerne.
Im Radio berichten sie über den Syrienkrieg, und ich muss an eine Fotografie denken, die ich kürzlich in der Zeitung gesehen habe. Es war ein vermummter Mann in Jogginghosen, der bäuchlings auf einer maroden Matratze lag; er schaute dezidiert durch die Zieleinrichtung seines Maschinengewehrs, und der Lauf ragte zwischen den Vorhängen heraus, hinter denen er sich fortifizierte, direkt auf die zerbombten Straßen Aleppos, wo bewaffnete Kinder ihr Unwesen treiben, wo Helikopter schlingernd durch die Nacht rasen, weil immer Schüsse fallen, in seriellen Sequenzen. Auf den Boden lagen leere Plastikflaschen, was das Bild besonders makaber gestaltete, keine Ahnung, irgendwie echt und real – veritabel. Ich zünde mir eine Zigarette an, spüre, wie der Wind mein Haar zerzaust, und wie der Geruch von verbrauchtem Benzin durch den Fensterschlitz strömt. Die Zeit ist ziemlich schnell vergangen, denke ich, und nehme einen sündhaft-enormen Zug von meiner Zigarette. Was ich damit sagen will, ist, dass sich mein Leben grundlegend verändert hat, in den letzten Jahren; ich trinke keinen Nesquick mehr, weil es verdammt falsch ist, Nesquick zu trinken, weil der kleine süße Hase mit den langen Ohren nur für eines steht – Kinderarbeit. Und wenn ich ein Kind die Straße entlanglaufen sehe mit einer Spielzeugpistole in der Hand, geht mir irgendwie das Herz auf. Außerdem habe ich jetzt einen Bauch. Meine Frau sagt immer, ich sähe damit aus wie Jogi Bär. Ich finde das beleidigend, aber sie kichert dann immer so panurgisch, sodass ich ihr nicht böse sein kann. Keine Ahnung, es ist einfach alles anders geworden, als es noch vor fünf Jahren war, und das fühlt sich eben fremd an.
Ich fahre die Straße entlang, in der ich aufgewachsen bin – eine schöne, makellose Zuckerwattenkindheit. Der kleine Tante-Emma-Laden existiert nicht mehr, stattdessen steht dort jetzt eines dieser pyramidalen Einkaufszentren, in denen man zwar sechs verschiedene Fensterreiniger bekommt, aber es keine Zigaretten an der Kasse mehr gibt. Nur der Ringlottenbaum an der Straße steht noch, dem Kommerz trotzend – fest verwurzelt und durabel.
Ich setze den Blinker, obwohl ich das einzige Auto auf der Straße bin, nur um das altbekannte Geräusch des Blinkers zu hören, und rolle ganz langsam in die Wohnsiedlung, weil ich weiß, dass hier immer irgendwelche Kinder herumtollen, weil ich einst selbst einer dieser herumtollenden Kinder war, die mit peitschenartigen Ruten durch die Siedlung liefen, bis dann einer weinte.
Ich stehe vor der geöffneten Türe des Stein-Säulen-Zaunes, nippe an meinem Eistee, und beobachte meinen Vater, wie er die Hecken schneidet – hoch konzentriert, als würde er sein gesamtes Umfeld ausblenden. Zwei Kinder in Form von Lichtgestalten laufen um ihn herum, um diesen alten Mann, der da ganz lethargisch seine Hecken schneidet: mein Bruder und ich. Es ist einer von diesen Momenten, in denen dir bewusst wird, dass alles vergänglich ist, dass Uhren stehen bleiben, aber niemals die Zeit. Man fragt sich, Was ist Zeit? Und man schaut völlig entsetzt in das faltige Gesicht seines Vaters, der einem etwas sediert erscheint, als würde er irgendwelche Pillen schlucken, und man spürt, wie es einem kalt dem Rücken runter läuft, weil er nur einen kühlen Blick über die Schulter wirft, anstatt dich mit einem Lächeln zu empfangen, wie er das früher immer getan hatte, als es noch keine Rostflecken an den Gartenplatten gab. Das ist Zeit, denke ich: Rost.
„Du bist zu spät.“
„Ja, ich weiß“, sage ich.
„Du bist immer zu spät, das ist dein Problem.“
„Ja, ich weiß.“
„Und?“
„Und was?“
„Und was. Wie geht´s den Kindern, wie geht´s Elena? Wie läuft´s bei der Arbeit?“
„Du bist dünn geworden.“
„Klar bin ich dünn geworden, du kommst ja immer zu spät. Hab´ den ganzen Scheiß-Rasen alleine gemäht.“
„Es gab einen Stau.“
„Es gibt immer einen Stau.“
Ich gehe durch den Balkon in die Küche und fülle meine Eisteeflasche mit Wasser auf; als ich wieder nach draußen gehe, sitzt er auf einem ausgeblichenen Stuhl und starrt auf den frisch-gemähten Rasen, auf das kleine geblümte Feld, das er freigelassen hat, wie auf etwas, das man vermissen wird, wie auf etwas, das schon weg ist.
„Was soll das mit den Blumen?“
„Ach, ist für die Bienen“, sagt er. "Mal schauen ob sie es finden; wenn nicht, auch egal.“
Ich stecke mir eine Marlboro an.
„Berliner Blau.“
„Berliner Blau.“
„Ja, Berliner Blau. Blausäure. Weißt du, ich werde nie verstehen, warum es Leute gibt, die solchen Dreck inhalieren. Ich würde mir wünschen, dass du das mit dem Rauchen lassen würdest, aber du hörst ja sowieso nicht auf mich. Ich lese in letzter Zeit sehr viel: ich gebe dir maximal zehn Jahre. Vielleicht ist es meine Schuld; vielleicht habe ich dir zu viel durchgehen lassen, früher. Aber alles in allem ist ein prächtiger Junge aus dir geworden, wenn man bedenkt, wie oft ich dich vom Polizeirevier abholen musste. Du warst ein richtiger Mistkerl.“
„Du bist dünn geworden.“
„Ich hab´ momentan viel um die Ohren. Immer Stress. Du kennst das ja.“
„Sag´s mir.“
„Es gibt immer eine Fliege, die sich auf deine Oberschenkel setzt.“
„Sag´s mir.“
„Was – was soll ich dir sagen?
„Du wirkst sediert, als würdest du irgendwelche Pillen schlucken – verwirrt. Ich sehe dich überhaupt nicht mehr lächeln. Wann hast du eigentlich das letzte Mal gelacht, ich meine, richtig gelacht?“
„Das Leben ist nicht einfach. Wie soll man da lachen?“
„Was ist los mit dir?“
„Versprich mir, dass du mit dem Rauchen aufhörst.“
„Was hast du?„
„Krebs. Ich hab Krebs.“

Im Epizentrum des Verfalls. Ich steige in mein Auto, Tränen fließen über meine Wangen, und ich denke mir, Krebs. Bekomme den Rückwärtsgang nicht eingelegt, und alles um mich herum entfärbt sich, verblasst zu grau. Die Retrospektive, die Vergangenheit. Ich hatte schon immer Angst, vor dem, was man nicht umkehren kann, der Irreversible. Bekomme den Rückwärtsgang eingelegt.
Die Sonne verschwindet am Horizont, und erst jetzt wird mir bewusst, wie endgültig all das ist.
Wenn wir alle ein bisschen geben, dann würde es viel besser laufen auf der Welt, sagt er immer, wenn er die Reste des Marmorkuchens auf das Fensterbrett legt. Seine Aversion gegen alles Kapitalistische, sein humanes Interesse an der Situation an Westafrika, den frankofonen Staaten, Mali. Vergiss nie, dass es Menschen gibt, denen es nicht so gut geht, wie dir, sagt er immer; es gibt Menschen, die prügeln sich, für ein Stück Brot. Vergiss nie, wer du bist, bleib authentisch in deiner Verantwortung, egal, was die anderen machen. Versprich mir, dass du mit dem Rauchen aufhörst.
Ganz langsam rolle ich durch die Abendstille. Alles ist vergänglich, denke ich, ehe ich meine Kinder in den Arm nehme, und sie ganz fest drücke. Alles ist vergänglich.

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Tag der Veröffentlichung: 26.08.2012

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