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Sie haben alle Hunger in der Stimme; und die Sonne spiegelt sich golden im Wasser des Mittelmeers. Der Himmel ist blau. Azurblau. Das Boot ist gedroschen voll, es befinden sich 100 Afrikaner an Board. Sie sind verzweifelt, finden keine Arbeit, deswegen flüchten sie. Der kleine Hatari sitzt an der Reling und starrt verträumt in die Wellen, er hofft, dass es in Europa besser wird, weil er nicht mehr auf Ghanas größter Giftmüllhalde arbeiten will, weil er kein Kupfer mehr sammeln will: die giftigen Dämpfe machen Krebs, sagt man. Neben ihm sitzt Alem, er kommt von der Elfenbeinküste – es ist seine zweite Flucht. Früher arbeitete er auf einer Kakaoplantage. Wenn er die Augen schließt, knallen Gewehre, wenn er sie öffnet, sieht er seine wund gescheuerten Knie.
„Meinst du wirklich, dass es in Europa besser wird?“ Es scheint, als würde er mit den Dielen reden.
Hatari zuckt kurz mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“ Dann konzentriert er sich wieder auf die Wellen, die sich sanft auf und ab bewegen, als wäre alles nur ein böser Traum. Die Luft riecht nach Salz. Alem starrt auf seine rechte Handfläche. „Ich mein, was ist, wenn es in Europa keine Arbeit für uns gibt – wo werden wir wohnen? Was werden wir essen? Was ist, wenn... du weißt schon... Wenn wir es nicht nach Europa schaffen?“ Stille. Ein Säugling weint. Die Mutter nimmt sanft seinen Hinterkopf und drückt ihn wieder an ihre Brust. „Ich weiß es nicht, Alem... ich weiß es nicht...“
Plötzlich erklingt eine zuckersüße, weibliche Stimme: „Oh, Freedom. Freedom. Oh, Freedom. Freedom. Oh Freedom. Freedom is coming, oh yes, i know.“ Ein alter Mann erhebt sich, klatscht begeistert in die Hände, fordert die anderen dazu auf, mitzumachen, mitzusingen. Alem sieht Hatari verwundert an, auch sie stehen auf und tanzen und singen; und das ganze Boot wackelt, als würde es bald kentern. „Wir werden leben!“, brüllt ein junger Mann. „Wir werden L.E.B.E.N!“
Man nimmt jeweils die Hand vom anderen, und plötzlich fühlt es sich so an, als würde die purifizierte Hoffnung durch ihre abgemagerten Körper fließen, als wäre es völlig irrelevant, dass sie seit 48 Stunden nichts mehr gegessen haben, und dass sie noch eine weite Reise vor sich haben – ohne Nahrung. Hatari starrt in den Himmel: ein Helikopter. Fünf Minuten später: ein Boot. Frontex.
„Dreht um – sofort!“, wird ihnen durch ein Megaphon befohlen. „Wir haben nicht genug Treibstoff um umzudrehen.“ brüllt der alte Mann. Dann deutet er auf einen leblosen Körper, eingewickelt in eine marode Wolldecke. „Außerdem haben wir eine Leiche an Bord.“ Eine Träne rinnt über Hataris rechte Wange. „Dreht um, oder wir zerstören euer Boot! Hab ihr gehört? Ihr sollt umdrehen!“
Enttäuschte Blicke werden ausgetauscht, das Rauschen des Meeres apostrophiert die Ratlosigkeit auf den Gesichtern der Emigranten: Wo wollen sie sterben – auf dem Mittelmeer, oder doch in Afrika? Der Moment scheint eingefroren, festgehalten; innere Leere, völlige Verzweiflung. Angst. Frust. Die Boote schaukeln pietätvoll im Wasser, ein kognitiver Tsunami kündigt sich an, kollektives Entsetzen, Menschen, die ihre Handflächen resigniert an die Stirn legen: Warum will man sie nirgendwo haben? Warum werden Menschen, die verzweifelt im Mittelmeer treiben, zurück nach Afrika geschickt – ohne Treibstoff? Ein Blick in den Süden, dort wo Menschen verhungern, weil sie nichts zu essen haben, wo monochrome Bilder geschossen werden, von Kleinkindern – Skeletten –, die auf Müllbergen sitzen. Manche lachen, weil sie nichts anderes kennen. Verschmutztes Wasser. Hunger. Armut. Dann: ein Blick in den Norden: Entwickeltes Europa,
pompöse Luxuskarossen, die gediegen durch die plakatierten Straßen rollen. Reichtum, Übermaß; Existenz.

Massenpanik.

Hatari treibt mit erratischem Blick im Wasser. Es fällt ihm schwer, Alem gehen zu lassen, und das, obwohl er ihn gar nicht richtig kannte. Doch er muss es tun, das weiß er.
Das Salz macht ihn immer durstiger, die Sonne geht unter am Horizont, und die Erkenntnis, dass niemand kommen wird, um ihn zu retten – Er kann es nicht verstehen. Überall liegen Trümmer, an denen sich vor kurzem noch verzweifelte Menschen festhielten. Sie haben aufgeben. Das Meer ist ganz ruhig, nur wenn er ganz genau hinhört, kann er das Rauschen der Wellen wahrnehmen, die über den leblosen Körper von Alem schwappen und seine Haut zum Glänzen bringen. Der malerische Sonnenuntergang: eine Intrige, ein Schwindel. Eine Halluzination? Leicht möglich. Hatari wird kalt, er zittert, blickt nach rechts, dann nach links. Einsamkeit. Traurigkeit. Unverständnis. Wut. Er kapituliert. Und mit einer sanften Bewegung drückt er auf Alems klitschnassen Brustkorb, bis sich seine Lungen mit Wasser füllen.
Nun ist er ganz alleine. Ganz alleine. Auf wiedersehen Alem... Auf Wiedesehen.

Auf dem Mittelmeer werden mehr als 100 Menschen vermisst. Nach italienischen Angaben gerieten die Flüchtlinge in Seenot, weil ihnen der Treibstoff ausging. Näheres ist noch nicht bekannt.
Jährlich flüchten über 240.000 Menschen nach Italien.


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Tag der Veröffentlichung: 12.08.2012

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