Ich stehe einfach still im Regen…
Er schlägt laut gegen meine gelben Regenjacke und läuft an ihr in großen Strömen in Richtung Erde. An ihrem kleinen umgenähten Rand werden sie kurz gebremst, um kurz darauf, im freien Fall, in einen kleinen aus Regenwasser bestehenden See zu fallen. Ich kann ihn kaum noch sehen. Der starke Regenguss zwingt mich dazu meine Augen zusammen zu kneifen. Meine nassen Haare kleben mir im Gesicht und manche Strähnen fallen auch an meine Augenlider. Ich muss sie noch stärker zusammen kneifen. Auch wenn niemand sie unter dem starken Guss sehen kann, entweicht mir eine Träne und wird sofort von den starken Strömungen mitgerissen. Sie war nicht alleine, gleich wird sie vereint sein mit ihren Schwestern. Der kleine See bestand nicht nur aus Wasser, sondern auch aus vielen Tränen von mir. Irgendwann war ich einfach leer und konnte ihm nicht mehr geben von meinen kostbaren Tränen. Sie waren für mich kostbar weil jede einzelne eine wunderbare Erinnerung von uns enthielt. Du warst meine erste Frau in allen Belangen und solltest auch meine Letzte sein.
Warum musstest du?
Ich versteh es nicht. Deshalb steh ich hier.
Mein Schuhwerk ist durchnässt und die Kälte krabbelt mir langsam das Bein hoch. Ich zittere, doch das tat ich auch schon als du vor mir standest. Mit ihm, derjenige der mich zukünftig ersetzen wird.
Sie sagte es nicht direkt zu mir. Doch als wir da standen und so miteinander sprachen kam er einfach. Er legte seinen Arm um dich, so wie ich es sonst immer gemacht hatte und auch wenn ich bei der lauten Musik ihn nicht sprechen hören konnte. Konnte ich es mir sicher denken.
„Alles in Ordnung?“, fragte er dich. Du hast ihn zwar weggedrückt, aber in dem Moment wusste ich was gespielt wird. Wenige Minuten vorher glaubte ich deinen Worten noch. Du wolltest Zeit für dich. Du warst dir nicht sicher. Ich merkte deine Unsicherheit nicht. Ich bemerkte nur deine feuchten Augen, die sich sträubten nur ein Gefühl von dir mir zu offenbaren. Es war mir einfach zu viel. Ich schnappte meine Jacke, verließ die Feier und drehte mich noch tausende Male um. In der Hoffnung, du würdest mir folgen. Doch mein Blick fand dich nicht. Ich verlangsamte meinen Schritt immer weiter und umso langsamer ich ging, umso weniger Hoffnung hatte ich, dass du mich jede Sekunde einholst und umarmst. Mir sagst, dass du mich liebst und dein Leben meins ist, sowie mein Leben deins ist - wir verbunden sind für die Ewigkeit. Irgendwann blieb ich einfach stehen. Mein Blick war leer und starrte auf die an mir vorbeiziehenden Lichtkegel. Meine Arme kribbeln. Vier Jahre waren eine lange und schöne Zeit für uns, oder ist aus dem `uns` bereits ein `mich` geworden?
Am Anfang war ich mir noch sicher, aber mit jeder verlorenen Erinnerung verschwand dieser Zusammenhalt in meinem Herzen. Es wollte dich verdrängen, dich hinausschmeißen, dich loswerden. Das Klopfen dieses Lebensmuskels hallt in meinen Ohren laut wieder. Meine Gedanken werden von ihm vernebelt. Inzwischen sind meine Beine wie erfroren. Ich spüre nicht wie meine Zehen gegen den Schuh drücken, als ich versuche sie zu bewegen. Einen Moment lang wird mir schwarz vor Augen. Es ist zwar nur kurz, reicht aber aus um meine Beine einknicken zu lassen. Ich reisse meine Arme nach vorne und stütze mich gegen den Fall. Mein Gesicht kommt knapp über den Boden zu stehen. Ich zittere so stark, so ein Zittern hatte ich noch nie. Jedenfalls soweit ich mich erinnern kann. Jetzt zieht sich auch noch meine Jeans voll mit dem Gemisch aus Tränen und Regenwasser. Meine Augen lassen wieder einige Tränen entweichen. Ich balle meine Hand zu einer Faust und schlage mit ihr so fest auf den Boden, dass es mir wehtut. Etwas Schlamm, von der Straße, schleudert hoch in mein Gesicht.
Ich bin so wütend. Das dumpfe Schlagen verschwindet langsam von meinen Ohren und ich kann wieder mehr hören als nur mein schmerzendes Herz. Ich kann Schreie hören. Ich höre, wie Wasser in großen Mengen von der Straße hochgewirbelt wird und anschließend wie eine Lawine auf mich hinabprasselt. Als ich meinen Kopf zur Seite drehe sehe ich nur noch lackiertes Metall einer Autotür und verschwende meinen letzten Gedanken,
an sie.
Ein kleiner Artikel in der Tageszeitung
In der gestrigen Nacht kam es zu einem Unfall auf der B7 zwischen einen Passanten und einem Fahrzeug. Der Halter, eines 3er BMW, verlor gegen 23:54 auf der stark überspülten Straße die Kontrolle über sein Fahrzeug und kollidierte mit einem auf der Straße liegenden Passanten. Der Zusammenstoß endete tödlich für den gerademal 21 Jahre jungen Mann. Nach Aussagen der Polizei kann dem Fahrzeughalter keine Schuld zugesprochen werden. Er fuhr mit der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit und verlor, nach eigener Aussage, die Kontrolle während des Ausweichmanövers.
10 Monate später
Eine junge Frau kniet vor einem Grab. In ihren Händen hält sie einen Strauß Blumen, den sie zitternd auf die festgetretene Erde legte. Mit einer ihrer Hände wühlt sie in ihrer Tasche. Es kommt ein kleiner Zettel zum Vorschein. Ihrer anderen noch freien Hand buddelt sie ein kleines Loch in die kalte Erde. Den Zettel drückt sie so fest wie einen Schatz, den sie am liebsten niemals loslassen will. Das Loch ist nun tief genug und sie lässt den kleinen Zettel hinein fallen. Sie schiebt die gerade frisch aufgewühlte Erde über ihn und begräbt ihn unter dieser. Als sie sich aufrichtet bilden sich kleine Kreise auf Feuchtigkeit auf dem Boden. Sie zieht ihre Nase einmal hoch und verlässt den Friedhof.
Hallo Mäusespeck,
ich muss mich zuallererst bei dir entschuldigen. Du fragst dich sicher warum, oder kannst dich das nicht mehr fragen. Aber es ist schlimm genug das ich es weiß. Seit deiner Beerdigung vor 10 Monaten war ich nicht mehr an deinem Grab. Es war einfach zu schwer für mich. Ich konnte es einfach nicht. Vielleicht hast du dafür Verständnis, wo auch immer du gerade bist. Übrigens hat mir mein Therapeut geraten aufzuschreiben was ich dir zu sagen habe. Er meinte das könnte mir helfen abzuschließen, aber ich will nicht abschließen. Ich will die Endgültigkeit nicht akzeptieren. Ich will nicht akzeptieren das du da unten liegst und ich nie wieder deinen Atem auf meiner Haut spüren kann. Ich vermisse dich einfach so sehr und die Zeit mit dir. Ich bin an allem Schuld. Ich soll zwar nicht von Schuld sprechen, aber ich empfinde es so. Du kannst keine Schuld mehr empfinden, so lastet die Schuld für uns beide auf mir. Ich war einfach zu feige mit dir offen zu reden und wollte mich zurückziehen. Doch was sollte ich tun? Ich bin doch selbst noch ein Kind gewesen, was sollte ich da mit einem Kind anfangen. Ich kannte deine Meinung dazu, deshalb wollte ich es heimlich verschwinden lassen und dafür brauchte ich Abstand von dir. Du hättest es bestimmt gemerkt, denn ich hab mir damals schon vorgestellt, dass es auch für mich sehr schwer sein wird. Die erste Zeit danach. Doch dann warst du weg und mein Herz schmerzte als ich dich das letzte Mal sehen durfte. Lebendig…
Ich wollte dir folgen, aber alle meinten du brauchst einfach etwas Zeit für dich zum darüber nachdenken. So nutzte ich die Zeit und heulte mir die Augen wund auf dem Klo. Ich dachte mir das ich noch nie im Leben so stark geweint habe wegen irgendwas. Nicht einmal damals als ich mir das Schienbein gebrochen hatte. Das war nichts dagegen. Du wirst dich sicher daran noch erinnern. Aber in dem Moment wusste ich noch nicht, dass ich bereits einen Tag später wieder trauern musste - und das bis heute. Es wird aber besser. Ich muss stark sein. Für unseren kleinen. Ich habe ihn Joshua getauft, so wie dein Opa hieß. Ich dachte das würde dir gefallen, weil dein Opa dir immer eine Menge bedeutet hatte. Deine Eltern sind häufig bei uns zu Besuch und helfen mir wo sie nur können, aber am liebsten wär mir ich würde das alles mit dir gemeinsam erleben können. Ich weiß am Anfang schrieb ich dir, dass ich das Kind nicht behalten wollte, aber als du dann weg warst, wollte ich das letzte bewahren was von dir noch auf Erden weilte. Keiner hat etwas gegen meine Entscheidung gesagt und auch keiner weiß, dass ich Joshua eigentlich abtreiben wollte. Das bleibt unser kleines Geheimnis. Er gibt mir unglaublich viel und ist so wundervoll. Du wärst ein stolzer und toller Papa geworden. Wenn ich Joshua auf dem Arm halte erzähle ich häufig von unseren gemeinsamen Erinnerungen, aber nur die lustigen und witzigen. Ich möchte nicht, dass Joshua mich weinen sieht. Vielleicht gibt es ja wirklich einen Himmel von dem du jetzt auf uns aufpassen kannst und siehst wie dein Sohn groß wird. Wenn du von da oben schlecht sehen kannst, dann sag ich dir lieber dass er meine Augen und dein Kinn hat. Ich werde dich auf immer und ewig lieben.
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Tag der Veröffentlichung: 12.08.2012
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