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Sie war wie immer in Eile. Als Sue das Haus verließ und die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, bemerkte sie nicht nur den Regen. Sie hatte Schirm und Schlüssel vergessen und Jim war bereits ins Büro gefahren.
„Typisch“, ärgerte sie sich lautstark über sich selbst und schlug sich die Kapuze ihres Mantels über den Kopf.
Schon beim Aufwachen war sie von der Nervosität beherrscht, die sich im Zusammenhang mit einer wichtigen Präsentation in der Firma stets heimtückisch von hinten anschlich. Da blieb es nicht aus, dass Sue zwar alle nötigen Unterlagen beisammen hatte, aber dafür die Dinge des täglichen Gebrauchs aus dem Blick verlor. Sue war über Gebühr ehrgeizig. Nicht umsonst hatte sie diesen Auftrag für sich in Anspruch genommen. Er versprach ihr einen schnellen Aufstieg in die Chefetage der Firma. Beliebt machte sie sich damit bei ihren Kollegen allerdings nicht, doch das war ihr nicht wichtig.
„Dann nehme ich halt heute ein Taxi. Das erspart mir die Parkplatzsuche.“ Sie versuchte, das Beste aus ihrem Versäumnis zu machen. Wenn sie am Abend zurückkehrte, würde Jim längst aus dem College zurück sein und ihr die Tür öffnen.
Der Regen fiel jetzt dichter und Sue hob heftig winkend den Arm, als sie in der Ferne ein Taxi über die 44. Straße herunterkommen sah. Wer im Big Apple lebte, der war es gewohnt, hin und wieder mit der U-Bahn oder einem Taxi zu fahren. Das eigene Auto war eher ein Luxus, den Sue und Jim sich glücklicherweise erlauben konnten.
Sue presste ihre Aktentasche mit dem Ellbogen fest gegen ihren Körper, damit sie nicht herunterfiel und winkte weiterhin heftig. Das Taxi fuhr an ihr vorbei. Es war voll besetzt mit Japanern, erkannte sie.
„Mist, hoffentlich kommt bald ein Zweites.“ Sue hatte keine Lust, auch noch bis zum nächsten Taxistand zu laufen. Doch in New York sollte das eigentlich nicht zum Problem werden - Taxis gab es hier wie Sand am Meer.
Schon rollte eines um die Ecke und kam langsam auf ihrer Straßenseite heran. Es war gelb, wie alle anderen Taxis, die die Stadt pausenlos durchkreuzten. Auf dem Dach leuchtete ein Schild, das seine Verfügbarkeit anzeigte. Endlich. Wieder winkte sie.
Der Fahrer ließ den Wagen langsam ausrollen und öffnete von innen den vorderen Wagenschlag. Sue setzte sich grundsätzlich nicht zum Fahrer nach vorn. So schlug sie die Tür wieder zu und öffnete eine der Türen zum Fond des Wagens. Schnell schlüpfte sie – auf der Flucht vor dem stärker werdenden Regen – hinein.“
„Zum Chrysler Building bitte“, zeigte sie ihren Zielort an.
Der Fahrer antwortete zwar nicht, aber das störte Sue nicht besonders. Auf Smalltalk war sie ohnehin nicht eingestellt. Lieber wollte sie sich die Eckdaten der Präsentation noch einmal vor Augen rufen, die heute Morgen im Mittelpunkt ihres Interesses stand.
Sie schlug ihre Aktentasche auf und entnahm ihr einen Heftordner. Darin war alles zu finden, was sie brauchen würde. Mit der Nasenspitze versank sie in den Unterlagen und konzentrierte sich darauf. Das Taxi hatte sich längst in den morgendlichen Verkehr eingefädelt und kämpfte mit seinen kanariengelben Kollegen um jede Lücke, die sich während der Rushhour auftat.
So kamen sie halbwegs zügig voran. Das war zumindest Sues Eindruck, doch als sie aus dem Fenster sah, hatte die Umgebung wenig mit den Gebäuden zu tun, die Sues Erwartungen erfüllt hätten. Die Gegend war ihr unbekannt. Wo fuhr dieser Mensch sie eigentlich hin?
Sues Verärgerung schwang in ihrer Frage mit:
„Wo fahren Sie denn hin? Chrysler Building hatte ich doch gesagt? Sind Sie etwa neu hier?“
Ihre Fragen blieben allesamt unbeantwortet. Stattdessen fuhr die kleine Trennscheibe, die den Wagenfonds und das Cockpit in zwei Bereiche teilte, langsam hoch und enthob den Fahrer der Dringlichkeit, zu antworten.
„Das gibt es doch nicht!“, entfuhr es Sue erbost. Mit den Fingerknöcheln klopfte sie an die Scheibe. Auch diesmal blieb eine Reaktion des Fahrers aus. Sue hämmerte jetzt mit den Fäusten gegen die Scheibe. Nichts geschah. Das Taxi fuhr unbeirrt weiter durch die Stadt.
„Der spinnt wohl. An der nächsten Ampel bin ich weg.“
Sue hatte nicht vor, sich das gefallen zu lassen. Sie stopfte ihre Unterlagen zurück in die Tasche und starrte angestrengt nach draußen, um nur ja den erwarteten Halt an einer Ampel nicht zu verpassen. In New York gab es sicher so viele Ampeln wie Taxis. Gelegenheit genug, das Gefährt zu verlassen. Und bezahlen würde sie keinen Pfenning, da konnte der Typ sicher sein.
Der Wagen hielt wie erwartet an der nächsten Lichtzeichenanlage, die zum Glück auf Rot umsprangen, als sich das Taxi der Kreuzung näherte. Susans Griff ging zum Öffnungsmechanismus des Fahrzeugs, doch der war blockiert. Sei rüttelte hektisch daran, aber die Tür öffnete sich nicht. Nun schlug sie hektisch gegen die Seitenscheibe und versuchte, den Fahrer des benachbarten Fahrzeugs auf sich aufmerksam zu machen. Der winkte, ein wenig erstaunt, weil er zwar vermutete, dass ihn jemand grüßte, doch er kannte die Frau in dem Taxi gar nicht. Dann fuhren beide Fahrzeuge an und Sue verlor ihn aus dem Blick.
Längst waren der Ärger und das mulmige Gefühl echter Angst gewichen. Sue rüttelte nun auch an der Tür auf der anderen Seite – mit dem gleichen Ergebnis. Angstvoll bemerkte sie, dass sich über die durchsichtigen Scheiben nun langsam eine weitere undurchsichtige Folie schob, deren Mechanismus sie wohl durch ihr Klopfen ausgelöst hatte. Oder es war der Fahrer, der im Cockpit einen Hebel betätigt hatte. Im Fond des Wagens wurde es dunkel.
Das Herz schlug Sue bis zum Hals. Bei jedem Stopp, den der Wagen aus nun nicht mehr ersichtlichen Gründen machte, schrie sie aus vollem Leib und trommelte gegen die Türen. Ihre Hilferufe verhallten ungehört. An ihr Zuspätkommen und die geplante Präsentation verschwendete Sue keinen einzigen Gedanken mehr. Hier schien es um ihr Überleben zu gehen.
Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, denn im Wagen war es inzwischen unerträglich warm und der Fahrer hatte anscheinend die Klimaanlage ausgeschaltet. Was bezweckte er mit dieser Aktion. Zwar war Sue zu keiner sinnvollen Überlegung mehr fähig, aber in ihrem Kopf blitzten Bilder auf von Frauenleichen, die jemand am Straßenrand abgelegt hatte. Hatte sie nicht erst kürzlich von einem Taximörder in New Yorks Straßen gehört, den die Polizei seit Monaten vergeblich suchte?
Mutlos sank sie in sich zusammen. Immer kleiner wurde Sue auf ihrem Sitz. Sie ahnte, dass bald Unglaubliches auf sie zukommen würde. Sie hörte ein röhrendes Motorengeräusch, das sie sich nicht erklären konnte. Jetzt kam das Taxi zum Stillstand. Der Motor wurde abgewürgt und um Sue herum wurde es sogleich mucksmäuschenstill. Ob die Folien vor den Fenstern auch die Außengeräusche der Großstadt filterten, oder war sie etwa in der Einöde eines stillgelegten Fabrikgeländes gelandet? In ihrer Fantasie gab es mehrere Szenarien, die ihr kaum Spielraum ließen, sich zu beruhigen und die wie ein Horrorstreifen im Kino vor ihrem inneren Auge abliefen.
Minutenlang wartete sie mit laut klopfendem Herzen darauf, was jetzt geschehen würde. Doch es blieb still und dunkel und ihr Fahrer ließ sich nicht blicken. Dann, als sie das Warten kaum noch aushielt, erklang ein lautes Klicken, aber habe sich der Verschlussmechanismus der Türen gelöst.
Sue zitterte vor Angst. Sie konnte ihren Blick nicht von der Tür abwenden. In ihrer Ahnung würde der Mörder durch die linke Tür kommen. Und was sollte er sonst wollen, als ihr Leben, an dem sie doch so hing?
Die Sekunden dehnten sich zu Minuten und strapazierten ihre Nerven, die längst bis zum Zerreißen gespannt waren. Sie war wie eine Maus in ihrem Loch, die genau wusste, dass die Katze wartend davor saß.
Irgendwann war sie so weit, dass es ihr gleich war, was geschehen würde. Alles war ihr lieber, als hier auf den drohenden Untergang zu warten. Langsam ging ihre Hand zum Türgriff und zog ihn zurück. Im Zeitlupentempo schob sie die Tür auf. Niemand stand davor. Sue schnappte nach Luft, als der ersehnte Sauerstoff zu ihr in den Wagenfond schlug.
„Vielleicht mein letzter Atemzug“, dachte sie. Sie robbte näher an die Öffnung und schob die Beine über den Rand des Sitzes. Dann erreichte sie den Boden zu ihren Füßen. Sie stand mit wackligen Knien dort und richtete sich zur vollen Größe auf. Was sie sah, ließ sie erschauern, obgleich sie es kaum glauben konnte:
Das Taxi stand auf der Fahrbahn, direkt vor dem Chrysler Building. Um sie herum flutete der Verkehr, als sei nichts geschehen, außer, dass ein Taxi mitten in New Yorks vormittäglicher Rushhour eine Panne gehabt hatte. Ein vorsichtiger Blick in die Fahrerkabine zeigte Sue gähnende Leere. Der Fahrer war verschwunden.
Sues Beine zitterten und sie konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen, als sie sich aus der Verkehrszone zum Bürgersteig hin bewegte. Dort sank sie hilflos in sich zusammen. Besorgte Passanten kümmerten sich sogleich um sie. Sie aber stammelte nur etwas von Mörder, Taxi und Entführung. Unzusammenhängende Begriffe, mit denen auch die Besatzung der herangeeilten Ambulanz nichts anfangen konnte. Man legte Sue auf eine Bahre und schob sie in den Krankenwagen. Sie hörte wie in einem Nebel die Worte: „Erst mal in die Psychatrische.“ „Ja, das scheint mir das Beste.“
Ihr letzter Blick fiel noch einmal auf das Taxi und zugleich auf ihren Konkurrenten aus dem Unternehmen, für das sie arbeitete. Er stand mit einem teuflischen Grinsen im Gesicht neben dem scheinbar havarierten Fahrzeug und hielt Sues Unterlagen in der Hand. Er nickte dankend zu ihr hinüber und verschwand aus ihrem Blickfeld, als man die Bahre ins Innere des Wagens schob.

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Tag der Veröffentlichung: 12.08.2012

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