Mein Großvater, genau wie sein Vater vor ihm, war Fotograf. Als Kind durfte ich manchmal im Atelier sitzen – ganz still, um niemanden zu stören – und ihm dabei zuschauen, wie er lachende Gesichter ablichtete, Bilder entwickelte oder Kunden die Funktionsweise einer Kamera erklärte. Auch heute noch erinnere ich mich so deutlich an den Geruch der Chemikalien in der Dunkelkammer, dass ich manchmal beim Aufwachen aus einem besonders lebhaften Traum meine, einen Schimmer des Rotlichts zu sehen, das mich als Kind so fasziniert hat.
Mein Großvater sprach gern von seiner Arbeit und ich denke auch heute noch oft an die vielen Anekdoten aus seinem Berufsleben. Am klarsten aber habe ich die Geschichte mit dem Eisbärenfell vor Augen. Vielleicht, weil er diese besonders häufig erzählt hat, vielleicht auch deshalb, weil sie mich schon als Kind berührt hat, auch wenn ich noch nicht alles verstehen konnte.
Mein Großvater war Jahrgang 1898. Als er zwölf Jahre alt war, kaufte sein Vater ein Eisbärenfell. Die Geschäfte gingen gut, mehr und mehr Leute wollten sich fotografieren lassen und in den großen Städten war es Mode geworden, seine Kinder, so lange sie noch im Säuglingsalter waren, nackt auf einem Eisbärenfell ablichten zu lassen. So brachten denn auch schon bald die Mütter ihre Kinder, vornehmlich die Knaben zu meinem Urgroßvater, der erfreut feststellen durfte, dass neue Anschaffung sich gelohnt hatte. Kurz, die Familie brachte es, auch Dank des Eisbärenfells, zu einem bescheidenen Wohlstand.
Als sein Vater 1935 starb, übernahm mein Großvater das Geschäft. Das Eisbärenfell wurde noch eine Weile gebraucht, verschwand dann aber in einer Kiste auf dem Dachboden, als die Motive sich änderten. Es kamen keine Mütter mehr, die ihre nackten Säuglinge, die runden Popobacken in die Kamera gestreckt, fotografieren lassen wollten, sondern Soldaten in Uniform. Sie blickten ernst in die Linse, wussten sie doch, dass dieses Foto die einzige Erinnerung sein konnte, die den Liebsten zu Hause von ihnen bleiben würde.
Mein Großvater hat an dieser Stelle immer inne gehalten, den Blick in die Ferne gerichtet, als versuche er, sich all der Männer zu erinnern, die hier in seinem Atelier gesessen und einer unsicheren Zukunft entgegen gesehen hatten.
Im Mai 1941 betrat eine Frau mittleren Alters das Geschäft. Mein Großvater war gerade damit beschäftigt, einem Soldaten seine Fotos zu geben und sie wartete geduldig, bis sie an der Reihe war.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte er. Die Frau hatte die Hände auf die Theke gelegt und strich über die Holzmaserung.
„Früher gab es hier einen anderen Fotografen“, sagte sie.
„Das war mein Vater“, entgegnete mein Großvater. Die Frau schien erleichtert zu sein.
„Wie lange bewahren Sie die Negative auf?“, fragte sie.
„Nun, wissen Sie, ich habe noch die Negative aller Fotos, die ich geschossen habe.“
„Und was ist mit den Bildern, die Ihr Vater gemacht hat?“
„Na ja, mein Vater hat noch mit Platten gearbeitet. Wenn ich mich recht erinnere, sind die alle auf dem Dachboden. Ich bin noch nicht dazu gekommen, sie wegzuwerfen.“
„Gott sei Dank!“, rief sie, dann begann sie zu weinen. Mein Großvater erschrak furchtbar. Er ging um die Bedienungstheke herum und führte die Frau zu einem Stuhl. Sie setzte sich und er brachte ihr ein Glas Wasser und ein Taschentuch.
„Wissen Sie, ich hatte so gehofft, dass es die Negative noch gibt“, sagte sie schließlich, nachdem sie sich die Tränen getrocknet und sich ausgiebig geschnäuzt hatte. „Ich habe das Bild nämlich nicht mehr, ich habe es damals meiner Schwiegermutter gegeben.“
„Welches Bild?“
„Das Bild meines Sohnes“, sagte die Frau und begann wieder zu weinen.
Mein Großvater hat später immer erzählt, wie überrascht war, dass während der ganzen Zeit, die die Frau bei ihm im Geschäft saß, kein anderer Kunde hereingekommen war. Er sagte, es sei einer der magischen Momente im Leben gewesen, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint.
Die Frau sammelte sich wieder und erzählte meinem Großvater die ganze Geschichte. Wie sie mit ihrem Sohn 1922 hierher gekommen war, um den fünf Monate alten Jungen fotografieren zu lassen. Wie glücklich der Knabe gelacht hatte, als er auf dem weichen Eisbärenfell gelegen hatte. Sie hatte damals nur einen Abzug gekauft, für mehr hatte das Geld nicht gereicht, und diesen Abzug hatte ihr Mann dann seiner Mutter geschickt.
Die alte Frau war vor einigen Jahren gestorben und damals hatte der Schwager die Wohnung aufgelöst. Dabei musste das Foto des Sohnes im Müll gelandet sein, denn weder der Schwager noch die Schwägerin hatten es bei sich gefunden, als sie die beiden gebeten hatte, danach zu suchen.
„Warum ist es denn so wichtig, dass sie genau dieses Bild wieder bekommen?“, fragte mein Großvater. Erneut stiegen der Frau Tränen in die Augen.
„Mein Sohn war einer der ersten Soldaten in diesem Krieg“, sagte sie. „Ostfront. Wir haben vorgestern den Brief bekommen. Wir hatten nie viel Geld. Das Foto mit dem Bärenfell ist das einzige Kinderbild, das von ihm gemacht worden ist.“
„Wenn Sie mir den Namen sagen, schaue ich auf dem Dachboden nach“, sagte mein Großvater.
„Reinert“, erwiderte die Frau.
Mein Großvater brauchte nicht lange, die Negativplatte zu finden. Sie war noch gut in Schuss und er machte insgesamt zwei Abzüge. Die Frau wartete die ganze Zeit über geduldig im Geschäft, die Augen verschleiert, den Blick nach Innen gerichtet. Sie schluchzte von Zeit zu Zeit leise und wischte sich mit dem Taschentuch, das längst viel zu feucht war, um noch ihre Tränen trocknen zu können, über die Augen.
„So, bitte sehr“, sagte mein Großvater, als er fertig war und reichte der Frau die beiden Fotos.
„Danke“, sagte sie, „aber ich brauche nur eines davon. Es ist niemand sonst mehr übrig, der mit dem zweiten Bild etwas anfangen könnte. Was bin ich Ihnen schuldig?“
Mein Großvater schüttelte den Kopf.
„Ist schon in Ordnung“, sagte er. Die Frau nickte ihm zu und versuchte ein Lächeln. Dann steckte sie das Bild in ihre Tasche und verließ das Geschäft. Mein Großvater blieb mit dem zweiten Abzug in der Hand zurück.
Letztes Jahr habe ich, auf der Suche nach den Christbaumkugeln, bei meinen Eltern auf dem Dachboden eine alte Truhe entdeckt. Als ich sie geöffnet hatte, sah ich darin ein Eisbärenfell liegen. Der Pelz war fleckig und von Motten zerfressen. Die Glasaugen waren zerkratzt und ein paar der Zähne fehlten, aber ich wusste sofort, dass es das Eisbärenfell war, welches mein Urgroßvater einst angeschafft hatte. Ich nahm es aus der Truhe und breitete es auf den Dielen aus. Dabei segelte ein vergilbtes Foto zu Boden. Es zeigte einen nackten Säugling, der fröhlich in die Kamera lachte. Seine Händchen griffen in das damals noch dichte Fell des Eisbären und seine Augen leuchteten vor Lebensfreude. Auf die Rückseite hatte mein Großvater in seiner feinen Handschrift geschrieben: „Reinert 1922“.
Bildmaterialien: http://www.google.de/imgres?q=schreibfeder&start=121&hl=de&sa=X&biw=1600&bih=799&addh=36&tbm=isch&prmd=imvns&tbnid=e8xB17E6Pu20zM:&imgrefurl=http://de.123rf.com/photo_7483670_eine-hand-schreiben-mit-einer-schreibfeder.html&docid=qKxHh6VC5XuuEM&imgurl=http://us.123rf.com/400wm/400/400/isaxar/isaxar1008/isaxar100800241/7483670-eine-hand-schreiben-mit-einer-schreibfeder.jpg&w=387&h=400&ei=5vHpT6TRIYzFswbauqWqDg&zoom=1&iact=hc&vpx=576&vpy=442&dur=1720&hovh=228&hovw=221&tx=98&ty=138&sig=101941855897684184661&page=4&tbnh=140&tbnw=135&ndsp=42&ved=1t:429,r:19,s:121,i:196
Tag der Veröffentlichung: 12.08.2012
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