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Ich öffne meine Augen, starre an die desolate Verkabelung der verstaubten Deckenleuchte und versuche das Summen zu ignorieren, welches mich langsam aber sicher in den Wahnsinn treibt. Plötzlich höre ich ein Knistern. Ich greife genervt zur Stehlampe, drehe, und der Raum wird abrupt heller. Stille. Kennt ihr das Gefühl, wenn ihr so hungrig seid, dass ihr ernsthaft mit dem Gedanken spielt, dem schimmligen Toastbrot in der Ecke eine Chance zu geben? Oder das gelbe Zeug von der Butter zu kratzen, um sich damit ein–
Heute habe ich anscheinend kein Glück. Genervt knalle ich die Kühlschranktüre wieder zu und sinke deprimiert in meine abgefuckte Couch, um etwas Fern zu sehen; doch es läuft wieder mal nur anspruchsloser Mist – so anspruchslos, dass es mich schon wieder anspricht. Wie hypnotisiert bohren sich meine blutunterlaufenen Augen in die verdreckte Mattscheibe, um den Worten von David, 26, arbeitslos zu lauschen; obwohl ich kein Wort verstehe, da die Nachbarn wieder toben wie die Weltmeister. Fäuste die ohrenbetäubend durch brüchige Wände kriechen, Glas das zu Bruch geht, und: Schmerz. Ich kann ihn hören, riechen, schmecken, fühlen. Michael gehört anscheinend nicht zu den Menschen, die morgens singend und tanzend durch die Wohnung hüpfen – er dürfte ein ziemlicher Morgenmuffel sein. Seine Freundin tut mir leid. Von den meisten Leuten wird Michael auch liebevoll die Zange genannt, was daran liegt, dass er eine Beißzange braucht, um in seine Wohnung zu gelangen. Vor dem Einschlafen kann ich die beiden oft hören, wie sie sich im Treppenhaus verbal auf die Fresse hauen: “Wo ist die Zange, du Miststück!“ „Ich hab die verdammte Zange nicht! Du musst sie doch haben!“ Ich stelle mir dann immer vor, wie sie hektisch in ihrer Handtasche kramt. Meist hallt dann auch schon ein lautes Klatschen durchs Treppenhaus, gefolgt von wilden Beschimpfungen und lautem Stöhnen – zwar nicht immer in der Reihenfolge, aber anscheinend hat die Sache immer ein Happy End. Meistens setze ich mir dann Kopfhörer auf und höre etwas Musik, was ich auch jetzt gerne tun würde; doch meine Stereo-Anlage befindet sich beim Pfandleiher. Gähnend greife ich nach dem grünen Zeug an meinem Nachttisch, und während ich schockiert feststelle, dass sich meine Vorräte dem Ende neigen, spüre ich einen pulsierenden Schmerz unter meiner Schädeldecke, der sich bis zum linken Oberschenkel ausbreitet und sich dort fest verankert.
Ich liege einfach nur da, spiele mit dem Rauch, der sanft durch meine Lungen gleitet, betäubt, und dann wieder hektisch aus meinem Mund schießt, als hätte ihn gerade jemand vor dem Ertrinken gerettet.
Eine riesengroße Rauchschwade tänzelt durch den Äther, ich bekomme ein Gefühl – eine Ahnung -: es ist der Rausch, der langsam aber sicher meine Sinne kontrolliert.
Mein Lider senken sich immer wieder für ein paar Sekunden, und langsam sickere ich in das Land der Träume. Alles rund um mich verliert an Bedeutung: Die Risse an den Wänden; die Techno-Musik vom fünften Stock; die ungeöffneten Briefumschläge, die meist postwendend in den Mülleimer wandern; die oxidierenden Kupferleitungen, die aus dem lausigen Laminat ragen; und eben, Michael.
Plötzlich – ein Knall. Was war das? Rascheln.
Es kommt vom Balkon. Ich setze mich auf die Bettkante (wobei ich in irgendetwas Klebriges steige) und öffne die Balkontüre, die ein lautes Stöhnen von sich gibt. Mich trifft der Schlag: Raben! Sie picken in einem der Müllsäcke herum! Einer liegt am Boden – blutend. Mir reicht´s. Ich brauche frische Luft! Ich schlüpfe in meine durchlöcherten Turnschuhe, sperre die Wohnungstüre auf und verlasse die Wohnung. Ich schließe sie wieder auf – der Müllsack.

Mühsam zerre ich das Teil zum Fahrstuhl, wo die Putzfrau auch schon eifrig den Fußboden wischt, wie sie es jeden Dienstag um dieselbe Zeit macht. Ich vermeide jeglichen Blickkontakt mit ihr und springe großzügig die Treppen hinab; doch ich merke förmlich wie sie hinter mir steht, mich ihr Blick von hinten aufspießt, als wäre ich es gewesen, der in den Fahrstuhl gekotzt hätte. Plötzlich passiert etwas, was dem heutigen Tag wieder wie in den Antlitz geschneidert ist:
Der beschissene Billig-Marken-Müllsack reißt, und Kaskaden von MÜLL ergießen sich polternd über die Treppen hinab – direkt vor die Füße des Briefträgers, der meiner Meinung nach einen ziemlichen Dampf hat – verständlicher Weise. Leere Bierdosen, Kaffeefilter, Nudeln, und ein Pornomagazin, deren Öffnung sich als sehr problematisch erweisen würde. Ich drehe mich um und starre die völlig entgeisterte Frau schuldbewusst an; doch es fehlt mir an Authentizität, denn sie brüllt sofort drauf los:„JESUS MARIA! WAS DU MACHEN?!“ Ich versuche ihr meinen Standpunkt zu verdeutlichen, werde aber sofort unterbrochen:“IDIOT!“ Sie schaut drein als würde sie gleich losheulen oder so, deswegen mach ich mich schnell aus dem Staub, während sie mir noch wutentbrannt albanische Flüche hinterher schickt.

Ich spaziere durch die zugemüllten Straßen – eine Disco lädt plakativ zur einer „Slut-Party“, diesen Samstag. Auch ich war schon in dieser Disco und muss mich fragen, wo denn der Unterschied zu einer normale Party dieses Etablissements bestünde? – Eigentlich will ich es gar nicht wissen. Vorm Supermarkt kniet eine verschleierte Frau, die mir dreist ihre aufeinandergelegten Hände entgegenstreckt und mir dabei einen mitleiderregenden Blick zu wirft, während sich mir einladend die automatische Supermarkttüre öffnet und mich daraufhin weißt, dass ich dringend eine Rasur nötig hätte, was mich momentan aber eher weniger tangiert.
Im Eingangsbereich haben sie Bierkisten zu kleinen Türmen gestapelt – so klein, dass auch die Winzigsten unter uns noch nach einer Flasche „Wieselburger“ greifen können.
Verplant und noch etwas geschockt von den Ereignissen, die sich mir zuvor zugetragen haben, latsche ich durch Gang 1 – umzingelt von Spirituosen und Süßkram.
Die alte Oma: Sie starrt mich an. In den Händen hält sie eine Packung Pralinen; doch anscheinend gilt es jetzt, den kleinen Jungen in der fleckigen Jogginghose anzustarren. Sie macht mir etwas Angst, also entziehe ich mich ihres Blickes und gehe selbstsicher an ihr vorbei, während es in meiner Hosentasche eindrucksvoll scheppert. „Passen sie doch auf!“ Ist das denn zu fassen? Da rammt mich so eine Botox-Schnepfe mit ihrem beschissenen Einkaufswagen und meint doch tatsächlich - ich solle aufpassen. „Wie soll ich den jetzt noch aufpassen? Erklären Sie mir das mal!“
Lädiert und sichtlich gereizt marschiere ich zur Feinkost-Abteilung: „Eine Kaisersemmel bitte.“
Na toll, jetzt zerdrückt sie mir noch die ganze Semmel mit ihren dicken Wurstfingern.
Pack doch noch fester zu, du dummes Miststück!
In mir kocht die Wut; dennoch bedanke ich mich höflich und spaziere zur Kasse, wo schon die nächste Herausforderung auf mich wartet, denn die Verkäuferin scheint mir eine ziemliche Faulenzerin zu sein, was ich an der Art und Weise ausmache, wie sie genervt auf meine Semmel glotzt und dabei mit dem Kaugummi in ihrem Mund herumspielt, dessen neongrüne Farbe schon Grund genug für ihre Entlassung wäre – widerlich.
Der Mann vor mir packt gerade eine Tiefkühlpizza und ein Päckchen Zigaretten in eine riesengroße Plastiktüte, als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes gemacht.
Was hat er denn da an seinem Polo-Shirt? Ist das ein Krokodil? Der sollte sich mal einer Stilberatung unterziehen! Das ist ja nicht zu fassen! Gelangweilt grapscht die Kassiererin nach meiner Semmel und sieht mich dabei ausdruckslos an, als wäre ich die größte Banalität, die sie je zu Gesicht bekommen hätte – in ihrer Laufbahn als Supermarktkassiererin. „Das macht dann 33 Cents.“ Ich greife in meine rechte Hosentasche und befördere eine Handvoll Kupferlinge zu Tage, die sich über den Händen der ungläubigen Kassiererin ergießen, während der Krokodil-Junge das Geschehen mit weit offenem Mund beobachtet. Mit einer Bequemlichkeit, die man schon als persönlichen Affront auffassen könnte, dreht und wendet die arrogante Tussi jede der 33 Cents, als wäre es ein Ding der Unmöglichkeit, die Münzen anhand ihrer Größe zu unterscheiden.
Mir soll es recht sein, denn eigentlich sind es nur 27 Cents; doch während die Schnepfe noch am Zählen ist, beiße ich schon herzhaft in meine Semmel und riskiere einen verstohlenen Blick in den Ausschnitt der heißen Blondine, die gerade dabei ist, fürsorglich, ihr Fahrrad abzusperren.
Der Typ im Krokodil-Shirt heißt übrigens David Metschik – so steht es zumindest in seinem Führerschein.

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Tag der Veröffentlichung: 15.07.2012

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