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»Jeglicher Zauber geht verloren, wenn du versuchst, ihn einzufangen.«

- Helga Schäferling

» Prolog «

                                                                                                             Wyvern im Winterland, 2012



„Hör genau zu! Diese Schriftrolle ist unendlich kostbar! Hüte sie mit deinem Leben!“, flüsterte sie ihm eindringlich zu.

Der junge Mann schluckte schwer und nickte. Er wusste ganz genau, wie viel von diesem Schriftstück abhing. In seinen Händen war sie sicher und er würde alles in seiner Macht stehende tun, um zu verhindern, dass sie in die falschen Hände geriet.

„Und wenn du dort bist, versteckst du sie im Wald der verlorenen Seelen. Danach kehrst du wieder zurück und machst dich auf die Suche nach dem Hexenweib. Du wirst ein Auge auf sie haben, verstanden? Aber komm ihr nicht zu nahe, sonst gerät alles noch mehr außer Kontrolle“, die Stimme der alten Dame brach und sie schluckte schwer, ehe sie fortfuhr. „Deine Mutter wäre so stolz auf dich, wenn sie dich jetzt sehen könnte.“

Sie fuhr ihm liebevoll durch die Haare, ehe sie ihre Hand eilig zurückzog, als hätte sie sich verbrannt.  Eine Patrouille lief dicht an dem Häuserblock vorbei. Die einheitlich stampfenden Schritte kündigten die nächsten Soldaten an.

„Ach ja, und denk immer daran: Verhalte dich unauffällig und nenne niemandem deinen wahren Namen!“

Noch ein letztes Mal gestattete sie sich ein Lächeln, dann löste sie sich vor seinen Augen in Luft auf. Der junge Mann atmete tief ein und wieder aus.

Behutsam schob er die Schriftrolle unter seinen Mantel. Etwas nervös kaute er auf seiner Unterlippe herum. Wäre ihr eine andere Wahl geblieben, hätte sie sicherlich nicht ausgerechnet ihm diesen wichtigen Auftrag zugeteilt. Mit fahrigen Fingern schob er sich die Kapuze tief ins Gesicht und die Hände steckte er in die weitgeschnittenen Taschen. Er senkte den Kopf und zog sein linkes Bein etwas nach, so, als würde er hinken. Die nächsten Wachmänner würdigten ihn keines Blickes und stampften einfach weiter. Das vermeintliche Hinken war eine erstklassige Tarnung.

Warum sollten sie ihn auch beachten? Schließlich gab er nur das Bild eines einfachen, jungen Mannes ab, der einen schwarzen, ausgefransten Mantel trug und im Krieg vermutlich verletzt worden war. Kurz blieb er stehen und rieb fröstelnd die kalten Hände aneinander, um sie zu wärmen. Schon seit fast einem Jahrzehnt herrschte in Wyvern Winter und er fragte sich, ob sich das in den nächsten Jahren überhaupt noch ändern würde.

Niemand hielt ihn auf, oder warf ihm gar einen verstohlenen Blick zu. Trotzdem ging es viel zu langsam voran, er musste gegen Ende des Tages wieder auf der anderen Seite sein. Er wurde schließlich erwartet.

» Das Feenblut «


»Je tiefer wir über uns nachdenken, desto weniger wissen wir, wer wir sind.«

     - Manfred Poisel 



 

Olivfarbene Augen, silberner Glanz und ein fast schwarzer Ring, der die Iris umschloss. So hatte meine Schwester Belle immer meine Augen beschrieben. Dunkle Augenringe zierten mein Gesicht und zeugten von vielen, schlaflosen Nächten. Meine Haut war so bleich, dass man sie schon als fahl bezeichnen konnte. Ich vermied es nach draußen zu gehen und wenn ich mich doch aus dem Haus wagte, dann nur wenn meine Tante mich zum Einkaufen schickte. Meine dunklen Haare fielen mir glanzlos und ungekämmt über die Schultern, ich würde sie mir bald wieder schneiden müssen. Die Nägel waren entweder abgebrochen oder abgekaut worden. Meine Wangenknochen stachen zu sehr hervor und ließen mein Gesicht noch magerer wirken. Eingehend betrachtete ich die Person im Spiegel. Nein, diese Person wollte ich sicherlich nicht sein. Aussehen spielte für mich noch nie eine große Rolle, allein Belle hatte mich dazu gebracht, mich überhaupt ein wenig zu schminken und mir etwas anderes anzuziehen, als eine einfache Jogginghose.

Da meine Tante heute wieder Nachtschicht im Krankenhaus hatte, in dem sie als Krankenschwester arbeitete, konnte ich meinen 18.Geburtstag alleine feiern. Vor drei Jahren, als ich von Portland nach Dallas gezogen war, hatte ich die Schule abgebrochen und mich hauptsächlich in meinem Zimmer verkrochen. Dort hörte ich entweder Musik, zeichnete oder träumte vor mir mich hin. Meine Tante, Rachel, war die Schwester meines Vaters gewesen und da sie keine Kinder oder einen Lebenspartner hatte, lebte ich seit dem Brand bei ihr.

Die genauen Ursachen für den Hausbrand wusste man nicht, aber die Feuerwehrleute vermuteten, dass es Brandstiftung gewesen war. Ironischerweise hatte ich nur deshalb überlebt, da ich meinen Eltern nicht gehorcht hatte. Wäre ich in jener Nacht nicht abgehauen, wäre ich nicht mehr am Leben.

Meine große Schwester Belle vermisste ich am meisten. Ich hatte immer zu ihr aufgesehen, trotz unserem geringen Altersunterschied. Wir waren wie Pech und Schwefel gewesen und hatten zusammen alles unternommen.

Das schrille Läuten meines Weckers erinnerte mich daran, dass es bereits 20 Uhr war und ich mich langsam fertig machen musste. Da heute mein Geburtstag war, hatte ich mir vorgenommen in eine Diskothek zu gehen und mich vielleicht auf eine Couch zu setzen und die Leute beim Tanzen zu Beobachten. Das klang wirklich sehr einsam.

Nur wenig Make-Up trug ich auf, meine Haare band ich zu einem Pferdeschwanz zusammen und ich entschied mich für eine einfache Blue-Jeans und ein purpurrotes rotes Oberteil, das hinten tief ausgeschnitten war. Schuhe mit hohen Absätzen tat ich mir nicht an. Warum sollte man auch stundenlang leiden, nur um besser auszusehen? Einige Minuten später verließ ich die kleine Wohnung, sperrte sorgsam ab und versicherte mich noch einmal, dass ich ja nichts vergessen hatte.

Da die Disko nur ein paar Ecken von meinem Wohnblock entfernt war, hatte ich auch keinen langen Fußmarsch vor mir. Vor dem Eingang bildete sich schon eine immer länger werdende Schlange. Jedoch ging es überraschend schnell voran, weshalb ich auch nach wenigen Minuten schon vor dem Sicherheitsmann stand. Es war ein bulliger, kahlköpfiger Mann, der mich aus seinen kleinen Augen prüfend musterte.

„Deinen Pass, junges Fräulein“, forderte er mich auf und streckte mir die Hand entgegen.

Gut, dass ich daran gedacht hatte. Aus meiner Hosentasche holte ich meinen Personalausweis heraus und hielt ihn ihm unter die Nase. Kurz verglich er mich noch mit meinem Foto im Ausweis, dann nickte er schließlich und trat einen Schritt beiseite.

Von außen sah das Gebäude aus wie eine Garage, die man vergessen hatte neu zu streichen und in der man nichts Außergewöhnliches vermutete. Drinnen angekommen stellte ich jedoch positiv überrascht fest, dass aus diesem Raum eine ansehnliche Bar entstanden war. Vor einem Jahr standen diese Räumlichkeiten noch zum Verkauf und ich hatte sie mir aus reiner Langweile angesehen. In der Mitte des Raumes war eine riesige Tanzfläche, über der sich eine Diskokugel drehte, und auf der sich schon einige Leute tummelten. Daneben war eine lange Bar aufgebaut worden, auf dessen Hockern sich auch schon einige niedergelassen hatten. Außerdem gab es noch eine Treppe, die zu einer Art Galerie hinaufführte, und in der man Sofas und Tische finden konnte.

Da ich weder tanzen konnte, noch wollte, beschloss ich gleich hinauf zur Galerie zu gehen, in der Hoffnung dort ein bekanntes Gesicht zu treffen. In Dallas kannte ich nicht viele Leute, vor allem nicht dafür, dass ich nun schon seit einigen Jahren hier wohnte. Oben angekommen waren bereits alle Sofas und Sitze von kleinen Gruppen besetzt.

„Morgaine?“, hinter mir erklang eine Stimme. „Bist du das?“

Ich drehte mich um zu der Person die mich gerade angesprochen hatte. Sandfarbenes Haar, ozeanblaue Augen und einen bunten Drink in der Hand.

„Gideon“, meinte ich etwas verwundert.

Erst einmal war ich unheimlich erleichtert, überhaupt eine Person zu treffen, die ich kannte. Ich hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, wieder nach Hause zu gehen und mir einfach einen Film anzusehen.

„Ich hätte nicht damit gerechnet, dich hier zu sehen. Gibt es einen besonderen Anlass?“

„Naja…Ich hab heute Geburtstag.“ „Was?“, gespielt geschockt schlug er die Hand vor den Mund. „Und das sagst du mir nicht? Süße 18, hm?“

Er musterte mich von oben bis unten, dann schnalzte er mit der Zunge.

„Weißt du was? Das müssen wir ordentlich feiern!“

„Also eigentlich wollte ich wieder nach Hause gehen, ich fühle mich ehrlich gesagt nicht so wohl.“ „Keine Widerrede! Jetzt wird gefeiert! Ich kenne da jemanden, der jemanden kennt, der diesen Typen, der gerade an der Bar sitzt, kennt“, Gideon deutete auf einen Mann, der auf einem Barhocker saß und dessen Hinterkopf ich nun bewundern konnte. „Und dieser Typ macht die Preise hier in Dallas, wenn du verstehst was ich meine“, er wackelte mit den Augenbrauen.

„Klar“, sagte ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, wo von er gerade redete.

„Also gut, du setzt dich jetzt hier auf die Couch da drüben, zu einer guten Freundin von mir und wartest, bis ich den Kumpel von mir gefunden habe, der Zugang zu dem Typen an der Bar hat.“

Gideon legte seine Hand in meinen Rücken und schob mich in Richtung Couch, ehe er kehrt machte und sich auf die Suche nach seinem Freund machte. Die gute Freundin von ihm hatte pinkfarbene Haare und ein schwarzes, eng anliegendes Minikleid an, das an den Enden ausgefranst war. Ihre Haare waren so pink und wirkten so unecht, dass ich mich fragte, ob sie überhaupt echt waren und sie vielleicht einfach nur eine Perücke trug. Sie hatte mehrere Piercings in den Ohrläppchen und in der Nase und auch einige, bunte Tattoos rankten sich um ihre Arme.

Als ich nun auf das Sofa zusteuerte, hob sie denn Kopf und lächelte mit freundlich an.

„Du hast gerade mit Gideon geredet, ich nehme mal an, das er dir angeboten hat dich zu mir zu setzen“, als nächstes streckte sie mir die Hand entgegen. „Ich bin Amy.“

„Morgaine.“

Ich schüttelte ihre Hand und zog sie dann gleich wieder zurück. So eine freundliche Begrüßung hätte ich ehrlich gesagt gar nicht erwartet.

„Mhmm…Da kommt Gideon mit Robi“, sie grinste und trommelte mit den Fingern auf den kleinen Tisch, der vor uns stand.  

Erst jetzt fielen mir die aufwendig lackierten Nägel auf. Wie lange man wohl an einem einzelnen Nagel arbeitete, bis er so perfekt aussah? Robi strich sich mit der Hand durch seine hellbraunen Haare. Jetzt fiel mir auch seine schiefe Nase auf, und ich fragte mich, ob er seinem Ruf alle Ehre gemacht hatte und sie von einer Prügelei herstammte.

„Wir haben es“, Gideon holte aus seiner Hosentasche eine kleine Phiole, die mit einem Gummistopfen verschlossen worden war.

Die Flüssigkeit darin war dunkelrot und sah aus wie Blut. Vermutlich hatte man dieses Mittel extra so angefärbt, damit man einen kleinen Schreck bekam. Die drei, die sich untereinander anscheinend alle schon recht gut kannten, betrachteten das kleine Fläschchen nicht so, als würden sie es zum ersten Mal sehen. Meine Fingerspitzen zuckten nervös und ich fragte mich, ob es wirklich so intelligent war, diese Drogen zu nehmen. Gab es irgendwelche unangenehmen Nebenwirkungen davon? Aber jetzt war es zu spät, um zu kneifen. Außerdem konnte ich bestimmt eine kleine Auflockerung vertragen.

Robi schob jedem ein Glas zu, in dem sich Wodka-Soda befand, wie er uns erklärte. Danach schüttete er jeden gleich viel von der geheimnisvollen Flüssigkeit hinein und rührte es dann noch einmal bei jedem mit einem Strohhalm um.

„Das Zeug ist nichts für schwache Nerven und auch extrem teuer. Nun gut, auf Ex. Und wir stoßen noch auf“, kurz stockte Robi und schaute fragend zu Gideon hinüber. „die Neue an. Alles Gute zum 18. Cheers!“

Alle hoben ihre Gläser an, einschließlich mir, und kippten den gesamten Inhalt auf einmal hinunter. Ich redete mir ein, dass es richtig gewesen war, was ich getan hatte. Schließlich war ich nun 18 Jahre alt und die Verantwortung über mein Leben lag nun gänzlich bei mir. Als ich das leere Glas wieder absetzte, verzog ich das Gesicht und bekam eine leichte Gänsehaut. So viel auf einmal und auf leeren Magen war ich nicht gewohnt.

Amy ließ sich nach hinten fallen und man merkte ihr an, wie sie sich gänzlich entspannte. Bei Robi hatte es anscheinend eine ganz andere Wirkung, da er plötzlich aufsprang und breit grinste.

„Wie ich sehe, macht ihr es euch auf dem Sofa gemütlich und daher werde ich euch nicht länger stören. Ich widme meine Aufmerksamkeit nun dieser schönen Brünetten, die sich gerade auf die Tanzfläche gewagt hat“, teilte er uns mit, wackelte noch einmal anzüglich mit den Augenbrauen und verschwand dann in der tanzenden Menge, die sich eine Etage unter uns tummelte.

Gideon ließ sich neben sie auf die Couch fallen, legte einen Arm um ihre Schultern und schloss die Augen. Keine Minute später konnten wir das laute Schnarchen von ihm hören. Wir brachen sofort in lautes, etwas zu schrilles Gelächter aus und kicherten anschließend wie Fünfjährige. Die Musik hörte sich nun viel lauter an und dröhnte in meinen Ohren. Auf meinen Armen bekam ich plötzlich überall Gänsehaut. Erst jetzt fiel mir auf, wie warm und stickig es hier drinnen eigentlich war. Es kam mir vor, als würde ich für einige Sekunden fast keine Luft mehr bekommen und als ich wieder zu Atem kam, wurde mir schwindelig. Kurz verschwamm alles vor meinen Augen, dann klärte sich meine Sicht wieder.

„Morgaine sieht so aus als würde es bei ihr wirken“, kicherte Amy.

„Ich geh mal kurz raus an die frische Luft“, teilte ich ihnen mit.

Die anfängliche gute Laune war verschwunden und mir war auch nicht mehr zum Lachen zumute. Auf dem Weg nach draußen stützte ich mich an der Wand ab, um nicht umzukippen. Die Leute beachteten mich gar nicht, für sie schien es einfach ganz gewöhnlich zu sein, dass hier bekiffte Mädchen durch die Gegend liefen und sich nicht einmal richtig auf den Füßen halten konnten.

Kurz schaute ich mich nach Gideon oder Amy um. Wenn sie da gewesen wären, hätte ich sie gebeten mich zu begleiten, aber vermutlich waren die dafür selbst gar nicht im richtigen Zustand.

Als ich mich wieder umdrehte, bemerkte ich, wie der Mann, von dem Gideon und Robi den Stoff gekauft hatten, sich mir zugewandt hatte. Da es so dunkel war, konnte ich jedoch nichts Genaueres erkennen und ich ging weiter.

Schließlich hatte ich es nach draußen geschafft, wo ich mich einfach erst einmal auf den kalten Bürgersteig setzte, bis ich wieder gehen konnte. Ich schloss die Augen, atmete tief ein und aus, und stand dann wieder mühsam auf, als das Schwindelgefühl langsam abgeklungen war. Ich war wirklich erleichtert, dass es mir wieder besser ging. Schon fast hatte ich befürchtet, mitten auf der Straße umzukippen.

Es war bereits ganz dunkel und die Luft hier draußen war angenehm frisch und erholend, genau das was ich jetzt benötigte. Auf dem Weg nach Hause spürte ich ein leichtes Kribbeln in den Finger- und Zehenspitzen. Meine Zunge fühlte sich wie betäubt an und etwas pelzig. Das Herz schlug so laut und schnell, dass ich schon Angst hatte, dass es der Typ auf der anderen Straßenseite hören könnte. Bestimmt war das noch eine Nebenwirkung von den Drogen. Nur gut, dass meine Tante noch nicht zu Hause war. Den Rest torkelte ich regelrecht nach Hause und die Schwummrigkeit verschwand auch nicht vollkommen.

Im Schein der Straßenlaternen warf ich einen langen Schatten. Der zweite Schatten gehörte nicht mir, sondern der Person hinter mir. Ich versuchte unauffällig den Kopf nach hinten zu drehen, um zu sehen wer das war. Doch als ich den Kopf drehte, war niemand dort. Verwundert blieb ich stehen, um mich zu versichern, dass dort sicherlich niemand war. Als ich feststellte, dass ich mich vermutlich getäuscht hatte, schüttelte ich nur den Kopf über meine Paranoia und ging beklommen weiter.

Als ich schließlich endlich in meiner Wohnung ankam, ich hatte den Aufzug genommen, hängte ich erst einmal Schlüssel und Jacke an den Haken. In der Küche holte ich mir ein kühles Glas Wasser, in der Hoffnung damit meine Kopfschmerzen zu vertreiben. Danach öffnete ich in meinem Zimmer das Fenster und setzte mich in meinen schwarz-weiß gepunkteten Sessel und ich schloss die Augen. Mit Zeige- und Mittelfinger massierte ich die Schläfen. Die Kopfschmerzen wollten einfach nicht besser werden. Als es mir langsam zu kühl wurde, stand ich wieder auf und schloss das Fenster. Mann, war es hier kalt! In unserem alten Haus hatten wir einen riesigen Kamin gehabt, der unser gesamtes Wohnzimmer damals beheizt hatte. Feuer. Das hatte ich vor dem Brand immer faszinierend gefunden.

Ich ließ mich wieder in dem Sessel nieder und schloss abermals die Lider. Ich rümpfte angewidert die Nase, als plötzlich Rauch die Luft erfüllte. Wie konnte das sein? Gerade eben hatte ich doch noch gelüftet. Als ich die Augen aufschlug, musste ich einen entsetzen Schrei unterdrücken, als auf einmal eine riesige Flamme auf meinen Vorhang übersprang. Der schöne Vorhang brannte wie Zunder und ich konnte gerade noch rechtzeitig aufspringen, ehe das Feuer mich erreichte. Schnell drehte ich mich um, um in die Küche zu laufen, wo sich der Feuerlöscher befand. Ich hatte darauf bestanden, ihn in meiner Nähe zu haben und meine Tante hatte verständnisvoll eingewilligt. Jetzt würde dieser Umstand der Wohnung und mir noch das Leben retten. Doch so weit kam ich gar nicht erst, denn eine neue heiße Flamme züngelte wie aus dem Nichts empor, als ich das Zimmer verlassen wollte.

Ich schluckte den dicken Kloß hinunter, der sich in meinem Hals gebildet hatte. Bei dem Gedanken, auf die gleiche Art und Weise zu sterben wie meine Familie, brach mir der Schweiß aus und ich fing an aufgeregt nach Luft zu schnappen. Suchend sah ich mich in meinem Zimmer nach etwas Hilfreichem um. Entschlossen packte ich meine Decke und warf sie über den entflammten Teppich. Das Feuer erlosch. Da hatte ich wohl noch einmal Glück gehabt. Erleichtert atmete ich aus und wollte mich gerade daran machen, einen neuen Versuch zu starten, um in den Flur zu hasten, da stieg die nächste Flamme dicht vor mir empor. Das konnte nicht wahr sein! Wollte mich hier irgendjemand verarschen? Das war doch nicht mehr normal! Vielleicht war das nur eine Halluzination? Eine unwillkommene Nebenwirkung der Drogen? Ich bereute mittlerweile sie genommen zu haben.

Der Rauch belastete immer mehr meine Lungen und irgendwann hatte ich mal gehört, dass die meisten Menschen in einem Hausbrand erstickten und nicht Feuer fingen, so wie man sich das immer vorstellte. Mein Hals war so trocken wie die Sahara und ich wünschte mir im Moment nichts sehnlicher als ein Glas, gefüllt mit gekühltem Wasser. Erneuter Schwindel überkam mich. Um zu verhindern, aus Versehen noch mehr von dem Qualm einzuatmen, zog ich den Ausschnitt meines Oberteils hoch und hielt mir den Stoff vor den Mund. Durch das Fenster konnte ich nicht klettern, da ich weder einen Balkon noch eine Regenrinne besaß, an der ich alternativ dann runterrutschen könnte. Und aus dem 8. Stock zu springen war bestimmt nicht sehr bequem.

Überall um mich war die Luft mit Rauch erfüllt und alles, selbst mein Kleiderschrank, hatte bereits Feuer gefangen. Ich war dann wohl als nächstes dran. Mein Schwindelgefühl und meine Kopfschmerzen nahmen immer weiter zu, und ich fragte mich, wie lange ich noch durchhalten würde. Ich fragte mich, ob man das Feuer von außen sehen konnte und ob Leute unten standen und meinen Tod betrauern würden. Wenigstens war die Wohnung gut versichert, dafür hatte meine Tante gesorgt. Geschockt blickte ich um mich. Der gesamte Raum stand in Flammen und es war siedend heiß. Meine Augen brannten und ich hustete wieder rau. So würde es also enden. Ich würde auf die gleiche Weise sterben wie meine Eltern, obwohl das nicht als wirklich tröstend empfand. Eine eigenartige Leere machte sich in mir breit und ein leiser Schluchzer entfuhr mir. Nein, ich war noch nicht bereit zu sterben, noch nicht jetzt! Mein Herz raste so schnell, dass ich befürchtete, dass es mir gleich aus der Brust springen würde. Erneut wurde mir wieder schwindelig.

Alles um mich herum wurde schwarz. Das Letzte, was ich spürte, war, wie irgendjemand mich aufhob und davon trug. 

» Von Hexen und Hobbits «


»Faszination: Von einem Eindruck gefesselt, seines Verstandes beraubt.«
     - Prof. Querulix

 

 

 

„Hier, trink das“, er hielt mir eine Wasserflasche entgegen.

Meine Lunge fühlte sich an, als wäre sie mit Staub und Straßendreck gefüllt und meine Augen tränten noch immer. Auf meinen Fingern bildeten sich kleine Brandbläschen. Das war passiert, als ich versucht hatte, mein Gesicht vor den Flammen zu schützen. Einige Haarsträhnen waren an den Spitzen gegrillt worden und ich roch, als hätte ich in Rauch und Ruß gebadet.

Ich riss ihm die Flasche beinahe aus der Hand und trank sie hastig in wenigen Schlucken aus.

Erst jetzt kam ich dazu, mein Gegenüber zu mustern. Hatte er mich etwa aus dem Feuer gerettet? Naja, ansonsten war ja niemand hier. Die Straße, auf der wir uns befanden, war wie leergefegt. Als ich mich umdrehte, sah ich, das auf der Kreuzung die Feuerwehr stand und sich außerdem schon einige Schaulustige, in einem sicheren Abstand, genähert hatten. Der Kerl ging in die Hocke, um mir besser in die Augen sehen zu können.

Er fixierte mich, so, als wäre ich ein ungezähmtes, unberechenbares Tier, das jeden Moment seine Krallen ausfahren und sich auf ihn stürzen würde. Dabei würde das viel besser zu ihm passen. Er hatte etwas Wildes, Ungebändigtes und Katzenhaftes an sich. Seine Augen strahlten leuchtend blau. Es erinnerte mich an Feuer, blaues Feuer. Der Teil der Flammen, wo es am heißesten war. Er strich sich durch seine pechschwarzen Haare, die glatt und etwa kinnlang waren. Mein Blick wanderte zu seiner aufgeschlagenen Lippe und zu seiner Wange, auf der eine feine Narbe und daneben ein längerer, frischer Kratzer prangten. Das verlieh ihm unter anderem auch ein verruchtes, verwegenes Aussehen. Er trug eine dunkelblaue Jeans, ein schwarz bedrucktes T-Shirt auf dem „Batman“ stand und eine schwarze Lederjacke. Sein Alter schätzte ich auf Anfang zwanzig, wenn überhaupt.

Stumm starrten wir uns an, ohne ein Wort zu sagen. Auf seinem Gesicht war ein Ausdruck von Verzweiflung und Konzentration.

„Danke“, meinte ich schließlich, wobei ich mich sowohl auf das Wasser, als auch auf meine Rettung bezog.

Wieder spürte ich dieses eigenartige Kribbeln in den Fingerspitzen.

„Du hast keine Ahnung, was?“, seufzte er schließlich.

„Kommt drauf an, was du meinst“, entgegnete ich.

Er schüttelte den Kopf und knirschte lautstark mit den Zähnen. Das konnte nicht gesund sein.

„Das Zeug, das Gideon dir in den Drink geschüttet hat, stammt von mir“, fing er an.

Aha, er war also dieser Drogendealer.

„Hm. Wie sage ich das jetzt am besten? Nun gut. Das vorhin waren nicht irgendwelche Drogen, das war Feenblut. Wenn ich gewusst hätte, dass du nicht einer von diesen ganz normalen Menschen gewesen bist, hätte ich dafür gesorgt, dass du niemals das Blut in die Finger bekommst. Aber wer hätte denn ahnen können, in solch einer Bar eine Hexe anzutreffen?“, seufzend sah er mich an. „Du meinst das Blut von Feen? Elfen, Elben, Alben und Orks und so etwas in der Art?“, sagte ich sarkastisch und schmunzelte, woraufhin der junge Mann nur verärgert die Stirn runzelte.

„Wir sind hier nicht in Mittelerde, in einer von Tolkiens fantastischen Welten, das hier ist die Erde!“

„Ich weiß, dass das hier die Erde ist, ich lebe hier schließlich. Und von wo kommst du? Vom Mond?“

Er sprach ja schon fast so von der Erde, als gäbe es jetzt noch ein paar andere Planeten und Welten. Dieser Typ war wirklich merkwürdig. Hatte er eigentlich auch einen Namen?

„Nein. Was ich eigentlich sagen wollte ist, dass ich mit dem Feenblut deine magischen Kräfte aktiviert hast und du nun eine vollwertige Hexe bist“, versuchte er mir sachlich zu erklären.

„Jetzt bin ich auch noch eine Hexe? Was willst du jetzt machen? Mich auf dem Scheiterhaufen verbrennen? Satan um Hilfe bitten? Du hast echt nicht alle Tassen im Schrank.“

„Eigentlich hatte ich nicht vor dich zu verbrennen. Das Feenblut gibt dir gerade einen Energiekick und sobald es nachlässt wirst du dich recht schwach fühlen und dann wirst du auch sehr schlecht gelaunt sein. Du bist im Moment also nicht zurechnungsfähig.“

„Ach ja? Bist du es etwa?“, erwiderte ich und grinste.

Vielleicht hatte er ja selbst etwas von diesen Drogen probiert? Wahrscheinlich hatte er auch nicht nur davon gekostet, sondern gleich mehr von dem Zeug gefuttert.

„Du musst versuchen runterzukommen und dich nicht zu viel zu bewegen. Mach einfach…am besten gar nichts.“

„Wie kommst du darauf, dass du mir etwas vorschreiben kannst? Ich kenne noch nicht einmal deinen Namen.“ „Mordred. Mein Name ist Mordred“, meinte er schließlich.

Mordred? Ich konnte mich nicht erinnern, diesen Namen je gehört zu haben. Seine Eltern mussten wohl einen sehr eigenartigen Geschmack haben. Kurz schloss er die Augen, atmete tief ein und öffnete sie dann wieder. Er stieß einen leisen Fluch aus, ehe er aus seiner Hostentasche sein Handy heraus holte, darauf herum tippte und es sich ans Ohr hielt. Er telefonierte jetzt also, wie schön.

„Bitte, leg nicht gleich auf! Es ist ein Notfall. Ich habe richtig große Scheiße gebaut“, er stoppte kurz und runzelte die Stirn. „Erinnerst du dich daran, dass ich dir erzählt hatte, das ich auch noch mit etwas anderem deale, als mit dem normalen Zeug?“, wieder wartete er kurz. „Ja, ich meine das Feenblut. Naja…sieht ganz so aus als hätte da jemand aus Versehen seine magischen Kräfte aktiviert“, geistesabwesend nickte er. „Nein, hat sie nicht. Glaubst du ich kann zu euch kommen? Ich hab wirklich keine Ahnung, wo ich sonst mit ihr hin soll. Sie hat schon ihre halbe Bude abgefackelt“, wieder wartete er kurz. Mordred hatte einen gequälten Gesichtsausdruck und nickte wieder. „Danke, Savan. Wenn ich eine andere Möglichkeit wüsste, würde ich dich nicht anrufen.“

So wie sich das anhörte, war diese Savan genauso neben der Kappe wie er selbst. Bei wem bin ich hier nur gelandet? Was würde meine Tante nur sagen? Natürlich würde sie sich zuerst einmal riesige Sorgen um mich machen, aber andererseits wäre sie sicherlich auch ein wenig wütend. Mordred legte auf, schob das Handy in seine Jackentasche und seufzte leise.

„Da ich nicht weiß, wie ich dir sagen kann, dass du eine Hexe bist und ohne mich dabei für einen Verrückten zu halten, verleihe ich dir das zweite Gesicht. Es könnte etwas unangenehm werden und egal, was du jetzt gleich siehst, du bist nicht verrückt.“

Ohne weitere Vorwarnungen bekam ich eine dunkle, undefinierbare Flüssigkeit ins Gesicht gespritzt. Die Augen hatte ich festzusammengekniffen, genau wie meinen Mund. Nachdem ich mein Gesicht von dem fast geruchlosen Zeug grob befreit hatte, öffnete ich blinzelnd die Augen. Alles um mich herum war in eine gold-gelbe Farbe getaucht worden und war zuerst so grell, das ich gleich wieder die Augen schloss. Als ich meine Augenlider beim nächsten Mal wieder aufschlug, wich diese Farbe wieder und es wirkte alles wieder normal. Trotzdem fühlte ich mich auf eine seltsame Weise total verändert, irgendetwas stimmte nicht, das konnte ich fühlen.

Als ich mich zu Mordred umdrehte, entfuhr mir erst einmal ein schriller Schrei. Um ihn herum waberte ein grauer Schein und hüllte ihn ein. Seine Augen waren nicht mehr strahlend blau, sondern glänzend schwarz. Aber das, was mir den größten Schreck versetzt hatte, war der lange, mit schwarzem, silbrigem Fell bewachsene Schwanz, der sich hinter seinem Rücken empor schlängelte.

Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich musste andauernd den Kopf schütteln, um diesen Gedanken zu vertreiben, der sich nun bei mir festsetzte. Ich taumelte einige Schritte zurück, wo ich keuchend stehen blieb. Es formte sich ein Name: Die Andere Seite. Dieser Name fühlte sich für mich so fremd und doch so bekannt an. Es hörte sich in meinen Ohren an wie ein Synonym für Zuhause. Noch nie hatte diese Bezeichnung gehört, aber ich wusste ganz genau, dass das ein wichtiger Ort für mich war. Irgendwo machte es bei mir „Klick“ und ein Schalter wurde umgelegt.

„Was war das für eine Flüssigkeit, die du mir ins Gesicht geschüttet hast?“, fragte ich Mordred und war über meine ruhige Art selbst überrascht.

„Wyvernblut, das ist sehr wertvoll. Menschen verleiht es das zweite Gesicht und bei anderen Geschöpfen werden die sogenannten Urinstinkte wieder hervorgekitzelt. Es lässt dich die Wahrheit erkennen“, er fuhr sich mit der Hand durchs dunkle Haar. „Zwar ist es äußerst selten, dass zum Beispiel eine Hexe nichts von der Anderen Seite weiß, oder überhaupt von diversen fantastischen Kreaturen. Da diese Gene bei den meisten Geschöpfen, auch bei den Hexen, weitervererbt werden und somit in der Familie liegen, klären die Eltern ihre Kinder eigentlich darüber auf. Das Gen überspringt jedoch auch manchmal eine oder mehrere Generationen, vor allem dann wenn nicht beide Elternteile der gleichen Rasse entsprangen“, er räusperte sich. „Ich zum Beispiel bin ich eine Chimäre, ein Mischwesen. Aber das hast du wahrscheinlich schon erkannt. Das was eine übernatürliche Kreatur umgibt, ist die Aura. Jeder von uns hat sie, auch du. Du bist eindeutig eine Hexe, etwas anderes kommt eigentlich nicht in Frage. Nymphen bilden dabei die Ausnahme, aber du siehst nicht aus wie jemand, der gerne auf Bäume klettert und auf seinem Balkon ein Gewächshaus geparkt hat.“

„Aber, wie soll das überhaupt möglich sein, hm?“

Langsam fragte ich mich wirklich, was für Drogen das genau gewesen waren. Das war bestimmt etwas von der ganz harten Sorte. Ich hoffte einfach nur darauf, dass ich den Weg in mein Bett zurückfand und morgen alles wieder normal war. Wahrscheinlich konnte ich in der Früh darüber lachen. Wer hatte denn schon solche ausgeprägten, detailreichen Alpträume?

„Wir müssen jetzt los! Kannst du laufen?“

„Laufen? Wohin denn? Gibt es einen Ort für junge, unerfahrene Hexen?“, meinte ich etwas zynisch. Die Situation kam mir so lächerlich vor, dass ich kurz davor war zu lachen. Wer hätte denn gedacht, dass ausgerechnet ich heute hier sitzen und mit einem Fremden über mein zukünftiges Hexendasein diskutieren würde.

„Klar, auf nach Hogwarts“, meinte er sarkastisch.

„Nein, jetzt mal ernsthaft: Wo willst du mich hinbringen?“

Hogwarts gab es schließlich nicht, oder? Ehrlich gesagt würde ich im Moment nicht mal das ausschließen. Ich würde mich vermutlich nicht einmal wundern, wenn jetzt ein pinkes Einhorn um die Ecke schießen würde.

„Es gibt da einen Hexenzirkel, mit vielen, steinalten Eldern. Das sind sehr erfahrene Hexen, die viel Macht haben aufgrund ihres Wissen und nicht ihres magischen Potenzials“, versuchte er mir zu erklären.

Ehrlich gesagt war ich jetzt nur noch verwirrter. Magisches Potenzial? Das hörte sich beinahe so an, als wären einige für diesen „Job“ nicht geeignet. Es war aber auf irgendeine seltsame Art beruhigend zu wissen, dass es noch mehr Geisteskranke gab. Wenn Mordred nicht der Einzige war, der dieser Meinung war, musste er entweder Recht oder sich einer großen Gruppe von Fanatikern angeschlossen haben.

„Und was ist mit meiner Tante? Ich kann doch nicht einfach so verschwinden, ohne ihr Bescheid zu geben wo ich bin! Sie würde sich schreckliche Sorgen machen und vermutlich noch vollkommen durchdrehen. Das kann ich ihr nicht antun. Wir müssen zuerst zu meiner Tante und ihr irgendwie Bescheid geben, oder ihr wenigstens eine Nachricht hinterlassen!“

Aus der Innenseite seiner Ledertasche holte er einen kleinen Block und einen Kugelschreiber heraus. „Das kann ich natürlich verstehen. Du schreibst ihr eine kurze Botschaft auf den Zettel und ich sorge dafür, dass er seinen Weg zu deiner Tante findet“, mit diesen Worten überreichte er mir das Schreibzeug.

Dankbar nahm ich es entgegen. Die nächstliegende Hausmauer diente mir als Schreibunterlage und ich begann eilig etwas auf das kleine, rechteckige Blatt zu kritzeln. Meine Schrift war weder eine tolle Druckschrift, noch ein Meer von geschwungenen Buchstaben, die sich ineinander schlängelten. Sie war kritzelig, wie die eines Zweitklässlers. Ich schrieb meiner Tante, dass sie sich nicht sorgen sollte, ich sie bald anrufen würde und ich mich in sicheren Händen befand. Wobei ich mir bei letzterem noch nicht so sicher war. Den kleinen Zettel faltete ich sorgfältig zusammen und gab ihn Mordred, der ihn in seiner Hosentasche versenkte. Hoffentlich kam die Nachricht wirklich bei meiner Tante an. Anrufen würde ich sie jedoch sowieso bei der erst besten Gelegenheit.

„Kann ich vielleicht noch irgendwo das Blut aus dem Gesicht wischen?“

Das Blut von Wyvern. Im Grunde war es wirklich abstoßend und so länger ich darüber nachdachte, umso schneller wollte ich beim nächsten Waschbecken sein. Das Blut von einer nichtbekannten Spezies im Gesicht zu wissen, war nicht unbedingt das, was man sich zum Geburtstag wünschte.

Mordred nickte. „Folg mir einfach.“

Ohne sich noch einmal einen Blick nach hinten zu werfen, ging er zielsicher seinen Weg, wobei wir einen großen Bogen um die schaulustige Menge und die Feuerwehr zogen. Obwohl Mordred sich kein einziges Mal zu mir umdrehte, wusste ich ganz genau, dass er mich irgendwie sah. Vielleicht nahm er mich ja auch durch meine Aura war? Immer wenn ich an irgendetwas Übernatürliches dachte, formte sich in meinem Kopf „Die Andere Seite“ zusammen und jedes Mal auf eine andere Weise. Manchmal sah ich es in Form von Wörtern, ein anderes Mal konnte ich es irgendwie fühlen und dieses Mal konnte ich ein dunkelgraues Schloss, mit hohen, spitzen Türmen erkennen. Es war mitten in einem Gebirge gebaut und man sah sonst weder Bäume, noch Büsche. Ich konnte es wie durch eine beschlagene Scheibe sehen und am liebsten würde ich das kondensierte Wasser beiseite wischen, um einen genaueren Blick auf das Schloss werfen zu können. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es für mich noch eine wichtige Rolle spielen würde. Aber wenn ich so darüber nachdachte, fiel mir auf die Schnelle kein Schloss in Amerika ein, das so aussah. Irgendwie sah es genauso aus, wie man es aus den Märchenbüchern kannte, aber trotzdem anders. Es hatte einfach seinen eigenen, ganz speziellen Charme. Gab es solche Schlösser auf der Anderen Seite? Ich nahm mir vor, Mordred bei Gelegenheit danach zu fragen.

Da es recht kühl war, fing ich schnell an zu frösteln und rieb die Hände aneinander. Mordred steuerte nun auf ein Tattoo Studio zu, dessen Schaufenster mit Plakaten zugeklebt waren, auf denen tätowierte und gepiercte Models abgebildet waren. Dort angekommen, hielt er mir die Türe auf und zusammen betraten wir den düsteren Raum. Und hier ging es zu dem Hexenzirkel? Dieser Ort wirkte auf mich nicht besonders magisch und übernatürlich.

Es roch nach Desinfektionsmittel und alles war unerwartet ordentlich. Jedoch brannte nur eine einzelne, flackernde Tischlampe, die wahrscheinlich auch bald den Geist aufgeben würde.

„Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?“, flüsterte ich.

„Ja, glaub mir, ich war hier schon tausend Mal“, wisperte er zurück.

Eine unscheinbare Seitentüre ging auf und ein schmaler, alter Mann, der mir nur bis zur Schulter reichte, trat ins Licht. Misstrauisch betrachtete er mich aus seinen großen, aufmerksamen Augen.

„Wer ist das? Du hast niemals erwähnt, dass du ein Hexenweib mitnimmst“, meinte der Unbekannte schließlich ruhig.

„Ja, das war ein…spontaner Beschluss.“

„Nun, eigentlich habe ich kein Problem damit, aber wenn du mein Portal nutzen möchtest und sie dich begleitet, wird sich das auf den Preis auswirken. Immerhin bin ich nicht die Wohlfahrt.“

Mordred zwang sich zu einem Lächeln. „Natürlich.“

Aus seiner Hosentasche kramte er zwei große Goldstücke hervor, die jeweils auf der einen Seite mit einem Drachen und auf der andern mit einem Raben geprägt worden waren. Er streckte dem alten Mann die zwei Goldstücke entgegen, doch der schüttelte nur den Kopf.

„Also für sie musst du schon noch einen kleinen Bonus hinlegen“, säuselte er.

Mordred verengte die Augen zu Schlitzen und knirschte mit den Zähnen, ehe er noch eine etwas kleinere Münze zum Vorschein brachte und sie auf seine ausgestreckte Handfläche legte. Ich fragte mich, ob er durch das Feenblut diese ungewöhnlichen Goldstücke verdiente. War das vielleicht das Münzensystem der übernatürlichen Welt?

Der alte Mann rieb seine Hände aneinander, nahm sich die Groschen und ließ sie in seiner kleinen Tasche verschwinden.

„Ciao, Mordred. Du kennst ja den Weg“, meinte er winkend und lächelte schalkhaft.

Er nickte ihm zu und zog mich dann etwas unsanft an meinem Handgelenk durch die kleine Türe, wobei wir den Kopf einziehen mussten.

„Und was war er für eine Kreatur?“, platzte ich schließlich neugierig heraus, als wir noch einige Meter einen schmalen Gang entlang gegangen waren.

„Ein Elf. Das sind diebische Biester, du kannst sie mit Elstern vergleichen, die sammeln auch gerne Wertsachen und horten sie. Die sind schlimmer als Zwerge, die sind zwar auch oft von Gold besessen, aber die sind wenigstens nicht so hinterhältig“, zischte er wütend.

„Zwerge gibt es auch?“

„Jap.“

„Und Drachen?“, hakte ich nach.

„Die gibt es auch, ich wünsche dir keine Begegnung mit ihnen. Aber im Grunde sind die äußerst selten, es ist also sehr unwahrscheinlich, dass du ihnen auf der Anderen Seite über den Weg läufst.“

„Was ist mit Vampiren und Werwölfen?“

„Werwölfe ja, Vampire nein.“

„Meerjungfrauen?“

„Eigentlich schon, aber ich hab noch keine zu Gesicht bekommen.“

„Und Hobbits?“

„Hobbits? Nein“, er seufzte kurz. „Einige Wesen sind bereits vor einer langen Zeit ausgestorben, einige haben niemals existiert und andere wiederum sind auch nur eine Legende. Aber wenn du willst, beschaffe ich dir beim Hexenzirkel ein Buch über die Kreaturen der Anderen Seite.“

Mordred blieb stehen, öffnete eine weitere Tür und trat ein. Als ich ihm folgte, war ich erst einmal ein wenig überrascht. Ich hatte mich natürlich schon gefragt, wie ein Portal möglicherweise aussehen könnte, aber das, was ich sah, war ein bunter Teppich, der in der Mitte des Raums lag.

Außer dem farbenfrohen Teppich befand sich keine Einrichtung in dem fensterlosen Raum.

„Also das ist das Portal?“, fragte ich verwundert und sah mir den Teppich etwas genauer an.

Ich konnte überhaupt nichts Außergewöhnliches daran erkennen, außer dass das Muster recht langweilig war und die vielen verschiedenen Farben nicht sonderlich gut zusammenpassten.

„Ja, und mit den richtigen Worten aktiviert man es“, meinte er und ging auf den Teppich zu. „Komm“, forderte er mich auf.

Als ich vor der Matte stand, konnte ich dem Drang einfach nicht widerstehen und strich mit den Fingerspitzen darüber. Nichts passierte. Bevor man also nicht die Zauberwörter sagte, war das ein stinknormaler Vorleger.

„Apparuit ostium apparuit ostium apparuit ostium…“, murmelte Mordred vor sich her und schloss die Augen.

War das Latein? Diese Sprache existierte also auch auf der Anderen Seite. Jetzt bereute ich, Französisch als Wahlfach genommen zu haben und nicht Latein.

Die bunten Streifen des Teppichs fingen langsam an sich zu bewegen und verformten sich zu einem Strudel, der immer schneller und schneller wurde. Eine leichte Luftbrise kam mir entgegen und meine offenen Haare wurden nach hinten gewirbelt. Nervös wickelte ich mir eine Haarsträhne um den Finger. Falls ich nicht verrückt war oder träumte, war das nun für mich die entgültige Bestätigung, dass es das Überirdische gab. Die Tatsache war beängstigend und faszinierend zugleich. Obwohl mir bei dem Gedanken, meine Tante einfach so zurückzulassen, flau im Magen wurde.

Plötzlich wurde meine Hand von einer anderen warmen Hand umschlossen und als ich hochblickte, sah ich geradewegs in Mordreds grinsendes Gesicht. Ohne Vorwarnung sprang er in den bunten Strudel und riss mich mit sich. Schreiend stürzte ich ins Nichts. Nirgends konnte ich einen Boden sehen oder etwas anderes Reales. Der Strudel, in dem wir uns befanden, bestand aus den Farben des Teppichs und unter uns befand sich nur ein schwarzes Loch. Deshalb klammerte ich mich umso mehr an Mordreds Hand, die mir nun vorkam wie ein rettender Anker.

» Willkommen in Schottland «


»Fantasie haben heißt nicht, sich etwas auszudenken, es heißt, sich aus den Dingen etwas zu machen.«

     - Thomas Mann

 

 

 

 

 Unsanft landeten wir auf dem Boden, oder eher gesagt auf dem nächsten Teppich. Um mich herum drehte sich alles und meine ganzen Glieder fühlten sich wie weichgekocht an. Als ich herabblickte, starrte ich geradewegs auf den gleichen, bunten Vorleger, wie der aus dem Tattoo Studio. War das in der fantastischen Welt irgendein Insiderwitz, den ich als Neuling noch nicht verstehen konnte?

Meine Hände waren von einem feinen Schweißfilm überzogen und mein Atem ging stockend. Im Gegensatz zu mir, stand Mordred völlig gelassen auf und wankte nur einmal kurz, bevor er sich wieder fing. Er zog mich hoch und hielt mich noch kurz fest, bis er merkte, dass mein Schwindel verflogen war und ich wieder selbstständig stehen konnte.

„Benutzt ihr diese Teppiche eigentlich immer als bequeme Reisemöglichkeit?“, fragte ich ihn und konzentrierte mich darauf, wieder ganz normal Ein- und Auszuatmen, da mein Herz immer noch riesige Sprünge machte.

„Nein, im Prinzip kann man so ziemlich jeden Gegenstand als Portal benutzen. Teppiche und Gemälde sind eben der Klassiker und seit es Narnia gibt, werden auch immer öfter Schränke benutzt“, meinte er schmunzelnd.

„Wow, also hat meine Spezies wohl einen Sinn für Humor“, sagte ich und legte dabei die Betonung auf Spezies.

„Glaub mir, jede Art hat so seinen Sinn für Humor, nur eben meistens auf eine andere Art und Weise. Drachenhumor ist zum Beispiel wirklich gewöhnungsbedürftig. Die können eine Ewigkeit über Folterei und verkohlte Körper scherzen, obwohl man Drachen nicht einfach so in eine Schublade stecken kann. Jeder von ihnen hat schließlich seine eigenen Charakterzüge. Manche sind weise, vernünftig und uralt und andere wiederum sind unberechenbar, rachsüchtig und taktlos. Das hängt oft auch vom Alter ab. Du musst wissen, dass wir als übernatürliche Wesen eine völlig andere Lebensspanne haben, als Menschen. Vor allem auf der Anderen Seite können auch Hexen wirklich richtig alt werden.“

Jedes Mal, wenn ich ihn etwas fragte und eine Antwort erhielt, hatte ich danach nur noch mehr Fragen. So wie sich das anhörte, war diese Andere Seite wirklich vollgestopft mit Märchen und Abenteuern. Doch wenn ich so darüber nachdachte, würde ich mich viel lieber wieder in meinem Zimmer verkriechen und den ganzen Tag Musik hören. Die Situation überforderte mich im Moment und mir fehlte ein Ort, an dem ich mich zurückziehen konnte.  Trotzdem kam es mir irgendwie vor, als würde Mordred mich aus meinem Alltagstrott ziehen und mich wieder zum Leben erwecken. Ich war sicherlich nicht eines von den Mädchen, die schon immer gewusst hatten, dass sie anders waren. In den letzten Jahren war ich in einen eintönigen Trott verfallen, der mich von dem einen Tag zum nächsten schob und mir kaum Raum ließ, mein Leben irgendeinen Sinn zu geben. Immerzu der gleiche Ablauf. Essen, Schule, schlafen. Mein Selbstmitleid wurde unterstützt von dem aufmunternden  Händetätscheln, den genuschelten Beileidsbekundungen und mitfühlenden Mienen. Ich fing an diesen ganzen seltsamen Begebenheiten eine ganz neue Bedeutung beizumessen: Was, wenn das hier eine Art Neuanfang war? Eine Chance? Die Möglichkeit, die Vergangenheit hinter mir zu lassen und mein Leben neu zu ordnen?

Mein Interesse war geweckt und ich beschloss mich dem, was vor mir lag, zu öffnen.

„Wie alt können Hexen denn werden? Du scheinst viel über Drachen zu wissen, hast du schon mal einen gesehen?“

„Das hängt von deiner Macht, Gesundheit und deinem seelischen Zustand ab. Hexen, die ein glückliches Leben haben, leben eindeutig länger, vor allem, wenn sie auf der Anderen Seite leben. Und um zu den Drachen zu kommen…Ja, ich hab schon ein paar von ihnen gesehen. Mein Vater war ein Hexer und ein Drachenhüter. Es gibt viele, die die Drachen jagen um sie lebendig zu verkaufen oder sie zu töten und die Körperteile und Knochen auf einem Schwarzmarkt verkaufen. Drachen sind überaus selten und dumm sind sie auch nicht. Jährlich sterben dutzende Drachenjäger und nur alle paar Jahre wird ein Drache gefangen. Die meisten sterben also auf der Suche in den Bergen und erfrieren, oder sie werden dann, wenn sie den Drachen gefunden haben bei lebendigem Leibe verbrannt“, erzählte er mir und seufzte.

„Dein Vater war ein Drachenhüter?“, hakte ich noch einmal nach.

„Ja, er ist verschwunden, niemand hat eine Ahnung wo er ist. Aber ich bin mir sicher, dass er schon längst tot ist.“

„Das tut mir leid“, meinte ich zähneknirschend.

Warum hatte ich überhaupt noch einmal nachgefragt? Es war ja schon fast so, als würde über diesem großen Fettnäpfchen ein leuchtendes Warnschild hängen.

„Wir sollten jetzt weiter gehen, es ist eh schon ziemlich spät“, mit diesen Worten verließ er das Zimmer, während ich ihm folgte.

Wie sich herausstellte, befanden wir uns in einem gut besuchten Wirtshaus. Die Wirtin sah uns nicht überrascht an, nein, sie winkte Mordred sogar zu. An den Tischen saßen lachende und saufende Männer, die sich über ihren Bierkrug und ihr Essen hermachten. Ohne einen weiteren Blick auf die Speisen zu werfen, das wirklich lecker aussah, steuerten wir auf den Ausgang zu und verließen die Schankbude wieder. Die Doppelhaushälften waren dicht an dicht aneinander gereiht und die schmalen Straßen und Gassen waren wie leergefegt. Der Regen klatschte auf die Straßen und auf die bunten Regenschirme, die sich die Leute über den Kopf hielten und eilig vorwärts marschierten. Der kalte Wind schlug mir entgegen und im nächsten Moment war ich auch schon klatschnass. Da ich weder eine Jacke, noch Gummistiefel trug, war ich nach einer Minute schon vollkommen durchnässt und folgte Mordred weiter, dem es kein Stück besser ging als mir. Mit den Händen schirmte ich meine Augen ab, da ich sonst nichts sehen konnte. Die Straßen waren schlecht beleuchtet und da es mitten in der Nacht war, waren auch nur noch wenige Menschen unterwegs. Jedoch sahen die alle so aus, als hätten sie sich auf dieses Wetter gründlich vorbereitet.

Wenige Minuten später hatten wir ein großes, weißes Gebäude erreicht, dessen Grundstück von einem hohen, spitzen Zaun umzäunt war. Mordred stieß das Tor auf und wir liefen zusammen den kiesigen Weg entlang bis zur bedachten Veranda, wo wir erst einmal vor dem Unwetter geschützt waren. Laut hämmerte er mit der Faust gegen die Türe. Seine Miene hatte sich verdüstert und seine Augen funkelten gefährlich. Deswegen traute ich mich nicht ihm zu sagen, dass sich neben der Türe eine Klingel befand. Ich wollte mich im Moment sicherlich nicht mit ihm anlegen.

Die Türe wurde aufgerissen und eine Frau mittleren Alters funkelte ihn angriffslustig an. Ihre roten Haare standen wirr in alle Richtungen ab und waren bereits mit einigen grauen Strähnen durchzogen. Dann fiel ihr Blick auf mich und sie musterte mich unschlüssig.

„Kommt rein und wärmt euch auf, Savannah hat euch schon angekündigt“, begrüßte sie uns und schwenkte ihre Tasse, die sie in der Hand hielt, einladend umher. „Du musst wohl die junge Dame sein, deren magische Kräfte hervor gelockt wurden. Das muss sicherlich ein großer Schock sein“, mit einem freundlichen Lächeln hatte sie sich mir zugewandt. „Setzt euch schon einmal ans Feuer, ich hole euch Decken. Aber bitte seid leise, der Rest des Hauses schläft bereits und die haben ihren Schlaf wirklich dringend nötig.“

Mit fliegendem Morgenmantel drehte sie sich um und ging ins nächste Zimmer, ehe wir uns auf den Teppichboden vor den Kamin setzten. Dabei tropften wir alle nass und hinterließen auch eine Wasserspur. Als sie wieder kam, hielt sie zwei braune Wolldecken in der Hand und reichte jedem von uns eine.

„Mein Name ist Sookie, Savannahs Großmutter. Und wie ist dein Name?“, fragte sie mich und setzte sich neben mich auf den Boden.

„Ich heiße Morgaine.“

„Ein schöner Name, deine Eltern müssen wohl einen Sinn fürs Außergewöhnliche gehabt haben“, meinte sie lächelnd, während sie aus einer Kanne in zwei Becher Tee schüttete. Dabei ignorierte sie Mordreds Anwesenheit gekonnt.

„Naja, wohl eher meine Oma“, überlegte ich.

„Und wie lautet dein Familienname? Ich habe hier ein Stammbuch, in dem alle bekannten Hexenfamilien eingetragen sind.“ Mein Nachname? Diese alte Dame, oder Hexe, erschien mir wirklich recht freundlich, aber ich war nicht bereit ihr gleich alles über mich zu verraten. Ich wusste so gut wie gar nichts über diese neue Welt, die sich hier vor mir auftat, und da sollte man wirklich vorsichtig sein, wem man etwas anvertraute. „Mc…“, fing ich an und schaute unentschlossen aus dem Fenster, auf der Suche nach einem guten Name. „Rain. Mein Familienname ist McRain.“

„McRain? Wie passend“, meinte sie leise lachend und stand auf. „Ich werde kurz im Buch nachschlagen, obwohl ich sicher bin, dass ich diesen Namen noch nie gelesen habe.“

Nachdem sie in einem Zimmer verschwunden war, wandte ich mich zu Mordred um.

„Das ist nicht dein wahrer Name, oder?“

„Nein“, antwortete ich ihm ehrlich.

„Zwar finde ich es gut, dass du nicht aus dem Nähkästchen plauderst, aber warum sagst du ihr nicht deinen echten Familiennamen, wenn du nichts zu verbergen hast?“

„Ich weiß nicht, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass es nicht richtig ist wildfremden Menschen gleich alles über einen zu erzählen“, erwiderte ich stirnrunzelnd.

„Das mag ja stimmen, aber wenn sie dir helfen soll, musst du absolut ehrlich zu ihr sein. Wir sind hier nicht zum Spaß.“

„Ich glaube, ich weiß das selber! Unter Spaß verstehe ich nämlich nicht, in den Regen zu laufen, durch Portale zu hüpfen und mich mit rothaarigen Hexen über meine blühende Hexenkarriere zu reden. Wo sind wir hier überhaupt? Sind wir noch in Amerika?“

„Nein, nicht ganz. Willkommen in Schottland“, sagte er sarkastisch und fuhr sich durch die nassen Haare.

Meine Decke, die ich mir um die Schultern gelegt hatte, wickelte ich um meine Oberkörper und legte meine tropfenden Haare nach hinten. Mit einem Lächeln im Gesicht kam Sookie aus einem Zimmer und blieb schließlich vor uns stehen.

„Dein Familienname ist im Buch gar nicht eingetragen worden. Aber das ist nicht schlimm, vermutlich waren die Hexen in deiner Familie einfach nicht an einen Zirkel gebunden und sogenannte Nomaden. Wie auch immer“, sie atmete tief ein. „Willkommen in meinem Zuhause, Morgaine. Du kannst so lange bleiben, wie du möchtest. Jedoch müsstest du dich dann unserem Zirkel anschließen. Natürlich würden wir dir deine Fähigkeiten nahelegen und dir zeigen, wie man Zaubersprüche ausübt. Das und noch vieles mehr könntest du bei uns lernen, wenn du dich dazu entschließt zu bleiben. Morgen Nachmittag werden wir zu einer Besprechung zusammenfinden und alles Weitere beschließen. Solange kannst du dir das ja in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Du, ich meine ihr, solltet euch ein wenig ausruhen. Ich werde dir etwas von Savannahs Kleidung aufs Bett legen und ich suche für dich, Mordred, noch ein abgelegtes Hemd und eine Hose von meinem verstorbenem Mann heraus.“

Langsam rappelte ich mich auf und nahm dabei meine Decke mit. Irgendwie bekam ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich darüber nachdachte, dass ich sie angelogen hatte und sie mir Unterkunft gewährte und mir gute Aussichten für meine Zukunft darlegte.

„Vielen Dank, Sookie“, bedankte ich mich höflich und zwang mich zu einem Lächeln.

Mordred, der neben mir stand, hatte dieselbe finstere Miene wie vorhin schon und starrte Löcher in die Luft. Was war los mit ihm? Hatte er plötzlich einen schlechten Tag? Nein, es kam mir viel mehr so vor, als würde ihn seine ganze Umgebung an etwas erinnern.

Wir folgten Sookie die Treppe hoch, bogen in einen Seitenflügel ein und standen schließlich in einem großzügigen Zimmer, in dem ein Hochbett, ein Schrank und ein Spiegel standen.

„Macht es euch schon mal gemütlich, ich komme gleich wieder und bringe euch die Kleidung.“

Daraufhin machte sie kehrt und tauchte wenige Minuten später, in denen wir schweigend noch herumgestanden waren, wieder auf, zusammen mit den Klamotten, die sie uns reichte.

„Ich wünsche euch eine gute Nacht und falls ihr noch etwas braucht, lasst ihr mich es wissen. Mein Zimmer ist im Erdgeschoss, rechts neben dem Kamin“, erklärte sie uns, wobei sie nur mich anschaute und Mordred immer noch geflissentlich wie Luft behandelte. Diese beiden hatten auf jeden Fall eine lange, nicht so blühende Vergangenheit hinter sich. Zwischen ihnen knisterte die Luft wie bei einer Hochspannung und ich hatte wirklich Angst, in der Mitte zu stehen.

Wir nahmen unsere Kleidung entgegen und zogen uns schnell um, während wir uns den Rücken zudrehten. Hunger oder Durst hatte ich keinen, es war schließlich mitten in der Nacht. Aber es wunderte mich ein wenig, dass sie uns einfach so ohne Weiteres bei sich aufgenommen hatte. Vielleicht lag es ja daran, dass sie wusste, dass sie keine Angst vor uns haben musste? Sookie erschien mir wirklich recht freundlich, aber sie hatte so etwas an sich, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie war auf der einen Seite hilfsbereit und freundlich und auf der anderen Seite eiskalt und zielsicher. Dafür, dass sie schon eine Großmutter war, war sie außerdem noch recht jung, was mich eigentlich nicht mehr überraschen sollte, wegen allem, was ich bisher schon so gehört hatte. Da war noch dieses wachsame, unerschrockene Funkeln in ihren Augen, das mich ebenfalls vorsichtig werden ließ.

Ohne groß noch weitere Worte zu wechseln, gingen Mordred und ich ins Bett und knipsten das Licht aus. Wir waren uns sofort einig gewesen, dass ich unten und er oben schlafen sollten. Die Betten mussten schon die ganze Zeit bezogen sein und auch Blumen standen auf einem kleinen Nachtkästchen auf dem Bett. Es musste also ein wirklich sehr ordentliches Zimmermädchen geben.

Ich lag noch eine Weile stumm im Bett und dachte über alles nach, was sich in den letzten Stunden so ergeben hatte. Vor wenigen Stunden hatte ich auf der Couch in einer Disco gegammelt und jetzt lag ich in einem Stockbett in Schottland. Wo genau in Schottland befanden wir uns überhaupt? Wirklich viel wusste ich über diesen Teil der Erde nicht. Aber was mich wirklich interessierte, war die Andere Seite. Mordred hat schon einiges über  diesen Ort erzählt, jedoch konnte ich mir immer noch nichts Genaueres darunter vorstellen. War diese Andere Seite genauso groß wie die Erde? Wie waren die Bewohner dort? Hatten Hexen Warzen auf der Nase? Hoffentlich würde ich das möglichst bald herausfinden. Außerdem war ich nun fest entschlossen herauszufinden, was für eine Vorgeschichte Sookie und Mordred schon hinter sich hatten. Vielleicht ging es mich ja nichts an, aber jetzt war meine fast unstillbare Neugierde geweckt worden. Irgendwann war ich so erschöpft, dass ich in einen traumlosen Schlaf glitt und sogar das laute Schnarchen von Mordred ignorieren konnte. 

» Coffee Time «

»Ich bin tough, ich bin ehrgeizig und ich weiß genau, was ich will. Wenn mich das zur Hexe macht - okay!«

                      - Madonna 

 

 

 

Geweckt wurde ich von dem lauten Gepolter, das eine Etage weiter unten ertönte. Es hörte sich so an, als hätte irgendjemand ein Möbelstück gegen die Wand gedeppert. Lautes Fluchen ertönte nun und mehrere Stimmen redeten durcheinander. Was war dort unten los? Die Wände mussten wohl wirklich dünn sein, was vielleicht auch daran lag, dass das Haus schon etwas älter war. Die Bodendielen knarzten bei jedem Schritt, die Türen ächzten und die Zimmer wurden noch durch Kamine beheizt, was eine angenehme Wärme im Raum verbreitete. Für mich roch es nach Moos und Holz.

Als ich mich, von dem plötzlichen Lärm noch ganz benommen, aufsetzte, bemerkte ich am Fußende meines Bettes einen säuberlich gefalteten Stapel mit Kleidung.

Laut gähnend stand ich auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Langsam sickerte bei mir durch, was in der Nacht alles geschehen war und wo ich mich befand. Nun war ich hellwach! Ich sprang aus dem Bett und schnappte mir die Klamotten, die aus einer hellblauen Jeans, einem blattgrünen Pullover und Hausschuhen bestanden und zog sie mir eilig über. Mordred musste das Zimmer wohl schon verlassen haben, da ich hier eindeutig alleine war. Meine Haare kämmte ich kurz mit meinen Fingern durch und tappte dann auf leisen Füßen auf den Flur hinaus. Ich wollte auf jeden Fall mitbekommen, was dort unten besprochen wurde! Beim Treppengeländer angekommen lehnte ich mich weit nach vorne und versuchte einen Blick auf die Personen zu werfen, die sich auf der Couch vor dem Kamin niedergelassen hatten. Mordred lehnte lässig an der Sandsteinfassung direkt neben dem Feuer, hatte die Hände in seine Hosentaschen gesteckt und betrachtete gelangweilt die Gemälde, die überall an den Wänden hingen.

„McRain, pff! Nur weil wir in Schottland leben, fangen nicht gleich alle Nachnamen mit einem Mc an, was für ein Vorurteil! Außerdem habe ich in unserem Stammbuch nachgeschaut, dieser Familiennamen existiert gar nicht! Auf jeden Fall nicht in diesem Buch, obwohl ich nicht glaube, dass es ihr wahrer Nachname ist“, erklärte Sookie und schnaubte.

„Nein, ich glaube nicht, dass sie sich diesen Namen ausgedacht hat. Hat sie einen Grund dafür? Oder sie weiß vielleicht gar nicht, dass das gar nicht ihr wahrer Name ist. Wir müssen ja nicht gleich immer vom Schlimmsten ausgehen, Sookie“, erwiderte eine männliche, warme Stimme ihr freundlich.

„Du hast recht, ich sollte nicht immer so misstrauisch sein“, sie seufzte. „Savannah müsste bald kommen, dann können wir mit unserer ersten Stunde anfangen. Ohne sie möchte ich nicht beginnen, nur als vollständiger Zirkel haben wir genügend Kraft, um die Magie von dieser Morgaine in Schach zu halten“, fügte sie hinzu.

Leise tappte ich noch eine Treppenstufe nach unten, um ihnen besser zuhören zu können und ging in die Hocke. Savannah? Das war doch die gewesen, mit der Mordred letzte Nacht telefoniert hatte. Ich setzte mich nun so hin, dass ich auch einen Blick auf die Hexen erhaschen konnte.

„Ach ja, du bist übrigens für sie verantwortlich, Mordred. Du sorgst dafür, dass sie sich hier zurecht findet und erst einmal das Nötigste weiß. Auf die Andere Seite müssen wir sie ja nicht gleich schleifen. Außerdem weißt du ja, dass es verboten ist, Feenblut zu verkaufen. Ich dachte, du hättest damit endlich aufgehört.“

Plötzlich schwang die Haustüre auf und ein Mädchen, oder eher gesagt eine junge Frau, spazierte hinein. Hinter sich knallte sie die Türe wieder zu, zog ihre Schuhe aus und warf sie in die Ecke, zusammen mit ihrer Tasche. Das musste Savannah sein, schließlich hatte Sookie gerade noch von ihr gesprochen.

„Hey Mom und Dad! Hi Mordred, lange nicht gesehen! Verkaufst du immer noch Drogen und treibst arme Leute in den Wahnsinn?“, begrüßte sie die Runde sarkastisch und verzog den Mund zu einem sicher nicht ehrlich gemeinten Lächeln.

„Savannah“, erwiderte Mordred, wobei seine Stimme mindestens eine Oktave nach unten rutschte. Da freute sich jemand wohl gar nicht sie zu sehen, oder war es eher andersrum?

Ein riesiger, schwarzer Hut lenkte von Savannahs hüftlangen, honigblonden Haaren ab und bedeckte ihr halbes Gesicht. Um ihren Hals hatte sie eine Kette gehängt, die aussah, als wäre sie mit Knochen geschmückt und an ihren Handgelenk reihten sich dicht an dicht selbstgeflochtene Armbänder. An jedem ihrer Finger steckte mindestens ein Ring und ihre Nägel waren schwarz lackiert. Ihre rote Regenjacke war im Gegenteil zum Rest der Kleidung sehr auffallend und stach einem sofort ins Auge.

„Und, wo ist die Hexe? Hat sie schon irgendetwas abgefackelt oder jemanden umgebracht? Also um Mrs. Helen würde ich auf jeden Fall nicht trauern, die frisst jeden Morgen sowieso nur mein Müsli weg und stielt meine Socken“, sie seufzte. „Und sie heißt wirklich Morgaine? Wo ist sie? Dann können wir nämlich gleich anfangen, mit der ersten Lektion beim Wahrsagen.“

„Wo sie ist?“, fragte Sookie. „Morgaine sitzt seit einer Weile auf der Treppe und hört uns zu. Anscheinend müssen die Stufen wirklich sehr gemütlich sein, wenn sie sie unserer Ledercouch vorzieht, die wir erst letztens bestellt haben.“

Als sie mich quasi indirekt ansprach, rutschte mir das Herz in die Hose und ich hatte plötzlich das dringliche Bedürfnis, meinen Kopf irgendwo dagegen zu hämmern. Natürlich hatte sie mich gesehen, oder gehört, oder meinetwegen auch gerochen. Das waren Hexen mit Superkräften, da war das bestimmt normal.

Da ich entdeckt worden war, stand ich auf und blickte nun Sookie zerknirscht an. Ich war mir sicher, dass sie es nicht gerade prickelnd fand, dass ich gelauscht hatte. Sookie hob etwas argwöhnisch die Augenbrauen und warf ihrem Nachbarn einen vielsagenden Blick zu. Der etwas ältere Mann, der neben ihr stand, hatte schneeweiße Haare und stechend blaue Augen. Sein Alter zu schätzen, wäre schwierig, da sein Gesicht kaum von Falten durchzogen und seine Haltung aufrecht war. Er musterte mich genau, wobei sein Blick von unten bis oben schweifte. Es kam mir vor, als versuche er, sich meine Gestalt eins zu eins einzuprägen.

Mann, war das gruselig! Unter seiner genauen Musterung wurde mir ganz unwohl zu Mute und ich verschränkte die Arme vor der Brust, also könnte ich mich so vor seinen Blicken schützen. Da es irgendwie seltsam war, mit ihnen über so eine Distanz zu reden, überwältigte ich die Treppe und stellte mich mit etwas Abstand ihnen gegenüber.

„Nun, Morgaine“, begann sie und fuhr sich mit den Fingern durch ihre roten Haare. „Du hast meine Enkelin ja gehört. Heute beginnt deine erste Lektion im Wahrsagen. Da das Wahrsagen nicht wirklich schwierig ist und Neulinge beim Ausüben keinen großen Schaden anrichten können, fangen wir gewöhnlich damit an. Ich dachte mir, dass du mit einer Person, die sich eher in deinem Alter befindet, besser auskommst und vielleicht nicht so viel Scheu zeigst. Wenn du Hunger hast, kannst du dir aus der Küche eine Semmel holen. Schinken und Käse müsste auch noch dort stehen. Ansonsten würde ich jetzt keine Zeit mehr vertrödeln und gleich anfangen. In den nächsten Tagen trifft der Rat vermutlich ein, ich habe ihn bereits über dich informiert. Da wir Hexen uns in Zirkeln uns besser schützen können und gemeinsam stärker sind, warten wir nie lange, um neue Hexen aufnehmen zu können. Vor allem nicht bei unserem etwas zerstreuten Zirkel, da können wir weitere Mitglieder wirklich gut gebrauchen. Aber jetzt haben wir lange genug geredet, hopp hopp, an die Arbeit!“, rief sie und klatschte auffordernd dazu.

Ich tat, wie von ihr geheißen und nachdem ich mir schnell etwas zu essen geschnappt hatte, verschwand ich zusammen mit Savannah nach oben. Das Zimmer, das wir betraten, war eine riesige Bibliothek. Das Bücherregal musste mehrere Meter hoch sein und an der Decke befand sich eine große Glaskuppel, durch die das Licht ins Zimmer fiel. Der alte Holzboden knarzte unter unseren Füßen und der Geruch alten Büchern und Staub schlug uns entgegen. In der Mitte des Raums stand ein großer, runder Tisch aus dunklem Holz, in dem viele aufwendige Schnitzereien verewigt worden waren, genau wie bei den passenden Stühlen. Es war einfach die Art von Bibliothek, die etwas Magisches und Respekteinflößendes an sich hatte. Früher hatte ich immer geträumt, tagelang in solch einer Bibliothek zu sitzen und zu lesen. Wie lange man wohl brauchte, um so eine große Menge von Büchern anzusammeln? Die Buchrücken waren ebenfalls aufwendig verziert worden und das eingeprägte Gold verlieh ihnen etwas Hoheitliches.

„Komm, setzen wir uns“, forderte mich Savannah auf, als sie sich an den runden Tisch setzte. Nun wirkte sie auf mich um einiges entspannter und freundlich, trotz des kühlen Untertons, der mit ihren Worten mitschwang.

Kurz ließ ich die Atmosphäre der Bibliothek noch auf mich einwirken, dann gesellte ich mich zu Savannah und ließ mich auf dem Stuhl neben ihr nieder. Keine zwei Minuten später, ging die Tür auf und eine Frau mit einem großen Tablet kam auf uns zu uns stellte es vor uns auf dem Tisch ab. Sie trug ein schwarzes, knielanges Kleid und eine weiße Schürze. Ihre Haare hatte sie streng nach hinten gebunden und ihr Gesicht war geziert von großen, wulstigen Narben, die sich vor allem auf ihren Wangen erstreckten. Ich fragte mich, wie sie zu diesen Narben gelangt war. Ob sie sie vielleicht in einem Kampf erhalten hatte? Ehrlich gesagt konnte ich mir nicht so genau vorstellen, wie so ein Kampf unter übernatürlichen Kreaturen ablief. Ich ging auf jeden Fall davon aus, dass sie ebenfalls ein übernatürliches Geschöpf war, obwohl mir nichts Außergewöhnliches an ihr auffiel.

Nun ja, wenn man mich sah, dachte man vermutlich auch nicht daran, dass ich eine Hexe war und mit meinem Besen um ein Lagerfeuer tanzte und den Teufel anbetete.

Ehe wir es uns versahen, war die Gute auch schon wieder aus dem Zimmer verschwunden. Die war ja mal freundlich. Sie hatte zwei Tassen und eine große Kanne uns vor die Nase gesetzt.

„Gut, also ich weiß ja nicht, wie viel Mordred dir schon erzählt hat von uns Hexen, aber wenn du Fragen hast, kannst du sie mir stellen. Wir fangen mit dem Einfachsten an: Wahrsagen“, erklärte sie mir sachlich und goss jedem von uns von der geheimnisvollen Flüssigkeit aus der Kanne in eine Tasse ein.

„Also zu erst einmal musst du den Kaffee austrinken und dann lesen wir aus dem Kaffeesatz.“

„Das ist auch ganz sicher Kaffee? Kein magisches Zeug, sondern nur stinknormaler Kaffee?“, hakte ich noch einmal nach, nur um ganz sicher zu sein.

Bei diesen Hexen wusste man schließlich nie. Natürlich dachte ich nicht, dass sie mich vergiften wollten. Warum sollte sie das tun? Für sie, als Hexe, gab es bestimmt viele schönere Möglichkeiten, um jemanden umzubringen. Obwohl ich nicht wirklich glaubte, dass es eine Art zu sterben gab, die wirklich schön und angenehm war. Trotzdem würde der erste Schluck für mich befremdlich sein.

„Unsere Haushälterin hat den Kaffee gekocht, deswegen ist er wahrscheinlich alles andere, als normal. Aber keine Angst, er ist bestimmt nicht vergiftet, glaube ich“, beruhigte sie mich und grinste.

Wie schön, sie glaubt, dass er nicht vergiftet ist, na dann! Savannah nahm die Tasse in die Hand und schüttete den gesamten Inhalt auf einmal herunter. Angewidert verzog sie das Gesicht und hustete kurz. Schnell stürzte ich den Kaffee ebenfalls in einem Zug weg und war fast überrascht, dass er eigentlich gar nicht so übel war. Wenn ich es mir recht überlegte, hatte der Kaffee wirklich gut geschmeckt.

„Okay, stell deine Tasse nun so auf den Tisch, dass die Flüssigkeit sich darin nicht mehr bewegt und der Henkel nach links zeigt“, wies sie mich an und kam ihren Aufforderungen natürlich gleich nach. Was jetzt wohl zu sehen war? Vielleicht die Umrisse eines Einhorns oder Mondes oder so etwas in der Art? Aufgeregt starrte ich nun in meine Tasse, um etwas erkennen zu können.

„Jetzt wirst du noch nichts erkennen können, die Tasse muss noch geschwenkt werden, ehe wir anfangen die Zeichen zu deuten. Du schwenkst sie in etwa so.“

Behutsam nahm die Hexe die Tasse am Henkel und schwenkte sie etwas, wobei sie darauf achtete nichts zu verschütten. Nachdem sie fertig war, tat ich es ihr gleich.

„Gut und nur damit du es weißt: das Wahrsagen sollte man nicht zu ernst nehmen. Das meiste ist nur eine sehr wage Andeutung und meistens auch etwas übertrieben.“

Nun blickten wir gespannt in unsere Kaffeetassen, die wir vor uns abgestellt hatten. Langsam bildete sich aus den Kaffeesatzteilchen ein kleines Symbol. Hoffentlich war ich nicht verrückt geworden! Noch immer schien alles so unwirklich aber trotzdem irgendwie real und greifbar.

„Siehst du? Das Zeichen bildet sich bei dir an der rechten Seite vom Henkel, das bedeutet, dass es sich hierbei um deine Zukunft handelt“, erklärte sie mir ruhig.

Das Symbol war nun deutlich sichtbar, oder eher gesagt die Zahl. Man konnte deutlich erkennen, dass es eine 77 war.

„Eine Zahl? Ist das der Code für irgendetwas oder so etwas in der Art?“, fragte ich sie nun neugierig.

„Nein, die Zahl gibt die Tage an, die du noch hast, bis ein besonderes Ereignis eintritt. Dieses Ereignis kann alles Mögliche sein, deine Hochzeit, eine neue Frisur oder auch dein Tod. Da kein weiteres Zeichen im Kaffeesatz erscheint, kann ich dir da auch nichts weiter drüber erzählen. Aber wie schon gesagt: du darfst das mit der Wahrsagerei nicht zu ernst nehmen.“

Savannah sah nochmal kurz auf ihre Tasse, ehe sie sie wieder etwas schwenkte und zurück auf das Tablet stellte.

„Ehm…Wollen wir nicht noch über deine Zukunft sprechen?“

„Nein, wie wäre es, wenn wir stattdessen lieber über Mordred, meinen Ex sprechen?“, zuckersüß lächelte sie mich an.

Erst jetzt konnte ich das Funkeln in den Augen und die zuvor recht gedrückte Stimmung von ihr richtig deuten. Mordred war ihr Ex? So etwas in der Art hatte ich irgendwie schon beinahe befürchtet. 

» Blondinen sind nicht blöd «

»Jeder erfüllte Wunsch ist auch ein zerstörter Traum.«

          - Waltraud Puzicha

 

 

In Gedanken versunken saß ich auf meinem Bett und starrte auf den Boden. Ich hatte Savannah beteuert, dass ich nichts mit Mordred hatte, solange, bis sie mich schließlich gehen ließ und ich mich hier in meinem Zimmer wieder verkrochen hatte. Sie einzuschätzen war unmöglich, da ich das Gefühl hatte, dass sie ganz anders tickte als gewöhnliche Menschen, oder Hexen. Im einen Moment unterhielt man sich noch, im nächsten wurde man bereits angeklagt. Aus ihr wurde ich wirklich nicht schlau. Seit einer geschätzten halben Stunde versuchte ich mir Savannah und Mordred zusammen vorzustellen. Dabei verscheuchte Savannah vermutlich jeden anderen Typen mit ihrer fast zu direkten Art und ihrem durchdringendem Blick, wobei sie wirklich recht hübsch war. Mordred hingegen war düster, verbittert und schlecht gelaunt, soweit ich ihn nun kannte.

Wenn ich wieder daran dachte, was ich alles hinter mir ließ, fiel mir ein riesiger Stein vom Herzen. Es war, als hätte man mich losgekettet und mich aus meiner Trance geweckt. Genauso waren mir die letzten drei Jahre auch vorgekommen: wie als wäre ich in Trance gefallen. Meine Vergangenheit kam mir im Moment gar nicht vor wie meine Vergangenheit, sondern wie ein völlig anderes Leben. Das hier wirkte auf mich alles so richtig und selbstverständlich, dass es schon fast erschreckend war. Nicht einmal einen ganzen Tag befand ich mich nun hier.

Ein lautes Klopfen an der Türe riss mich aus meinen Gedanken. Ich stand auf und öffnete die Türe. Draußen stand Savannah. Sie trug ein fast knöchellanges schwarzes weites Kleid, schwarze Stiefel und eine grüne Strickjacke.

„Bereit für eine weitere Lektion? Wir beginnen mit der Praxis und werden deine Hexenkräfte ermächtigen, also aktivieren. Damit du währenddessen nebenbei nicht ein paar Dinge in Brandt setzt, kommt Sookie, meine Oma, mit“, seufzte sie und wickelte eine lange, gewellte Haarsträhne um ihren Finger. "Folge mir."
Ohne ein weiteres Wort wirbelte sie herum und ging schnurstracks die Treppe hinunter und zu der nächsten Türen, die sich auch neben der Speisekammer befand. Aus ihrer Tasche holte sie einen Schlüsselbund heraus, der klimperte und klirrte, als sie nach dem passenden Schlüssel suchte. An dem Bund befand sich noch allerlei andere Dinge, wie zum Beispiel aufgefädelte Kieselsteine, eine Muschel und eine Rabenfeder.

Als sie den Schlüssel in die Türe steckte und umdrehte, schwang die Türe quietschend auf und modrige Luft kam uns entgegen. Savannah ließ ihren Schlüsselbund wieder in die Seitentasche ihres Kleids gleiten und als wir in den kleinen Raum eintraten, fiel die Türe geräuschvoll wieder zu. Erst als sie eine kleine Lichtkugel erschuf, die über unseren Köpfen schwebte, konnte man wieder etwas erkennen.

"Sei am besten ganz leise und am besten gar nicht erst in die Zellen, falls die keine Albträume bekommen möchtest", warnte sie mich im Flüsterton, ehe sie sich an mir vorbeidrückte und die nächste Treppe hinab stieg. Die Lichtkugel blieb jedoch stets in ihrer Nähe, sodass wir eine Lichtquelle hatten. Albträume? Ich war 18 Jahre alt und damit schon lange kein kleines Kind mehr. Trotzdem war mir etwas mulmig zu mute, als ich ihr schließlich folgte.
Die Luft hier unten war feucht und kalt und ich wollte nicht wissen, was für ekelhafte Viecher sich hier unten verkrochen. Geputzt wurde hier bestimmt nicht oft.
Als wir nun die Treppe überwältigt hatten, standen wir vor einem kleinen Tor aus eisernen Gitterstäben. Savannah öffnete das Tor und schloss sorgfältig hinter uns wieder ab, als würde sie sich darum sorgen, dass irgendjemand hier einbrechen könnte, oder ausbrechen. Zu unserer linken und rechten Seite waren mehrere Zellen angebracht, deren Türen entweder offen standen oder verschlossen waren. Ein leiser Wimmer drang an mein Ohr, als wir weitergingen. Als ich mir sicher war, dass ich mir das Geräusch nicht eingebildet hatte, starrte ich geradewegs in die nächste Zelle, aus der ich das Wimmern vermutete. Savannahs Warnung vergaß ich dabei völlig. Ein alter Mann kauerte auf dem Boden und hatte sein Gesicht weggedreht. Sein Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig und es hörte sich schon fast so an, als würde er summen um sich selbst zu beruhigen.

In der anderen Ecke der Zelle lag eine tote Ratte und an den Wänden waren bereits riesige Schimmelflecken zu sehen. Als mir der Mann schließlich sein Gesicht zuwendete, entfuhr mir vor Schreck ein schriller Schrei. Dort wo eigentlich sein rechtes Auge sein sollte, sah ich nur noch ein schwarzes, tiefes Loch. Als er lächelte, entblößte er eine Reihe schwarzer Zähne, der Rest war bereits ausgefallen. Sein linkes Auge starrte mich mit einem verrückten Glanz an. Plötzlich legte er den Kopf in den Nacken und fing an aus vollem Halse zu lachen. Sein Lachen ging mir durch Mark und Bein. Savannah packte mich am Arm und zerrte mich weiter.

"Ich hab dir doch gesagt, dass du nicht in die Zellen schauen sollst! Zuhören und mitdenken zählt wohl nicht besonders zu deinen Stärken, oder?", zischte sie mir wutentbrannt entgegen.
"Wer oder was zur Hölle ist das und warum haltet ihr in hier gefangen?", verlangte ich von ihr zu wissen. "Und wenn ich es mir genau überlege, werde ich dir keinen Schritt weiterfolgen, ehe du mir gesagt hast, was für eine Freakshow ihr hier abzieht! Willst du mich etwa auch in einem von diesen Verliesen wegsperren?“

"Nein, natürlich nicht! Das ist ein Riese und er hat sich strafbar gemacht, indem er sich an menschlichen Überresten vergnügt hat und bis auf die Knochen jegliches Fleisch abgeknabbert hat. Wir halten ihn hier nur solange fest, ehe der Rat kommt und ihn mitnimmt", erklärte sie mir nun schon viel ruhiger.

"So groß wie ein Riese sah er aber nicht aus, eigentlich sah er sogar recht normal", bemerkte ich. "Außerdem...Was wird mit ihm geschehen?"

"Das kommt davon, dass entweder er kein reines Riesenblut in sich trägt und er vermutlich seine Gestalt gewandelt hat um hier nicht aufzufallen. Was der Rat mit ihm machen wird, weiß ich nicht. Wahrscheinlich wird er zurück auf die Andere Seite gebracht und wird dann dort bestraft. In irgendeinem Verlies wird er jedoch verrecken, zufrieden? Meine Oma wartet sicherlich schon auf uns und wenn wir sie nicht unnötig verärgern wollen, sollten wir lieber nicht zu spät kommen, also leg mal einen Zahn zu." 
Mit einem lauten Seufzer folgte ich Savannah, die mit großen Schritten wieder voraus ging. Als wir an den restlichen Zellen vorbei gingen, konnte ich es trotzdem nicht lassen und warf abermals einen Blick hinein. Bis auf ein paar Ratten und Spinnweben waren sie alle leer. Schon fast hatte ich erwartet ein paar Knochen und Totenschädel herum liegen zu sehen. Mir fiel unteranderem auf, das hier unten dringend mal wieder geputzt werden musste. Wofür hatte man Magie, wenn man sie nicht nutzte um sich das Leben zu erleichtern? 

Am Ende des Ganges erwartete uns eine nicht überraschend altertümliche Kerkertüre, die von der Blondine vor mir aufgeschlossen wurde. Geräuschlos schwang sie auf und wir betraten den Raum. In diesem Raum bekam ich das reinste Hollywood-Feeling. An den Wänden hingen angezündete Fackeln und auf dem Boden waren rote und schwarze Teppiche ausgebreitet worden. Da es keine Fenster gab, waren die Fackeln und die einzelnen Öllampen die herum standen, die einzigen Lichtquellen in diesem Raum. In der Mitte des Raumes saß Sookie auf einem der Teppiche. Sie saß aufrecht im Schneidersitz und wirkte völlig entspannt. Erst als die Türe hinter uns ins Schloss fiel, sah sie auf und betrachtete uns beide nachdenklich. „Setzt euch zu mir auf den Teppich. Aber davor zieht ihr eure Schuhe aus! Das mir keiner von euch diesen kostbaren Stoff beschmutzt“, meinte sie im tadelnden Ton.

Wir kamen ihrer Bitte nach und setzten uns in einen Kreis. „Gut. Dieser Ort ist perfekt zum Ausüben von Magie, da man hier Ruhe hat und keine Gegenstände oder Personen in der Gegend herum stehen, denen man aus Versehen Schaden zufügen könnte. Abgesehen von den Teppichen natürlich.“ 
Sookie strich ihre Haare zurück und knackste mit ihren Fingern. „Fangen wir an! Savannah wird mich während den Übungen unterstützen und hier und da vielleicht etwas hinzufügen, falls ich etwas vergessen sollte“, erklärte sie mir.

Ich erinnerte mich wieder an das vorherige Gespräch, dass das ich belauscht hatte. Sookie traute mir nicht über den Weg und wollte ihre Tochter als Unterstützung, falls ich irgendwie austicken sollte. Was sie wohl so misstrauisch gemacht hatte? Aber ich konnte es ihr nicht übel nehmen und konnte ihre Sorgen gut verstehen. 

„Suche dir zu aller erst eine bequeme Sitzposition aus und folge dann genauestens meinen Anweisungen“, verlangte Sookie von mir und ich kam ihren Forderung eilig nach. „Nun gut, schließe deine Augen und stelle dir vor, deine gesamte Energie ist in einer Schatztruhe versteckt. Um diese Truhe aufschließen zu können, braucht man den richtigen Schlüssel. Dieser Schlüssel kann in den verschiedensten Formen auftreten: Es kann eine dir sehr wertvolle Erinnerung sein oder einfach nur ein Satz, ein Gefühl oder ein Geräusch. Wir müssen zu dieser Energie gelangen, die in der steckt, aber dafür müssen wir erst einmal den passenden Schlüssel finden. Es ist nicht leicht ihn zu finden, also lass dir Zeit.“ Sookies Stimme war angenehm anzuhören und es fiel mir nicht sonderlich schwer ihr zu folgen. Angestrengt überlegte ich, was dieser Schlüssel sein könnte. Es sollte etwas wichtiges sein, etwas Persönliches. Gehörten bahnbrechende Ereignisse auch dazu? Da kam mir natürlich gleich etwas in den Sinn, es zu verdrängen würde mich nicht weit bringen. Der Tod meiner Familie. Zwar war ich damals bei dem Brand nicht dabei gewesen, konnte dafür aber seit gestern Abend gut nachvollziehen, was für ein Gefühl das gewesen sein muss. Die unerträgliche Hitze, die züngelnden, unberechenbaren Flammen und diese unbeschreibliche Panik.

Ich kehrte zu meiner Schatztruhe von vorhin zurück, die in meinen Augen aus schwarzen Holz und silbernen Scharnieren gebaut worden war. Wieder konzentrierte ich mich auf diese Gefühle, die ich gestern durchlebt hatte und die ich mich meiner Vergangenheit verband. Da ich keine Ahnung hatte, wie es jetzt weitergehen sollte, formte ich meine Gefühle und Gedanken und sandte sie in Richtung Schlüsselloch. Nichts passierte. Dabei war ich mir jedoch ganz sicher gewesen, dass es so funktionieren hätte müssen, auch wenn ich einfach nur intuitiv gehandelt hatte. Vielleicht war es auch einfach nicht das richtige Ereignis gewesen? Ich überlegte er erneut und ging meine ganzen wichtigen Lebensereignisse durch. Dann erinnerte ich mich plötzlich an einen Moment, als ich damals in Italien mit meiner Schwester Belle am Pool lag und wir über unsere Träume redeten.

 

„Kinder? Morgaine, du spinnst ja! Wenn ich erwachsen bin, suche ich mir erst einmal einen anständigen Mann. Natürlich muss er neben einem tollen Charakter auch ein gutes Aussehen besitzen und eine dicke Brieftasche! Der sollte sich lieber nicht auf meinen durchschnittlichen Abschluss verlassen, damit lebt es sich nicht sehr luxuriös. Und dann, wenn ich eines Tages steinreich bin, setze ich mich gegen Tierquälerei ein! Ich könnte dann Tierheime aufkaufen und die armen Tiere selbst von Hand aufpäppeln“, träumte Belle vor sich hin und flocht sich einen dicken, langen Zopf, den sie sich über die Schulter warf. Mit glänzenden Augen schaute sie mich an. „Na, und wie sieht deine Zukunft aus? Ich wette du ziehst das große Los von uns beiden, hm?“, meinte sie lachend und begann nun auch meine Haare zu flechten. Mit ihrer Lebendigkeit und Wildheit hatte ich noch nie mithalten können, darum hatte ich sie immer am meisten beneidet. Und um ihre närrischen Träumereien, ich hatte die Welt schon immer ein bisschen zu ernst gesehen.

 

Ich schluckte einen schweren Kloß hinunter und dachte wieder an Belle. Wie hatte ich das nur vergessen können? Anderen würde es vielleicht nicht als sonderlich wichtig sehen, aber für mich bedeutete es eine ganze Menge. Es zeigte wie Belle, gestrickt war und wie sie getickt hatte. 

Nach einem kurzen Zögern wiederholte ich den Vorgang und formte die Erinnerung dieses Mal jedoch zu einem Art Schlüssel. Ich war eigentlich gar nicht überrascht, als die Truhe auf einmal aufsprang und mir Innerstes entblößte. Es war, als würde eine magische, hell leuchtende Kugel in der Mitte der Kiste schweben. Sie verströmte schon fast grelles, weißes Licht. Um sie herum waberte ein dunkler Nebel, der die Lichtkugel die ganze Zeit umgab.
Zuerst war ich so fasziniert, das ich meinen Blick gar nicht von ihr abwenden konnte. Erst als ich an den Schultern gerüttelt wurde, öffnete ich die Augen und das Bild verschwand. Verärgert blinzelte ich die schwarzen Pünktchen vor meinen Augen weg.

„Was brauchst du so lange? Alles was du tun sollst ist die Truhe öffnen und nicht dein ganzes Leben in Form von Erinnerungen nochmal durchleben. Wenn du in deinem Bewusstsein zu lange bist, kann es sein dass du nicht mehr zu dir kommst. Vielen Hexen ist das schon geschehen. Auf uns wirken sie dann nur noch wie leere Hüllen, obwohl sie auf ewig in ihrem Bewusstsein gefangen sind. Bleib nie länger als nötig dort!“, herrschte mich Savannah in einem derart strengen Ton an, dass ich mich wirklich langsam schon fragte, wie lange ich weggetreten war.

„Wie lange war ich denn weg?!“

„Fast zwei Stunden.“

„Und ihr habt die ganze Zeit hier gewartet?“

„Ich hatte meinen Walkman dabei und Savannah ihr iPod. Aber ja, wir haben die ganze Zeit gewartet. Hast du die Schatztruhe öffnen können?“, fragte Sookie mich schließlich, in ihren Augen lag ein neugieriges Funkeln.

„Ehm...ja, hab ich.“

„Gut. Du solltest niemals irgendwem verraten, mit was du sie geöffnet hast. Es gibt schließlich einen Grund, warum sich deine Energie in einer Truhe befindet und nicht wie bei gewöhnlichen Sterblichen sich einfach frei bewegt. Jede Hexe ist in der Lage die Energie von jemandem abzuzapfen. Die Energie, also Macht, einer Hexe ist jedoch um einiges spezieller. Es handelt sich nicht nur um deine Energie, sondern auch um die Essenz deiner Magie, die dicht mit der Energie verstrickt ist. Darum behandeln wir sie alle mit größter Vorsicht. Sollte jemals eine andere Hexe sich deiner Energie und Magie bemächtigen, hast du keine Kontrolle mehr darüber. Wenn sie zu viel nehmen würde, könntest du dadurch große Schäden erleiden und falls sie alles nehmen sollte, wärest du auf der Stelle tot.“
„Und wie schützt man sich dagegen?“, fragte ich sie ehrlich geschockt.

„Das kannst du nicht. Es ist sozusagen die größte Schwachstelle einer Hexe. Doch um an diese Macht erst einmal zu gelangen, brauchst du den richtigen Schlüssel und direkten Hautkontakt. Auf Distanz kann man auf diese Art eine Hexe nicht zur Strecke bringen. Aber wir sollten jetzt mit der erste Übung beginnen. Am besten du machst einfach wieder exakt das, was ich sage. Zuerst schließt du wieder deine Augen und kehrst zu deiner geöffneten Schatztruhe zurück. Die Lichtkugel die sich darin befindet musst du nun berühren, aber nur ganz leicht, so, als würdest du sie an stupsen. Jetzt spürst du die Energie, du musst sie dir einverleiben und in dich aufnehmen. Es ist deine eigene Macht, deswegen wird es weder Schäden oder Folgen für dich haben. Du musst nur wissen, wie sich deine Macht anfühlt. Jede Magie hat Gefühl das es bei anderen auslöst, eine Art Nachgeschmack. Es sind meist irgendwelche Gerüche, die dir bekannt sind und die in irgendeiner verrückten Art und Weise zu dir passen. Wenn du nicht weißt, wie sich deine Magie anfühlt, dann kannst du sie auch nicht kontrollieren und beeinflussen. Kannst du sie spüren, Morgaine?“

Abwesend nickte ich. „Ja, es ist wie eine Mischung Salbeibonbons, meinem Vanille-Shampoo und Tiramisueis. Es gefällt mir irgendwie.“

 „Das ist eine interessante Mischung. Jetzt wo du weißt wie du deine Magie identifizieren kannst, können wir damit anfangen sie zu lenken. Hör mir erst bis zum Ende zu, bevor du damit anfängst. Als erstes musst du tief in den Fluss von Magie eintauchen, du findest diesen Fluss indem du einfach wieder dem Geruch folgst. Er hinterlässt in deinem Bewusstsein Spuren, die du wieder finden und aufnehmen kannst. Wenn du ihn gefunden und in ihn getaucht bist, musst du dich von ihm treiben lassen. Alle Magieströme fließen wieder zurück zu der Quelle, also der Schatztruhe. Doch bevor du wieder bei der Quelle angekommen bist, stoppst du. Damit meine ich nicht, dass du aus dem Fluss springst, sondern dass du ihn anhältst. Es ist dein Bewusstsein, deine Fantasie, dort kannst du alles anstellen, was du möchtest. Da es dort keine Regeln oder Gesetze gibt, wie zum Beispiel das der Schwerkraft, kannst du alles jederzeit ändern, so wie es dir beliebt. Wir wollen jedoch nichts sonst verändern, nur den Strom anhalten. Wenn du ihn angehalten hast, kannst du die einzelnen Magiefasern spüren und nach ihnen greifen. Da es mehrere Flüsse gibt und deine Macht sozusagen um ein vielfaches verteilt wird, ist es vor allem gut in einen der Flüsse einzutauchen, wenn du einen kleinen Zauber vollbringen möchtest. Nichts, was einen zu viel Kraft kostet. Für die mächtigen Zauber schöpfst du gelegentlich sogar aus der Essenz selber. Aber darüber erzähle ich dir lieber ein andermal. Sobald du genügend Magie gesammelt hast, nimm nicht zu viel für den Anfang, nimmst du es in deine Hände. Das gleiche Gefühl, dass du in deinem Bewusstsein dann hast, überträgst du in deine echten Händen, mitsamt der Magie. Wenn du das geschafft hast, hältst du deine Kraft einfach in den Händen und machst noch nichts mit ihr, verstanden? Dann fange nun damit an!“

Schritt für Schritt machte ich genau das nach, was sie mir erklärt hatte. Es war nicht schlimm, wenn ich mich an etwas, dass sie mir erzählt hatte, nicht mehr ganz erinnern konnte. Irgendwie machte ich es intuitiv und ließ mich fast nur von meinen Gefühlen leiten. Am Ende stellte ich fest, dass es mir um einiges leichter gefallen war, als ich am Anfang gedacht hatte. Wenn ich darüber nachdachte, war es eigentlich sogar recht simpel. Als ich den letzten Schritt ausgeführt hatte, fingen meine Hände an zu kribbeln und ich bildete mir sogar ein leises Knistern ein. Doch sonst passierte nichts weiter. Es gab kein lautes Kabooom oder eine Explosion, wie es jetzt in einem Hollywood Film mit Sicherheit geschehen wäre.
Als ich die Augen aufschlug, entschlüpfte mir ein entzücktes Lachen, als ich den leuchtenden Energieball sah, der über meiner Hand schwebte. Er sah exakt genauso aus wie die Lichtkugel aus meiner Schatztruhe, nur das ich ganz genau spüren konnte, dass nicht so eine große Hitze und Energie von ihm ausging. Außerdem gab es auch keinen dunklen Nebel der den Energieball umringte. Das Gefühl, das mich durchströmte, war nicht nur pures Glück, sondern auch das Gefühl von Macht, dass sich neu aber auch ungewöhnlich gut anfühlte.

„Gut gemacht, Morgaine. Das war vermutlich einer der längsten Übungen in der Praxis der Magie. Du sollst wissen, dass die meisten Hexen Wochen brauchen für das, was du heute in weniger als drei Stunden geschafft  hast. Nun ja, das ist wirklich eine beeindruckende Leistung“, lobte mich Sookie und zwinkerte mir sogar zu.

„Naja, die Hexen die dafür Wochen brauchen um dies hier zu lernen, sind meist auch erst acht oder neun Jahre alt. Diese Geschichte mit dem Fluss ist wirklich süß, als ich noch klein war hat sie mir die gleiche erzählt“, bemerkte Savannah und lächelte schief.
Ich erkannte in ihren andauernden Neckereien den Witz und konnte keine Boshaftigkeit erkennen, deswegen erwiderte ich ihr Lächeln auch zaghaft.

„Und was passiert als nächstes?“
Jetzt wo ich angefangen hatte Magie zu praktizieren, war es schwer noch an etwas anderes zu denken. Es war einfach überwältigend und neu. Ich kam mir immer noch vor, als würde ich träumen oder würde gerade einfach nur die Nachwirkungen der Drogen von gestern spüren.

„Als nächstes kommt erst einmal der Rat. Hauptsächlich alte Hexen wohnen ihm bei und glaub mir, die sind nicht besonders nett. Sie sind allem und jedem extrem misstrauisch gegenüber und zeigen dies einem auch. Mit diesen alten Schachteln möchtest du es dir bestimmt nicht verscherzen. Morgen kommen sie, um darüber zu entscheiden was mit dir geschehen soll.“

Impressum

Bildmaterialien: http://moonshadow246.deviantart.com/art/Good-Bye-Kiss-298597032 (DeviantArt), Cover von Seliiia gestaltet
Lektorat: Zanna
Tag der Veröffentlichung: 08.03.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich Zanna (Anne) der besten Lektorin, die sich davor auch schon um "Ashes to Ashes" gekümmert hat. Außerdem noch meiner Covermacherin Selia, ich bin wahrscheinlich schon ihre persönliche Nervensäge :D & natürlich Lisa. Lisa, meine Liebe für dich ist ohne Worte *hust* :D

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